Carl Spitteler: Gottfried Keller

Carl Spitteler ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit der einzige Mensch gewesen seit Adam und Eva, der je der Literaturwissenschaft einen Vornamen gab. Er nannte sie Martha. Und das in dem Jahr, da ihm der Nobelpreis für Literatur verliehen wurde, 1919. Spitteler (24. April 1845 – 28. Dezember 1924) war vor hundert Jahren immerhin schon der sechste Nobelpreisträger aus der Schweiz, der erste und einzige für viele Jahre in der Kategorie Literatur. Klammert man Hermann Hesse aus, wofür es gewisse Gründe gäbe, dann ist er gar bis heute der einzige Schweizer aus diesem Feld. Dagegen stehen bis 2017 immerhin neun Medizin-Nobelpreisträger und acht Chemie-Nobelpreisträger aus der Eidgenossenschaft. Carl Spitteler erblickte das Licht der Welt, wie man so schön sagt, in einer Brauerei. Es war die Brauerei Brodbeck in Liestal, seine Mutter Dorothea Anna Brodbeck entstammte der Brauer-Familie Brodbeck, sein Vater, der auch Carl Spitteler hieß, war Regierungsstatthalter in Liestal, zwanzig Kilometer von Basel gelegen. Von Martha sprach Carl Georg Friedrich Spitteler, so der vollständige Name, am 26. Juli 1919 in Luzern. Also, genau genommen sprach er natürlich nicht von Martha, sondern von Gottfried Keller.

Doch scheint mir diese Martha so sehr mehr als nur eine witzige Eingebung eines Mannes, der nicht in erster Linie als großer Humorist in die Literaturgeschichte eingegangen, dass ich mit ihr beginne. „Endlich Martha, die fleißige, ewig geschäftige Schwester der Poesie. (Martha ist der Vorname der Literaturwissenschaft.) Sie meint es herzlich gut mit der Schwester, und was die im Jahre alles zusammenschafft, ist staunenswert. Nur leidet sie an einem angeborenen Gebrechen: Sie hat die Augen hinten im Kopf. Mit denen sie dann in rührender Anhänglichkeit nach ihren verstorbenen Lieblingen ausschaut, vor allem nach Ihm, dem Herrlichsten von allen, dem Einzigen. Vorn ist sie blind. Neue Bekanntschaften kann Martha nicht leiden, die stören in ihren Küchengeschäften. Darum schließt sie die Haustür. Erblickt sie durchs Küchenfensterlein auf der Straße einen Fremden, so mault sie. Klopft er an die Tür, so belfert sie und will nicht aufmachen. So ist Martha, die Treue, die Fleißige.“ Das ist zu hübsch gesagt, es nur verkürzt zu zitieren. Und es folgt auf eine Darlegung der Rede, die sich mit dem Thema des Vergötzens beschäftigt. Carl Spitteler wollte an jenem 26. Juli in Luzern vor einer Gefahr warnen, dafür tat er sogar etwas, was er sonst hasste.

Vielleicht ist Hass ein klein wenig zu viel gesagt, aber immerhin: Spitteler hat sich mehrfach sehr unmissverständlich gegen das Jubiläumswesen ausgeschrieben, zum Nachlesen seien seine kleinen Texte „Altersjubiläen“ und „Datumsjubiläen“ empfohlen, aufgenommen in seinen Sammelband „Lachende Wahrheiten“, aber auch andernorts findbar. Immerhin, als 1919 der 100. Geburtstag von Gottfried Keller ins Haus stand und in Luzern ein Festredner ausfiel, ließ Spitteler sich überreden einzuspringen und was er dann vortrug, nötigt zuerst Hochachtung ab, dann aber auch gleich noch eine kräftige Prise Begeisterung hinterher. „Wenn es in der Schweiz dahin kommen sollte, dass wir unsern Keller vergötzen wie Deutschland seinen Goethe vergötzt, dann ist es mit der schweizerischen Poesie zu Ende. Wir werden nie mehr einen großen Dichter erhalten.“ Spitteler rechnete angesichts dieser These mit Befremden in seiner Zuhörerschaft, ging deshalb zügig dazu über, eine klare Trennung zwischen Wertschätzung und Vergötzung zu ziehen und letztere so präzise zu definieren, dass man hundert Jahre später meint, er besuche regelmäßig Veranstaltungen der deutschen Goethe-Gesellschaft mit ihrer überalterten Mitgliedschaft, die noch den vierzehnten Vortrag „Goethe und der Bergbau“ ohne jeden Neuwert mit feuchten Augen und Händen anhört.

