Heinrich Federer: Niklaus von Flüe

Anfang 1917 fragte Maria Waser bei Heinrich Federer an, ob er wohl aus Anlass des 500. Geburtstages vom Bruderklaus, wie Niklaus von Flüe bei Federer in einem Wort oft genannt ist, etwas schreiben könne. Federer war seit seiner Kindheit in Sachseln mit dem Mann vertraut, der schon lange wie ein Heiliger verehrt wurde, obwohl seine förmliche Heiligsprechung erst 1947 erfolgte. Die Zusage fiel ihm deshalb leicht. Sein von schlimmen Asthmaanfällen gepeinigtes Leben musste dennoch als Risikofaktor eingerechnet werden. Das wiederum war Maria Waser vertraut. Die Schriftstellerin (15. Oktober 1878 – 19. Januar 1939), die 1902 mit einer Arbeit zur spätmittelalterlichen Geschichte in Bern promoviert hatte, gehörte seit 1904 der Redaktion der Kulturzeitschrift „Die Schweiz“ an, die Federer unterstützte, indem sie Texte von ihm druckte. Das war alles andere als selbstverständlich und zeitweise für Federer die einzige Möglichkeit, überhaupt etwas zu seinem Lebensunterhalt zu verdienen. Bei Karl Fehr (8. August 1910 – 3. Juli 1994) lesen wir: „Die Schweiz“ war übrigens die einzige literarisch und bildkünstlerisch orientierte Zeitschrift des Landes, dessen Namen sie als Titel trug.“ Sie druckt schließlich in acht Teilen das, was Federer zu Niklaus von Flüe zu Papier brachte, jetzt also, zu dessen 600. Geburtstag, der zugleich sein 530. Todestag ist, schon selbst wieder hundert Jahre alt ist. Und in Teilen geradezu verblüffend aktuell.

Heinrich Federer (6. Oktober 1866 – 29. April 1928) folgte 1917 auch einer Bitte des Benediktinerkollegiums Sarnen und steuerte zu dessen Erinnerungsfeier eine Dichtung bei, die den Titel „Bruder-Klausen-Psalm“ erhielt und im Anhang der Neuausgabe von „Niklaus von Flüe“ (Rex-Verlag Luzern/Stuttgart 1986) sich abgedruckt findet. Seine acht Beiträge für „Die Schweiz“ erschienen erstmals 1928, im Todesjahr Federers, in Buchform und danach bis zur Neuausgabe nicht wieder. Eine ursprünglich geplante Fortsetzung, die sich mit den letzten zwanzig Lebensjahren des Seligen befassen sollte, den Jahren in der Melchaa-Schlucht, ist nicht mehr geschrieben worden. Federer selbst erlebte den Abschluss des fundamentalen Werks von Robert Durrer (2. März 1867 – 14. Mai 1934) mit dem Titel „Bruder Klaus. Die ältesten Quellen über den seligen Niklaus von Flüe, sein Leben und seinen Einfluss“ noch, konnte für seine Arbeit zum Jubiläum jedoch nur auf den ersten Band zurückgreifen. Wie wichtig ihm diese Quelle war, erhellt aus den zahlreichen dankbaren und stets ausdrücklich lobenden Verweisen im Text. Und doch behandelt er seinen Gegenstand in einer souveränen Weise selbständig, stets bemüht, Deutungen vorzutragen, für die es kaum oder gar keine dokumentarischen Belege gibt, die aber einer inneren Lebenslogik folgen. Streng gesehen spekuliert Heinrich Federer, streng gesehen schreibt er im Kern eine Rechtfertigung.

