Eidechsen vor Gott

Der Suche nach einem guten Standpunkt für ein Foto sind die Möglichkeiten beschränkt, wenn nicht von allen Seiten beliebig zum Gegenstand Platz bleibt. Die guten Sonnenplätze für Eidechsen dagegen sind immer da, wo die Schatten fehlen, wenn es heiß ist. Gleich drei sitzen auf der ausgetretenen Stufe des verschlossenen zweiten Zugangs zum Baptisterium San Giovanni in Riva San Vitale, drei braungraue fast identischer Länge, Brüder oder Schwestern, Cousinen, Cousins, wer weiß es vom Anblick schon, ich nicht. Nur einen Schritt näher und sie huschen unter der Tür hindurch ins Innere des Baus, den die Schweiz ihr ältestes christliches Bauwerk nennt. Nur die Schwanzspitzen, alle drei Schwanzspitzen, ragen noch in die hitzige Außenwelt.

 Ich eile wenige Schritte ums Haus, eine geöffnete Tür gibt es auch, und sehe sie in Eintracht von vorn: Eidechsen vor Gott. Es ist kühler innen, die Bedrohung geht allein von mir aus und wieder ist Flucht ihr fixes Geschäft. Nebenan steht eine Kirche der Bauzeit 1756 bis 1759, die man jung nennen muss angesichts dieser Taufkapelle aus dem fünften Jahrhundert. Fast alles, was man von ihr und in ihr sieht, ist jünger, die Restaurierungsarbeiten begannen in meinem Geburtsjahr 1953. Und sie waren in vollem Gange, als ich beinahe im Ulmer Münster getauft worden wäre. Das ist  eine andere Geschichte. Dieses Baptisterium hat römische Substanz, wenigstens in den Steinen, die Baumaterial wurden, ich muss nachlesen später und stehe jetzt nur in meiner Art atheistischer Andacht. Die Fresken sind stellenweise von erstaunlicher Farbigkeit, das riesige Taufbecken ist volle 700 Jahre jünger als das ursprüngliche darunter und doch immer noch so alt, dass es Sprache verschlägt. Damals soll Taufen durch Tauchen vollzogen worden sein. Die ältesten Bauten in Ilmenau sind jung wie San Vitale daneben und doch freuen wir uns, dass wir sie haben.

 An diesem Ufer des Luganer Sees hat man wie an den anderen auch nicht die geringste Vorstellung seiner tatsächlichen Ausdehnung, wenn man nicht seine besondere Form von einer Karte her kennt. Der Blick von Collina d'Oro gen Agno, wo ein wirklich kleines World Trade Center steht, terrakottafarben, erlaubt keine Orientierung gen Lugano, man muss schon in Richtung Cademario fahren zu einer Malcantone-Runde, um von oben zu sehen, wie nahe alles beieinander liegt. Paradiso nach rechts, Agnuzzo nach links, sagen die Schilder dort, in Riva San Vitale aber ist der See zu Ende. Es gibt Bänke unter schattenspendenden Bäumen, zwei Jungschwäne bewegen sich in Zeitlupe ufernah, der Blick nach rechts fällt auf die Autobahn, die man bis Mendrisio nehmen muss, um hier anzukommen, Mendrisiotto heißt diese Region des Kantons Ticino.

 Während wir nur so sitzen, die Füße im Gras, fährt ein VW-Bus vor, deutsches Kennzeichen aus Baden-Württemberg. Die Zahl der Deutschen, scheint uns, ist in diesem Jahr der deprimierenden Wechselkurse zum Franken in Kooperation mit atemberaubenden Schweizer Preisen auffallend niedrig. Ein Paar ohne Kinder steigt ins Wasser und beginnt zu schwimmen, die Jungschwäne halten Abstand, elterlichen Beistand haben sie offenbar aus unbekannten Gründen verloren. Weit und breit kein weißer Altschwan zu sehen. Erstmals in sechzehn Jahren Schweiz haben wir uns den Gang in ein besseres Restaurant erspart, zu krass der Kontrast zwischen dem prosciutto e melone hier und fünfzig Kilometer weiter am Comer See, wo nur ein Drittel, ein bescheidenes Drittel, dafür verlangt wird.

 Zu Hause lesen wir, dass Zürich und Genf die teuersten Städte der Welt sind neben Oslo, die UBS ermittelt so etwas, und wir lesen ergänzend, dass dort auch die Verdienste am höchsten liegen. Den Platz für Lugano haben wir nicht recherchiert. Zu Hause finden wir die Artikel, die die Klagen aus dem Engadin wiedergeben, dass Euro-Touristen ausbleiben, von denen man dort lebt. Dafür ist die Frage neu bei Kartenzahlungen, ob wir die Abbuchung in Euro oder Franken ausgewiesen haben möchten. Das raubt im Fall der Fälle der betroffenen Bank den Umrechnungsaufschlag, was in unserem Fall das Vereinigte Königreich wohl dennoch nicht in den Ruin treiben wird.

 Die Rückfahrt von Riva San Vitale nach Montagnola ist beendet, noch ehe die kochende Luft aus dem Auto vollständig entwichen ist. Erst die Tiefgarage wird über Nacht erträgliche Temperaturen ins Blech zaubern, D 14 heißt unser Platz wie die Wohnung oben. An die Stimme aus dem Navi, die alle italienischen Orts- und Straßennamen so grauenhaft schlecht ausspricht, dass man meist nur anhand der Schilder erkennen kann, was sie gemeint haben muss, sind wir mittlerweile gewöhnt. Die Baustellenampel auf der Hauptstraße ist seit unserer Ankunft so weit nach unten verschoben worden, dass das Abbiegen in die Via Valegia spezielle Aufmerksamkeit erfordert. Hartnäckig behauptet zuletzt die Navigon-Dame, das Ziel, das wir erreicht hätten, liege auf der rechten Seite. Sie irrt sich jeden Tag neu


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