„Vergötzung ist die Erhebung eines Dichters in absolute Höhe, so dass er und die Poesie in der Vorstellung sich decken, dass man sich außerhalb dieses Einzigen nichts Großes mehr denken kann, dass man aus ihm den Maßstab des Urteils bezieht, nichts schätzend, was ihm nicht gleicht, nichts duldend, was anders aussieht. Der Gipfel der Vergötzung ist die Vorausentwertung der Zukunft.“ Spitteler benennt wenig später mit rasanter Treffsicherheit Anzeichen, an denen sich dies ablesen lässt: „Symptome beginnender Vergötzung sind: die Abdankung der Kritik vor dem Einzigen und ihre empörte Ablehnung als Majestätsverbrechen, mit der Verdächtigung der Gesinnung eines jeden, der einen Zweifel, eine Aussetzung, einen Dämpfer wagt; die Hintansetzung der Wahrheit hinter die Verherrlichung des Favoriten; der Wetteifer im Rühmen, Schmeicheln und Höfeln um den Einen; das Hinzulügeln von schönen Eigenschaften, die jener nicht hatte; die Parteilichkeit, die in Streitfällen dem Genie gegen den Zivilisten zum vornherein recht gibt. Und so weiter.“ Deutschland sei dem Ideal schon bedenklich nahe gekommen, war 1919 die Diagnose. Ist es 2019 tatsächlich wesentlich weiter? Aus eigener Erfahrung melde ich heftigste Bedenken an: wahrscheinlich nicht.

In einer Hinsicht sind wir alle und überall dennoch weiter. Den folgenden seiner Sätze könnte Spitteler wohl nicht mehr sagen: „Die Beteiligung eines ganzen Volkes an einer Dichterfeier hat etwas Erhebendes.“ In Reinkultur gab es das in Deutschland nur 1859, als Deutschland noch gar nicht Deutschland war, und zwar mit Friedrich Schiller. Die Jubiläen 1905 und 1909 waren mit dem Begriff Volk bereits nicht mehr in Bezug zu bringen, das war eher Liturgie. Etwas Erhebendes will außerdem in Zeiten, da der Handel mit so genannten Dystopien Wachstumsraten aufweist, die Banker zu spontanem Samenerguss treiben würden, niemand mehr haben. Es muss herunterziehen, was uns begeistern will, die Apokalypse ist überall das letzte Wort vor der letzten Ölung. „Die Wertschätzung eines echten poetischen Wertes kann gar nicht übertrieben werden. Auch nicht die einseitige Wertschätzung. Es mag einer sein Leben lang sich in einen einzigen Meister der Kunst oder Poesie versenken, das bringt keinen Schaden, nur Gewinn.“ Aber das ist eben nicht mit der Vergötzung gemeint. Carl Spitteler entschuldigte sich, weil er nicht auf das Werk Gottfried Kellers, noch weniger auf einzelne Werke einging in seinem Vortrag. Dennoch sagte er Wesentliches.