Die im engeren Sinn literarische Behandlung des Lebens des am 21. März 1417 geborenen Niklaus, wie sie unter dem Titel „Geschichten aus der Urschweiz“ versammelt ist (ebenfalls Rex-Verlag, 1969 in zweiter Auflage), die mit Abstand längste Erzählung darin, „Spitzbube über Spitzbube“ erschien separat zum ersten Male 1921, bleibt hier ausgeklammert. Federer selbst schrieb: „Mich zwang es förmlich, das Wesen des Bruderklaus besser zu ergründen, in seine bäuerliche Gelassenheit, seine tiefe Mystik, seine Güte und himmlische Schlauheit, in seinen irdischen Spaß und sein überirdisches Adlerleben, in dieses einzigartige Gemisch von Himmel und Erde inniger einzudringen und es mit den scheinbar lockern und spitzbübischen, aber im Grunde furchtbar ernsten Menschenschicksalen der Umwelt zu verknüpfen.“ („Das Land der Griechen mit der Seele suchend“). Was er damit für „Spitzbube über Spitzbube“ geltend machen wollte, darf ohne Abstriche auch auf „Niklaus von Flüe“ bezogen werden. Es befremdet heute allenfalls, wie unbeirrt Federer den ihm natürlich aus eigener Anschauung und Erfahrung vertrauten Volkscharakter Obwaldens aus der Landschaft des Kantons und den Individualcharakter seine Helden aus dem zuvor dargestellten Volkscharakter hervorgehen lässt. Mit Blut und Boden hat das dennoch nichts zu tun, auch wenig mit einem „Aufstieg vom Abstrakten zum Konkreten“: es ist vor allem bildhaft.

Heinrich Federer interessiert sich dafür, warum der Bruderklaus wann was getan hat. Er denkt sich das Leben, zu dem es viel mehr Legenden als belastbare Dokumente gibt, quasi von hinten her, er setzt voraus, dass die Entscheidung für das Einsiedlerleben, die er trifft, als das jüngste seiner zehn Kinder, fünf Jungen, fünf Mädchen, eben ein Jahr alt ist, der älteste Sohn aber den Hof schon übernehmen kann, sich vorbereitet hat. Immer versucht er, das tatsächliche Leben, soweit seine Fakten halbwegs bekannt sind, mit den letzten zwanzig Jahren in Übereinstimmung zu bringen. Er verblüfft dabei mit einer Sicht, die er selbst sicher nie dialektisch genannt haben würde, es aber sehr wohl ist. Denn er denkt nicht nur die Spannung erkennbarer Widersprüche, er akzeptiert sie auch, erkennt sie als für dieses Leben wichtig an. So gibt es im Buch nichts Hagiographisches, wie es für geschriebene Heiligenleben eher die Regel als die Ausnahme ist. Dieser Bruderklaus ist ein Landmann, einer, dem das Lesen und Schreiben nicht beigebracht wurde, einer der sein Land bestellt, sich um sein Vieh kümmert, seine Frau Dorothea und eben seine zehn Kinder liebt. Eine erste Legende weist Federer früh zurück: Er habe Dorothea nur aus Rücksicht auf die Eltern geheiratet. Nachwort-Autor Karl Fehr kommentiert trocken: „Ein Mann, der zehn Kinder zeugt, ist kein zur Ehe gezwungener Asket.“ Dennoch hat ihn Dorothea ziehen lassen: weil sie ihn liebte.

