Racine: Phädra; Südthür. Staatstheater Meiningen

Hätte Intendant Johann Wolfgang von Goethe nicht so ein kaum zu stillendes Verlangen nach immer neuem Spielmaterial für sein Theater in Weimar gehabt, wer weiß, ob Friedrich Schiller sich Jean Racines spätes Meisterwerk „Phädra“ vorgenommen hätte bei seinem schon extrem angeschlagenen Gesundheitszustand und den vielen eigenen noch nicht realisierten Plänen. So aber ließ er sich erweichen, es entstand die berühmteste „Phädra“-Übersetzung ins Deutsche, die sich jedoch keineswegs auch zur meist gespielten entwickelte. In den zurückliegenden Jahren war es fast immer Simon Werles Übertragung, die auf die Bühnen fand, Rudolf Alexander Schröder oder gar Arthur Kutscher hatten das Nachsehen, Schröders gereimten Alexandrinern sagte man zudem bisweilen unfreiwillige Komik nach, was für eine klassische Tragödie natürlich gar nicht geht. Wie auch immer Goethe Schiller schließlich überzeugte, wissen wir nicht, die schriftlichen Zeugnisse zur Wirkung Racines auf Goethe entstanden durchweg erst nach Schillers Tod.

Dass in Meiningen die Schiller-Fassung gespielt wird, spricht für das dort inzwischen ganz sicher berechtigt vorhandene Selbstbewusstsein, über Darsteller zu verfügen, die der gehobenen Jambensprache gewachsen sind und nicht wie mancherorts vor Anstrengung mit dem Text aus dem Spiel fallen. Die klassische Tragödie Racines hat den Vorteil, den äußere Aktionsarmut, das Statuarische des Geschehens Darstellern bietet, sie können sich auf den Text konzentrieren, können Text wirken lassen, ohne eilen zu müssen. Wer seine Inszenierung darauf abstellt, wie es Lars Wernecke offenbar getan hat, muss damit rechnen, dass Zuschauer sich gelangweilt fühlen. Doch wissen wir aus der behaupteten Langeweile von Wahlkämpfen und großen Koalitionen, dass es sich dabei um keine Realeigenschaften von Wahlkämpfen und großen Koalitionen handelt, sondern um Phantomschmerzen übersättigter Medienmenschen, die ihre spezifische Reizüberflutung nur dann nicht zu Aufmerksamkeitsdefiziten führt, wenn sie Krawall erleben dürfen, Action, Panik, Katastrophen. Nicht umsonst ist der inflationär missbrauchte Gegenbegriff „spannend“. Dem wie der Hund dem Herrn das unvermeidliche „witzig“ hinterher wedelt.

Lars Werneckes „Phädra“ ist ein Theatererlebnis. Und zwar trotz seiner kräftigen Defizite in der Gestaltung zweier tragender Rollen. Ingo Brosch ist ein Theseus, der hart an die Fehlbesetzung reicht, mit dem Odeur einer Paul-Breitner-Frank-Schätzing-Underwearmodel-Mischungs-Schönheit ist dieser altgriechischen Mythengröße kaum beizukommen. Man muss sich nur vor Augen halten, wie er buchstäblich nichts ist, während Hans-Joachim Rodewald, dem der Lear noch sichtbar positiv in den Knochen steckt, den umfänglichsten Monolog der Tragödie spricht, den Botenbericht vom Tod des Hippolyt. Bei Rodewald beherrschter und doch stärkster Ausdruck ohne aufgesetzte Theatralik, fast nur ein Wiegen, ein Verlagern von Stand- und Spielbein, Brosch aber starrt in ein Bühnennichts, als erwarte er wie weiland Charlton Heston im berühmtesten Bibelschinken aller Zeiten die zehn Gebote aus dem Schnürboden dröhnen zu hören. Der Hippolyt des superjungen Hagen Bähr, Meiningen hat für die neue Spielzeit gleich drei Angehörige des Jahrgangs 1990 verpflichtet, wirkt unangenehm lange arg schülerhaft, findet dann aber zu einem Spiel, dass zu allen Hoffnungen berechtigt. Schon die nächsten Aufführungen sollten Probe aufs Lernexempel sein.

