Maß für Maß ohne Maß

Wer die Gattinnen der Chefärzte und ihrer Rangnächsten aus Bad Neustadt und Umland wirksam aus dem Meininger Theater vergraulen will, muss nur hinreichend oft einen kleinen Jungen auf der Bühne zu seiner Mutter „Fotze, Fotze, Fotze“ sagen lassen. Das funktioniert ziemlich gut, auch wenn die Gattin im eigenen Leben durchaus nicht das Licht ausmacht im Schlafzimmer, so der Chef sich entgürtet. Im festen Wissen, dass Renate Holland-Moritz sich zu DDR-Zeiten, wenn sie in ihrer Eulenspiegel-Besprechung eines neuen DEFA-Films einen Satz mit „Ich bin ja nicht prüde“ begann, anschließend eine Nacktszene kritisierte, sage ich das trotzdem.

Ich spreche, wenn ich einen Theatergang tue, in der Pause möglichst mit niemandem über das, was ich sehe, anschließend nur mit mir selbst im Auto darüber, was ich gesehen habe. So hielt ich, als ich gestern mit einem befreundeten Kritiker zum Parkplatz in Meiningen schritt, wo der Frost die Autoscheiben kratzreif gemacht hatte, es schon für einen Wortschwall meinerseits, als ich hinwarf: „Armer Shakespeare!“. Er antwortete: „Wieso Shakespeare? Arme Schauspieler, die das spielen müssen!“ Wir sichelten in Blicknähe und schon voneinander verabschiedet an unseren Scheiben herum und entfernten uns eilig mit Abblendlicht vom Ort des Geschehens. Mich bewegte bis zur Tunnelkette die Frage, was wohl Günter Lamprecht, der die Premiere besucht hatte und zu seiner sicher großen Erleichterung nicht angequatscht wurde, sagen würde zu dem, was er sah und hörte. Erfahren werde ich es nie.

Ist irgendetwas passiert? Natürlich nicht. Ich habe nur zum wiederholten Male festgestellt, dass eine bestimmte Kombination von Bühnenklassiker und modern mich zunehmend vergrämt. Die Herren und Damen Regisseure meinen, und genau das ist eben selbst schon sehr lange ein alter Hut, man müsse ein altes Stück aufpolieren, entschlacken, vom Sockel holen, auf den Punkt bringen, oder was ihnen noch an Satzbaukasten-Phrasen dazu einfällt. Ich weiß zum Beispiel nicht, wann welches Stück wo auf einem Sockel stand, nicht einmal Textflächen-Elfriede würde es zulassen, dass dies mit ihren drei bis fünf aktuellen Krisenstücken pro Spielzeit geschähe.

Gesetzt, ein altes Stück beweise seine fortdauernden Aktualitäten tatsächlich nur dann, wenn Regie und Dramaturgie das somit automatisch für dämlich gehaltene Publikum mit seinem Rüssel mehrfach und schmerzhaft darauf stoßen, dann hieße mein Rat: Finger weg von diesem Stück. Es gibt kein halbwegs unfallfrei vom Wickeltisch und aus zu heißen Badewannen gekommenes Publikum der Welt, also auch nicht in Meiningen, das mit der Nase auf die eigene Dämlichkeit gestoßen werden möchte. Wer nicht merkt, dass Wallenstein noch etwas ist heute (ich setze mal mutig voraus, das sei so), dem hilft, bitte, bitte, liebe Regisseure, doch nicht auf die Sprünge, dass man in Wallensteins Lager die Jungs in Wehrmachtsuniformen lustwandeln und debattieren lässt.

