Hauptmann: Der Biberpelz; Landestheater Marburg

Eine Szene gibt es in diesem Marburger „Biberpelz“, die hat etwas. Der Amtsvorsteher Baron von Wehrhahn (Sebastian Muskalla, Jahrgang 1974) lässt sich von seinem Amtsschreiber Glasenapp (Ogün Derendeli, Jahrgang 1983) porträtieren. Derendeli steht vor der Staffelei, schwingt den Pinsel wie die grelle Karikatur einer Mal-Performance, vom entstehenden Bild sieht der Zuschauer selbstverständlich nichts. Das Motiv seiner Bemühung ist der Amtsvorsteher in einer Pose, die auf wilde Weise an den ikonischen Heiligen Georg als Drachentöter erinnert. Wobei das Podest, auf dem von Wehrhahn steht, eine transportable Guillotine ist, der Drachen, den er erlegt, ist der Amtsdiener Mitteldorf (Fabian Baumgarten, Jahrgang 1987), die Lanze, die ihn liegend trifft, ist ein  Feudel, ein Wischmopp, um der Generation der Mehrzahl der Darsteller verständlich zu bleiben. Der Rest ist Mumpitz. 115 Minuten, inklusive Pause nach einer Dreiviertelstunde, Mumpitz.

Regisseur Marc Wortel (Jahrgang 1982) hat vermutlich die Binsenweisheit, dass eine Inszenierung eine Idee braucht, nassforsch missverstanden. Seine arg simple Idee lautet, wir machen mal das Gegenteil. Im Lexikon stand, dass Hauptmann ein Naturalist war, also machen wir daraus ein antinaturalistisches Stück. Sozial- und Zeitkritik ist ohnehin Blödsinn für Schüler, die sich bis zum Turboabitur nicht wehren können. Der Bühnen- und Kostümbildner Donald Becker (ohne Jahrgang) ließ sich von dieser wahrhaft ansteckenden Idee inspirieren, wandelte so vor sich hin und stieß auf den Schweizer Urs Graf, der fast 400 Jahre vor Gerhart Hauptmann geboren wurde und auf die Blicke 1 bis 84 nicht in Frage kommt als Anreger für optische Umsetzungen dieses deutschen Dramatikers. Was aber soll es, Hauptsache verrückt. Ohne Not, ohne Grund und vor allem ohne Gewinn für den Marburger Theaterabend wandelt die Regie das Ehepaar Motes in ein Brüderpaar Motes um und lässt es wie weiland die „Leningrad Cowboys“ aussehen (Tobias M. Walter, Jahrgang 1984, und Johannes Hubert, Jahrgang 1980). Johannes Hubert spielt außerdem den Doktor Fleischer, einen Schrat abstrusesten Zuschnitts, man vergesse rasch und vollständig, dass diese Figur bei Hauptmann eine Art Selbstporträt ist, wenn auch eine etwas verwaschene. Dieser notgeile Rocklupfer wird allenfalls die Sitte interessieren, niemals einen Vertreter der herrschenden Politik.

Ohne Not, ohne Grund und mit nur peripherem Gewinn für den Marburger Theaterabend macht die Regie aus der 17 Jahre alten Tochter Leontine eine Kugel namens Leon (Ogün Derendeli in seiner zweiten Rolle). Dieser Leon sieht aus wie aus „Alice im Wunderland“ entwichen, greint, weint, jammert. Was um alles in der Welt macht solch ein Witz-Kerlchen als „Dienstmädchen“ im Haushalt des Rentiers Krüger (Thomas Streibig, Jahrgang 1949)? Fragen, die provoziert zu haben Regie und Ausstattung vermutlich zutiefst befriedigen. Und, das muss man leider auch sagen, von der Heimatpresse anlässlich der Premiere am 26. Oktober 2013 nicht ansatzweise gestellt wurden. Es muss eine Strafe für ein ambitioniertes Haus sein, wenn es von Kritikern/rinnen besucht wird, die lesbar vom Stück nicht die geringste Ahnung haben, die nicht einmal das bemerken, was sie selbst beschreiben. Wenigstens die Frage, was ein Waschbär im Bühnenbild soll, wo es doch um einen Biber und seinen Pelz geht, hätte sich sogar der Ahnungsloseste vorlegen dürfen.

Annelie Mattheis (Jahrgang 1983) hat dem Regisseur fürs Programmheft Fragen gestellt. Nach seiner neuen Lesart der Mutter Wolff beispielsweise. Der Regisseur hat forsch geantwortet, nur ist, was ihm neu scheint an seiner Sicht, alles andere als neu. Und wenn seine Hauptdarstellerin Christine Reinhardt (Jahrgang 1948) das alles auch nur ansatzweise tatsächlich gespielt hätte, dann hätte man ihr das Lob zweifellos zollen müssen, das ihr grundlos nach der Premiere gezollt wurde. Sie ist der größte Schwachpunkt der Inszenierung, weil das Konzept gar kein Spielen dieser tragenden Paraderolle zulässt. Wer seinen Mimen so dick bunte Schminke auftragen lässt, wie hier geschehen, der lässt auch nur dick aufgetragenes Spiel zu. Christine Reinhardt spricht viel zu oft direkt ins Publikum, ihre Verhässlichung durch die Maske schränkt Chancen auf Feinheit, auf Nuancen radikal ein und nur die Hände in die Hüfte stützen oder den Besen schwingen, wenn Resolutheit gezeigt werden soll, herrje, das kann jedes Schülertheater. Die Höchststrafe vollzieht immer das Publikum: es lacht nicht. Eine der größten und auch tatsächlich wirkungsvollsten Komödien deutscher Zunge vor dem wahrlich leicht zum Lachen zu bringenden Arnstädter Publikum und kein Lachen, fast kein Lachen.