Weil sie alles andere als selbstverständlich ist, sei auf die Leistung der Regie verwiesen, die ich in all meiner Unbelehrbarkeit für unverzichtbar halte. Wernecke vertraut dem Text. Er vertraut ihm nicht nur im Schillerschen Wortlaut, er vertraut ihm vor allem in seiner Potenz, uns nicht unberührt zu lassen, selbst wenn auch der geringste Versuch unterbleibt, Heutigkeit für Anfänger unterzuquirlen. Wir stellen überrascht oder auch gar nicht so überrascht fest, dass diese uns vorgezeigten Wirrungen von Liebe, dieses Gegeneinanderstehen von Verstand und Gefühl keineswegs mit französischer Klassik oder früher Aufklärung oder was sonst wir für eine Schublade öffnen, dahin gegangen ist. Kennen wir nicht alle einen Nachbarn, eine Nachbarin, die für mehr oder weniger lange einer Liebe vollkommen verfielen, die von außen einfach nicht zu verstehen ist? Den Mann, der eine für uns potthässliche Frau in rasender Eifersucht als dauernd von Verführung umzingelt wähnt, die Frau, die den Gatten verfolgt und durch Fenster beobachtet? Natürlich vermuten wir immer, dass diese krassen Fälle von Liebe auf den ersten Blick in der Kunst häufiger vorkommen als im Leben, dann aber hängt uns selbst plötzlich das Kinn herab, nur weil uns eine schwangere Göttin im Theater fragt, was wir denn da so aufschrieben immer mit den kleinen Bleistiften?

Phädra also, wir müssen ja wenigstens kurz auf die Geschichte kommen, hat in Theseus nicht nur einen Helden-Mann mit Vor- und Nebenleben, der nach heutiger Moralsicht, die nicht einmal feministisch sein muss, geradezu danach ruft, es ihm gleichzutun, er hat auch einen Sohn, dem die Gattin Stiefmutter ist und vom Alter her näher. Schiller hat Erfahrung mit solchen Konstellationen, man muss nur an Don Carlos und seine Stiefmutter denken. Viel Schiller ist auch in der Gestalt des Stiefsohnes Hippolyt selbst, den es wütend und ungeduldig macht, noch keine große Tat im Leben vollbracht zu haben, die sich auch nur im Ansatz mit den Taten seines Vaters vergleichen ließe. Sowohl Phädra als auch Hippolyt haben zu Beginn der Tragödie vor allem ein schlechtes Gewissen, wissen sie sich doch einer Liebe verfallen, von der zunächst noch niemand etwas weiß und ahnt, vor allem die jeweils Geliebten nicht, die aber beide klar gegen Sitte und/oder Gesetz verstoßen. Phädra liebt ihren Stiefsohn, der liebt eine gefangene Königstochter, um die kein Mann freien darf, damit mit ihr ihr Geschlecht endgültig ausstirbt. Phädra hat sich entschieden, aus dem Leben zu scheiden, Hippolyt will sich auf die Suche nach seinem verschollenen Vater begeben, vor allem aber will er aus der Nähe Aricias verschwinden, der er sich nur räumlich entziehen kann, wie er ahnt. Heinrich Heine hat den Generalnenner solcher Verhältnisse mit den Versen „Es ist eine alte Geschichte, doch ist sie immer neu“ endgültig und unübertrefflich prägnant beschrieben.

Das Tragische kommt in Jean Racines „Phädra“, weil buchstäblich alles, wie man heute flapsig sagt, dumm läuft. Phädra hat eine Kinderfrau und sorgende Freundin in Önone, Hippolyt hat in Theramen das männliche Pendant dazu. Beide wollen ihren Schützlingen des Beste zukommen lassen, wollen sie vor Gefahren schützen, ihnen Lehren geben, Erfahrungen vermitteln, wollen ihr Glück. Nur führen ihre heißen Tipps, wir behalten die Flapsigkeit kurz bei, zu klassischen Schüssen in den Ofen. Nachdem Önone (Rosemarie Blumenstein) von ihrer Phädra (Anja Lenßen) deren Liebesgeständnis gehört hat, selbiges vernimmt Theramen (Hans-Joachim Rodewald) von Hippolyt (Hagen Bähr), läuft nichts mehr gut. Wohl tritt Phädra zunächst von ihren Selbstmordplänen zurück, ihre tiefe Lebensmüdigkeit weicht einem emotionalen Aufschwung, der allein durch sein Explosives verdächtig sein müsste, zumal plötzlich die Nachricht die Runde macht, Gatte Theseus sei  nicht mehr am Leben, doch erweist sich der Rat, ihre Liebe zu offenbaren, als verheerend. Phädra muss durchleben, wie es ist, zurückgestoßen zu werden. Auch hier steht im Hintergrund eine eigene Konstellation des Übersetzers Schiller, so erleben es die Gräfin Eboli in „Don Carlos“ und die Lady Milford in „Kabale und Liebe“.