Zum Beispiel: „Seine erzählende Prosa ist trotz mancher Schnurren wohl das Höchste, was jemals auf diesem Gebiete in deutscher Sprache geschrieben worden ist. Sie gehört der Weltliteratur an und uns erscheint sie als unsterblich.“ Nur zwei Keller-Titel nennt der Nobelpreisträger überhaupt namentlich: „Der grüne Heinrich“ und „Romeo und Julia auf dem Dorfe“ und die auch schon nur noch verkürzt als „Romeo und Julia“, was jeder Keller-Kenner, zumal 1919, natürlich sofort verstand. Sechs Charakteristika führt Spitteler für Keller in dieser Reihenfolge auf, zu jedem gibt er knappe Erläuterungen, alles müsste eigentlich zitiert werden und das unterbleibt hier lediglich aus Platzgründen: die Bescheidenheit, die Wahrhaftigkeit, die Gewissenhaftigkeit, das Malerauge, die Sprache, der Humor. Um hinten anzufangen: „Der echte, der poetische Humor ist ein würziges Blümlein, das in Ruinen wächst. Es setzt eine Enttäuschung oder Entsagung oder einen Verzicht voraus. Im Leben ist der Humor eine typische Alterserscheinung.“ Und „Humor ist die Poesie der Prosa.“ Kann man das schöner sagen? „Der Dichter bezieht seine Sprache von innen. So sehr, dass ein bedeutender Mensch, ob er will oder nicht will, auch eine bedeutende Sprache spricht.“

„Bei Keller ist die Fähigkeit, für alles und jedes augenblicklich den einzig richtigen Ausdruck zu finden, bewunderungswert und beneidenswert. Ein Wort und es sitzt, ein Bild, und es steht.“ Und was war mit der Bescheidenheit? „Je echter einer ist, desto demütiger fühlt er vor dem Antlitz der Kunst. Genieware ist Schundware. Bei den ganz Großen wirkt der Gegensatz ihrer gewaltigen Größe und ihrer tiefen Demut auf uns ergreifend.“ „Von seinem Besucher setzte er nie voraus, dass er ein Buch von ihm gelesen hätte.“ Goethe, um den Kontrast zu geben, schätzte später vor allem Besucher, die seine Farbenlehre nicht nur gelesen hatten, sondern sie auch lobten, dann wurde er ein anderer Mensch. Carl Spitteler lieferte in seiner 1919er Rede auch eine bündige Erklärung für die auffällige Zurückhaltung des deutschen Feuilletons 2019: „Die Zeitungen besprechen jeweilen nur das, was frisch herauskommt. Es ist ausgeschlossen, dass der literarische Teil einer Zeitung von sich aus ein Wort über Schiller sage. Wenn aber einem Verleger eine neue Ausgabe von Schiller beliebt, dann ist augenblicklich von Schiller die Rede.“ Schiller stehe für Keller: weder eine neue Ausgabe noch die bei ähnlichen Gelegenheiten anschlagenden Biographie-Manufakturen fordern heraus.

Noch mehr lobt Spitteler an Keller: „Keller weiß seine Antipoden zu würdigen.“ Und: „Die Treffsicherheit seines Urteils ist unheimlich.“ Der Redner nimmt sich selbst als Beispiel: Keller habe die Personen seines Buches „Extramundana“ als „Nürnberger Puppenfiguren“ bezeichnet: „Ich fand den Vergleich reizend, das Urteil richtig und besserte mich.“ Und dann stellt er eine Frage von berauschender Nüchternheit: „Tut man wirklich gut, hat man das Recht, dem Volke die Werke von Gotthelf und Keller aufnötigen zu wollen, wie einem blassen Kinde den Lebertran?“ Und gibt eine Antwort, die überrascht: „Das Volk bedarf keineswegs, in der Poesie vom Volke zu hören. Im Gegenteil, es bedarf des Hinaus und Hinauf. Warum geht es denn am Sonntag in die Kirche? Etwa um vom Volke zu hören? Nein! Um Erhebung zu gewinnen.“ Carl Spitteler vergleicht in diesem Bezug umstandslos die Poesie mit der Religion. Ich kenne dümmere Überlegungen. Und schon erfindet der Festredner ein Traumwort: „emporschämen“. Man solle sich an einem bewunderten Meister „emporschämen“, keinesfalls etwa ihn nachahmen und er kommt für die gesamte Schweizer Literatur zu diesem Fazit: „Aus Schamgefühl vor Keller hat sich der gesamte Prosastil der schweizerischen Schriftsteller um eine Stufe gehoben. Man schreibt seither durchschnittlich besser als vorher.“ Dem soll heute und jetzt nichts hinzugefügt werden, als: Danke, Carl Spitteler.


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