Ich verstehe zutiefst, warum heutige Bühnen die Nebenrollen und die Statisterie mit historisch unübertroffener Konsequenz des Feldes verweisen, ich verstehe zutiefst, warum heutige Kostüme mit Kostümen eigentlich kaum noch etwas zu tun haben, warum heutige Requisiteure das Gegenteil des Meininger Theaterherzogs tun, der gar echte Römerschwerter aus dem Museum holen ließ für seine „Hermannsschlacht“. Das alles heißt Sparzwang und wird, wird befinden uns in einer idealistischen Branche, natürlich nicht einmal bei Androhung der Todesstrafe so genannt. Und so lange sich Kritiker finden, die den einzigen einsamen Stuhl, der während eines langen Theaterabends vom Panzerkreuzer bis zum Taschentuchhalter alles darstellen muss vor dem Hintergrund eines gedrillten Bindfadens, der aus dem Schnürbodens baumelt, als sensationellen Ausstattungseinfall feiern, wird das wohl so bleiben.

Wenn ein dickes Theaterbrett mit vereinten Kräften auf Furnierstärke gehobelt wurde, darf man sich anschließend nicht wundern, wenn an Spielmöglichkeiten für die Darsteller nicht eben viel bleibt. Ich habe mich, um auf „Maß für Maß“ von Veit Güssow zu kommen, natürlich amüsiert über diesen lustigen Flaschensammler, der den schönen alten Automaten erklimmt, um eine leere Plastikflasche des Pfandes wegen zu ergattern. Ich habe mich natürlich amüsiert, als Pompejus sich gefesselt am Boden wand, ehe er sich in Henkersdienste begab. Natürlich ist es eine Idee, den Herzog und seine Statthalterin an Pulte mit Mikrophon treten zu lassen, als sei es die Presserunde des Oval Office zu Washington. Ich habe nur am Ende von Zweidreiviertel Stunden mit langer Pause das unabweisliche Gefühl, hier schlägt schon irreversibel Generation Bilderflut zu, hier ist die Schnittfrequenz von Musicvideos prägender geworden als das dem Menschen von der Evolution oder vom Lieben Gott zugeteilte WORT.

Einer wie Shakespeare aber, bitte, bitte, der lebt vom Wort, ob er Prosa oder Verse schreibt. Muss man dem Publikum Sprache vorenthalten, nur weil man selbst schon so weit ist, dass man (siehe beispielsweise SPEKTAKEL Dezember) Trab von Trapp nicht mehr unterscheiden kann? Natürlich war Shakespeare auch vulgär, natürlich war Obszönität in Zeiten von Commedia dell'Arte und Umfeld Tages- und Abendgeschäft. Eine Inszenierung wie die von Veit Güssow aber macht mich fast zum Alt-Aristoteliker, der die Tragödie für die höhere, die hohe Gattung zu halten hat und alles andere darunter ansiedeln muss. Obwohl ich wenig lieber habe, als mich, um die Sprachebene einmal kurz zu halten, vor Lachen zu bepissen oder bis kurz davor zu kommen. (Übertragener Sinn selbstredend, die humorbasierte Inkontinenz gehört noch nicht zu meinen Alltagsleiden).

Bisweilen trieben im gebotenen Mischtext ja auch Stellen vorbei, die die Ohren spitzen ließen, wie „Man nennt es Geist, wenn Große lästern...“, genau da aber verkniff sich die Nasenstüber-Regie jedes Innehalten. Dafür musste die arme Anja Lenßen eine Wasserflasche aussaufen wie das liebe Vieh, das liebe Männervieh, das Ex-Trinken rituell lustig findet, nur um ihre (vermutlich) innere Überhitzung angesichts des Klostermädchens abzukühlen. Herrje, what an idea! Rodewald wirft Pillen ein und Angela Merkel kommt im O-Ton zu Wort, damit alle, die denselben O-Ton zuvor schon hörten, nur gesprochen , nun endlich wissen, dass das O-Ton war. Im Programmheft gibt es gar ein Zitat zu gleichgeschlechtlichen Ehen, nur weil Meiningen aus Angelo und Isabella ein lesbisches Nicht-Paar gemacht hat.

Ich bin heute in Vergeberlaune, sagt Ingo Brosch fast am Ende und das Publikum lacht fröhlich dazu. Warum eigentlich nicht? Ich bin heute in Vergeberlaune. Bis demnächst


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