Dirk Immich hat für die Meininger „Phädra“ feinen Sand auf die Vorderbühne gebracht. Der Zufall will, dass es genau diesen Einfall schon einmal in Köln gab, als Johannes Schütz den Klassiker ebenfalls in der Schiller-Übertragung inszenierte. Ein lustiger Nachtkritiker erblickte in jenem Sand damals ein Symbol für pulverisierte Klassik. Wohl jedem Kritiker, der sich nicht selbst dazu verurteilt, das Hauptgeschäft seiner Profession im Deuten von Bühnenbildern und Kostümen zu sehen. Das enthebt zwar scheinbar vom Text, den der ambitionierte Kritiker natürlich kennt und damit der oben genannten Rubrik des Langweiligen zuordnet, er lässt den normalen Theatergänger und Feuilletonleser aber doch arg allein, weil dem im Regelfall keine architekturhistorische Exkurse oder modephilosophische Etikettierungen einfallen, wenn er Schlitze in Kleidern sieht, die mit kubischen Rundbögen kontrastieren. Warum sollte ein Händeringen auf heutiger Bühne nur deshalb eine fragwürdige Geste sein, weil einst an dieser Stelle schon Corona Schröter oder Maria Schell ihre Hände rangen? Wenn die jungen Mimen spielen und sprechen wie in den amerikanischen Fernseh-Serien, wäre das mindestens ähnlich fragwürdig. Es gäbe keine Körpersprachlehre, wenn es keine Körpersprache gäbe, so einfach ist das.

Anja Lenßen spielt die Phädra in Meiningen. Sie hat die Mittel, das Zerrissensein der Rolle zwischen klarster Einsicht in die eigene vermeintliche Verfehlung und das Verlorensein an das übermächtige Gefühl auszubalancieren. Die Regie verlangt ihr keine Exaltationen ab, gestattet ihr aber den beherrschten Wutausbruch, der sich gewissermaßen durch die zusammengepressten Zähne quetscht. Es wirkt ewig-weiblich im herrlich altmodischen Sinn. Als ihr plötzlich bewusst wird, dass Hippolyt sie nicht nur zurückwies, weil er Angst vor der eigenen Courage hatte, sondern seinerseits eine andere Frau liebt, Aricia eben (Alexandra Riemann). Nun ist Phädra so etwas wie eine sich selbst bändigende Furie, die nicht einmal ihren Todeswunsch für die Konkurrentin  unterdrückt. Das schrieb sich für Schiller vermutlich wie von allein. Am Ende vollzieht sich das Verhängnis in antiker Wucht. Hippolyt wird als Wirkung eines Eingreifens von Gott Neptun auf Wunsch von Halbgott Theseus von seinen Pferden zu Tode geschleift, die von Phädra böse und blind verstoßene Önone stürzt sich ins Meer, was der Zuschauer nur über Berichte erfährt. Phädra selbst tötet sich mit einem alten Medea-Gift und so könnte man die Tragödie tatsächlich als Tragödie eines verzögerten Selbstmordes apostrophieren, wie das vor Jahren ein kluger Kopf tat.

Vor mir saßen zwei Paare älteren Herstellungsdatums, deren männliche Teile auf eine Weise fachsimpelten, dass es eine Freude war und Zeichen dafür, dass man auch ein Premierenpublikum nicht überschätzen darf. Der eine sagte dem anderen, Racine habe das Stück nach einer Idee von Schiller geschrieben, der andere, dass Fontane daraus einen Roman gemacht habe. Was mir die wunderbare Tatsache neu vor Augen führte, die ich aus langen Zeitungsjahren bestens kenne: auch kluge Köpfe erfassen keineswegs automatisch, was sie lesen, wenn sie denn überhaupt lesen und nicht nur überfliegen. Dass ich über Ulrike Walther in ihrer Doppelrolle als Ismene und Panope nichts vermelde, ist der Unauffälligkeit der Figuren geschuldet, nicht ihrem Spiel. Dafür lobe ich das Programmheft, weil es nicht auf dem hohen Ross daher kommt. Der Premierenbeifall war herzlich, der Regisseur herzte seine Hauptdarstellerin, die nach einer starken Iphigenie nun eine starke Phädra gab, vielleicht wagt sie für einen mutigen Inszenator ja irgendwann eine Penthesilea.
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