Heinrich Federer erzählt natürlich die Geschichte, wie der Bruder Klaus schließlich abwanderte. Ob er nach dem Elsass wollte, weil er Richtung Basel aufbrach, ist letztlich vollkommen unwichtig, denn wir wissen, wo er schließlich landete, in der Schlucht, von der aus sein Haus so leicht zu erreichen war, dass er jederzeit dorthin hätte gehen können. „Es gibt in jedem großen Leben einen solchen kritischen Augenblick, wenn der letzte Kompromiss zerflattert und die ganze Herbheit des Müssens, des absoluten Müssens, beginnt.“ Behauptet Federer und sieht genau hier die „tragische Stunde im Bruderklausenleben“, die eine Stunde der Rat- und Hilflosigkeit. Es ist, um das genaue Datum zu nennen, der 16. Oktober 1467, „da er zum erstenmal in seinem fünfzigjährigen schollenfesten Leben mit unsichern Schritten und ziellosen Augen über seine Wiesen hinunter in die Fremde flüchtet.“ Federer fällt sofort Leo Tolstoi ein, dessen Flucht aber direkt in den Tod führte. Vor Liestal schläft Niklaus ein, träumt von einer brennenden Stadt und spricht am nächsten Morgen darüber mit einem Bauern dort. Der aber rät ihm, „lieber zu seiner Erde zurückzukehren“. Federer versteht das: „Ein rechter Bauernrat: Auf seiner Scholle leben, stark sein, sterben! Ein Bauer sagte es einem Bauern!“ Und verallgemeinert sofort: „Was man Großes und Heiliges tun soll, wird doch wahrhaft nicht erst durch die Fremde groß. Es muss es durch sich schon sein.“

Niklaus von Flüe landet schließlich da, wo er auch früher schon Zuflucht suchte, wenn er allein sein wollte. „Ein paar Schritte von seinem Hause senkt sich das Flusstobel zur schmalen Sohle. Da, in halber tannenblauer Höhe, wird ihm schon 1468 die heutige Kapelle mit angelehnter Klausnerei errichtet, wobei er sicher wacker mitgezimmert hat. Und hier nun verrinnen die letzten, die großen zwanzig Jahre des Seltsamen.“ Von denen Heinrich Federer nicht mehr erzählt. „... und noch heute hört man dort keine andere Stimme als das schwere breite Rauschen der Melchaawasser.“ In den 100 Jahren seither ist es etwas lebendiger geworden, nicht ansatzweise aber in Massentourismus ausgeartet, aber natürlich nicht vollkommen frei davon. Aus diesen Einsiedlerjahren gibt es Besuchsberichte, man suchte seinen Rat, bis aus Italien kamen Männer, die seine Stimme hören, sein Gesicht sehen wollten. Man liest, wenn man Federer liest, Wörter und Namen, die man sich erschließen muss, man ist mit innerschweizer Geschichte in Details konfrontiert, mit denen man beim besten Willen nicht vertraut sein kann. Das Wort Abschiede beispielsweise kommt vielfach vor, es meint Schriftstücke, die wir Protokolle nennen würden. Protokolle der Tagsatzungen waren es, die wiederum bis 1848 eine Versammlung der Abgesandten der Orte der alten Eidgenossenschaft waren. Von acht Orten ist die Rede, wir kennen sie aus Kreuzworträtseln als die Urkantone.

Heinrich Federer gewinnt Lebensdeutung aus An- oder Abwesenheit des Bruderklaus in solchen und anderen Protokollen. Ihm als ehemaligem Priester fällt auf, dass die Pfarrer aus Sachseln den Seligen, der in ihrer Amtszeit wirkte, selbst nie erwähnen, im Kirchenbuch gibt es Aufzeichnungen. Es hat, wie der Autor glaubhaft macht, mit der Rolle zu tun, die Niklaus in Sachseln und Obwalden ausfüllte, auch wenn er Ämter bekleidete, war es in der Sache und vielen Einzelheiten, was wir Opposition nennen würden. Federer scheut sich nicht, das Analphabetentum seines Helden für manches verantwortlich zu machen, was schwerer oder gar nicht erklärbar erscheint. Der heutige Leser muss passen, wenn es um Feinheiten politischer Verhältnisse zwischen den Kantonen, den Stadt- und Landkantonen, zwischen Habsburg, Papst und Kardinal in Brixen ging. Das Leben des Bruderklaus fiel komplett in eine Zeit, da Papsttum und Kirche nicht nur kriselten, sondern, wie sich zeigte, auf Reformation, auf die Kirchenspaltung, zusteuerten. Dass Schweizer Reformatoren neben Luther eine Hauptrolle bekamen, ist vor diesem Hintergrund kein Zufall. Federer meint, Niklaus hätte das Zeug zu einem Reformator gehabt. Er zieht immer wieder Vergleiche mit Franz von Assisi und Matthäus Schiner (1465 – 1522) und wünscht sich, der Historiker Albert Büchi (1. Juni 1864 – 14. Mai 1930) möge sein Hauptwerk über den Kardinal Schiner bald vollenden.