Die Ausnahme darf natürlich nicht verschwiegen werden. Ihr Name ist Fabian Baumgarten. Wie er als Amtsdiener Mitteldorf da über die Bühne würmelt und kringelt, sich windet und biegt, wie er als lebende Pinnwand den Schmerz in Zusammenbruch wandelt, wie er sich seine Schlückchen aus diversen Fläschchen gönnt, das ist Komödie. Da stört nicht einmal die rote Kullernase. Platz 2 in der Rangfolge der Ausnahmen, wenngleich schon mit heftigen Einschränkungen, die aber der Regie anzulasten sind: Julia Glasewald (Jahrgang 1980) als Tochter Adelheid. Hauptmanns Regietext zu ihr lautet: „Sie ist ein langaufgeschossenes Schulmädchen im vierzehnten Jahre, mit hübschem Kindergesicht. Der Ausdruck ihrer Augen aber verrät frühe Verderbnis.“ Es steht zu vermuten, dass das Wort Verderbnis den Jahrgängen 1980ff aus dem Wörterbuch alter Sprachen zu kommen scheint. Und dennoch ist Julia Glasewald kurioserweise dem Original Hauptmanns vielleicht am nächsten vor allen anderen Rollen.

Über den frühen Hauptmann reden, heißt über seine Arbeit mit dem Dialekt reden. Die Marburger Inszenierung belässt es beim Dialekt mit allen unangenehmen Konsequenzen. So redet man nicht am Rande Berlins, dieser Mischmasch war schon bei Hauptmann selbst ein Ärgernis, und es ist ihm früh angekreidet worden. Die Darsteller entstammen den verschiedensten Sprachgebieten, was ihnen selbstredend nicht anmerkbar sein darf. Mutter Wolff spricht den ärgerlichsten Kauderwelsch, während sie über die Bühne marschiert. Nein, so geht das nicht. Aufgesetzt und deplaciert wirkt deshalb auch der Sprachfehler aus dem Munde von Thomas Streibig. Da hätte die Strichfassung nun wirklich zu streichen gehabt, denn dieser Gag hat sich seit dem „Leben des Brian“ in mehr als dreißig Jahren radikal abgenutzt. Sollte ihn Hauptmann erfunden haben, dann gehört seine Erfindung in die Tonne, sie ist nur noch Klamotte, nicht Komödie. Und wenn schon fast alle Rollen überzeichnen, dann muss halt auch aus der eigentlich bedenklichen Figur des Amtsvorstehers und Barons von Wehrhahn ein Typ werden, der urplötzlich ins Tuntige kippt, als probe er schon einmal für die nächste Travestieshow. Das mögliche Wechselspiel zwischen diesem Amtsvorsteher und dieser Waschfrau Wolff ist glatt verschenkt. Ein Rest an Kleinstgesten rettet da nichts. In keiner Richtung.

Mit seinen vier Akten hat „Der Biberpelz“ einst gar dramaturgiegeschichtliche Debatten ausgelöst, kaum vorstellbar heute, wo Akte auf der Bühne ihre Bedeutung nahezu vollkommen eingebüßt haben. Man befragte Figuren auf ihren Realitätsgehalt. Dazu der Regisseur: „Dass Stücke nur dann interessant sind, wenn sie mit unserer aktuellen Wirklichkeit etwas zu tun haben, ist ein bedauerliches Märchen.“ Schön, Marc Wortel, dass das endlich einmal jemand, allen Mut zusammen nehmend, und messerscharf, sagt. So sieht der Geisterfahrer auf der Autobahn den Gegenverkehr, das ist ein sehr praktischer Standpunkt. Verbleiben Jürgen H. Keuchel (Jahrgang 1955) als Julius Wolff, seine Frau nennt ihn gern Julian, und Thomas Huth (Jahrgang 1984) als Schiffer Wulkow. Keuchel hat den tumben Toren zu spielen, er ist wie seine Partnerin rund 20 Jahre zu alt für die Rolle, da hat man solche jungen Kinder wie Adelheid nicht mehr, allenfalls Enkel, noch mehr zu Hauptmanns Zeiten. Huth ist ein Rumpelstilzchen, das Vater wird, gern mal einen geklauten Biberpelz kauft und dabei die Mutter Wolff sogar noch um einen Taler bescheißt.

Dass zu Beginn des Abends „Blue Velvet“ gespielt wird, ist sogar in Schlüchtern und Umgebung aufgefallen, muss hier nicht wiederholt werden. Die musikalische Endlosschleife soll nicht zu lange laufen, deswegen wird das wartende Publikum erst kurz vor Spielbeginn eingelassen. Den Jägern und Tierfreunden im Publikum hat die Regie eine Zusatznuss zu knacken aufgegeben, denn an dem gewilderten Rehbock, den Mutter Wolff im Sack auf die Bühne schleppt, ist ein Gehörn gewachsen, welches seinen Träger ins naturkundliche Museum bringen würde. Der tuntige Amtsvorsteher sagt immerhin am Ende, was bei Gerhart Hauptmann tatsächlich steht: „Und so wahr es ist, wenn ich hier sage: die Wolffen ist eine ehrliche Haut, so sag ich Ihnen mit der gleichen Bestimmtheit: Ihr Doktor Fleischer, von dem wir das sprechen, das ist ein lebensgefährlicher Kerl!“ Es ist so wahr, genau so wahr. Nur 24 Stunden nach der sehr starken „Rose Bernd“ in Meiningen für mich ein sehr mäßiger „Biberpelz“ aus Marburg. Hauptmann, deine Jünger!
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