Das geschah noch zu Lebzeiten Federers tatsächlich, wurde für dessen Schriften zu Niklaus aber nicht mehr wirksam. Federer ließ sogar einen echten Flecken auf der Weste seines Helden, als er dessen Teilnahme an verschiedenen Feldzügen schildert und dabei auch auf einen ausgesprochenen Raubkrieg kommt, dessen Charakter Niklaus nach allem, was man von ihm weiß, hätte klar sein und von ihm abgelehnt werden müssen. Genau hier zeigt Heinrich Federer tiefes historisches Verständnis, erklärt er, was geschah, ohne es deshalb zu entschuldigen oder gar zu goutieren. Erklärungsbedürftig ist ihm auch, warum der Bruderklaus nicht in ein Kloster eintritt, in einen Orden. Seine Erklärungen sind glaubhaft und, keineswegs selbstverständlich, deutlich kirchenkritisch. Auch der Blick auf die gern verklärte Demokratie der Schweiz ist am Beispiel des 15. Jahrhunderts und doch darüber hinaus weisend, sehr kritisch. Federer kennt die Manipulierbarkeit der Massen, weiß wie leicht sie für eine bestimmte Sache zu gewinnen sind. Sieht, wie das mit dem verbreiteten Analphabetentum zusammenhängt. Und wenn er dann anhand des so genannten Möttelifalles und des Falles von Kaspar Koller von den Tücken des Einbürgerns handelt, dann will man gar nicht glauben, dass vom Mittelalter die Rede ist. Das Kapitel zum Südtiroler Koller ist mit „Ein Detektivroman 1458 – 1484“ überschrieben. Schon damals es gab Erwünschte und Unerwünschte.

Niklaus von Flüe ist am 15. Mai 1947 nach einer langen, fast endlos langen Vorgeschichte heiliggesprochen worden. Am 10. März 1947 hatte Papst Pius XII. im Geheimen Konsilium diese seine Absicht bekannt gegeben. Eine 84 Seiten umfassende Broschüre der Bruder-Klausen-Stiftung Sachseln dokumentiert den Vorgang in Wort und Bild, ein Lebensbild des bis heute einzigen Heiligen und Schutzpatrons der Schweiz ist vorangestellt. Heiliger wird man, wenn man eine Zahl von Wundern vollbracht hat. Von Bruderklaus ausgehende Wunder, etwa Heilungen, wurden nach bestehenden Vorschriften geprüft und anerkannt und wenn sie anerkannt waren, war der Weg frei. Die Broschüre enthält den Wortlaut der Predigt des Papstes zur Heiligsprechung sowie den in drei Sprachen vorgetragenen Text der Andacht vom 16. Mai 1947. Selbst Schiller und sein „Wilhelm Tell“ kommen darin vor wie übrigens auch bei Heinrich Federer. „Niklaus von Flüe verkörpert in wundersamer Vollkommenheit den Einklang von irdischer und himmlischer Freiheit. Folgt ihm nach!“ forderte Pius XII. Am 14. Juni 1984 besuchte Papst Johannes Paul II. Sachseln. Der Text seines Gebetes in der Pfarr- und Wallfahrtskirche beschließt die kleine Dokumentation. Die älteste Lebensbeschreibung des Heiligen aus der Feder von Heinrich Wölflin stammt aus dem Jahr 1501. Sie kannte Heinrich Federer natürlich, nur nicht in der Übertragung von Josef Konrad Scheuber.


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