Dürrenmatt: Romulus der Große; DNT Weimar

Die überraschende Frische eines 66 Jahre alten Stücks aus der benachbarten Schweiz zu konstatieren, wäre scheinheilig. Friedrich Dürrenmatt war nicht irgendwer in der deutschsprachigen dramatischen Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts, auch wenn uns heute fast nur noch die alte Dame besucht, das freilich mit größter Hartnäckigkeit. Bisweilen folgen ihr ein paar Physiker, wenn irgendwo dann doch mal wieder einmal die Verantwortung von Wissenschaft als Thema up to date erscheint. Normalerweise entstehen Spielpläne offenbar durch den Seitenblick auf andere Spielpläne, sonst könnten nicht diese Wellen für einzelne Stücke durch den Spielraum schwappen, als wäre die eigentlich so gern in Anspruch genommene Originalität nur eine Chimäre der ungedruckten Haus-Philosophien. „Romulus der Große“ ist ein großartiger Text und man braucht gar nicht erst lange in philologischen Untiefen zu gründeln, welche der fünf Fassungen sich im Zweifelsfalle wodurch von den jeweils vier anderen unterscheidet. In Weimar hat man sich mit der Frage wohl gar nicht weiter beschäftigt, jedenfalls gibt das Programm keinen Hinweis auf die zugrunde gelegte Textfassung, die ohnehin und leider die offenbar nicht mehr vermeidlichen Platt-Aktualisierungen aufzunehmen hatte, die der Spielleitung gefielen. Aber, das zu Anfang, sie hielten sich so in Grenzen, dass ich sie entschlossen als vernachlässigbare Größe ansetze. Sonst wäre ich nach den Eingangsrufen nach Frau von der Leyen, Herrn Seehofer und Herrn Gysi schon stehenden Fußes aus dem Parkett entwichen, die Schlussrufe, die Herrn Gysi durch Herrn Gabriel ersetzten, trafen mich bereits frohesten Mutes, einen sehr feinen Theaterabend erlebt zu haben.

„Romulus der Große“ hat die Ironie im Titel, die „Zehn Paragraphen zu Romulus der Große“ von Dürrenmatts eigener Hand unterstreichen das mit ätzenden Kurzformeln. Sie fegen jeden Ansatz beiseite, hier an der tatsächlichen spätrömischen Geschichte zu schnüffeln, Abbilder mit Vorbildern zu vergleichen, den historiographischen Daumen zu senken. Der Hinweis darauf ist nicht überflüssig, denn allen Ernstes füllen vermeintlich seriöse Wissenschaftler ganze Fachbeiträge mit der Botschaft, dass keineswegs Romulus, sondern ein früherer Honorius ein Hühnerfreund war. Ja, Herrgottkruzitürken, wen interessiert das denn angesichts dieser ungeschichtlichen historischen Komödie in vier Akten, wie sie Dürrenmatt selbst genannt hat? Der natürlich wusste, dass der historische Romulus bei seiner Inthronisierung 16 war und folglich keineswegs zwanzig Jahre verheiratet sein konnte, vermutlich war er nie verheiratet und eine Tochter Rea hatte er demnach so wenig wie eine Gattin Julia. Muss tatsächlich die ganze Klippschulstunde über den Umgang großer Theater-Autoren mit der Geschichte neu abgespult werden? Kleist, Schiller, Shakespeare, nur drei in alphabetischer Folge zu nennen, auf Realgeschichte zu verpflichten, hieße ihr Werk killen, nicht weniger, nicht mehr. Damit zur Tagesordnung. Zu knapp zwei höchst kurzweiligen, höchst sinnigen Stunden in Weimars Großem Haus am 98. Jahrestag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution.

Man sieht einen Saustall, genauer einen Hühnerstall, es soll das Anwesen dieses finalen Kaisers des weströmischen Reiches sein. Mit Rednerpult, mit Mikrofonen, Büromöbeln, Hackstroh, malerisch verteilt (Bühne Heike Vollmer). Die Hühnerställe im Hintergrund, einer mit echten Hühnern. Dergleichen geht heute fast als Meiningerei durch. Weshalb es zu loben ist. Besteigbare Kuben mit Bedeutung hatten wir genug und weitere werden folgen. Die Hofhaltung des letzten weströmischen Kaisers ist mühsam kaschierte Sauwirtschaft. Wenn dieser Romulus frühstücken will, müssen Tischplatten von Stroh befreit werden, kein Stuhl steht genau da, wo er stehen sollte. Romulus hat zwei alte Diener, Achilles und Pyramus (war da nicht mal ein Pyramus mit Thisbe ?) Elke Wieditz ist Achilles, Christoph Heckel ist Pyramus, ihr Eingangsdialog nach Ankunft des seltsamen Präfekten Spurius Titus Mamma (Julius Kuhn), der schließlich den Untergang Roms und das Ende der Antike verschläft, gibt den Ton vor, der dann herrscht. Es hilft, wenn man im Leben schon einmal etwas von Stoa gehört hat, jener ursprünglich altgriechischen Philosophie, derzufolge man Weltbegebnissen jeglicher Art und Größe mit Stoizismus zu begegnen habe. Das ist, mit hoffentlich halbwegs jungen Worten gesagt, wenn man alles an sich abtropfen lässt.

Dem Stoizismus recht nahe verwandt ist, was im nämlichen Griechenland die Kyniker lebten, die laut Hegel bisweilen das öffentliche Beilager zelebrierten, was die Sexualrevolutionäre der 60er nachspielten, Anstrengungsschweiß auf der Stirn. Romulus ist Stoiker und Zyniker. Das hilft, ihn in moralinsauren Zeiten nicht gar zu sympathisch zu finden, Stoiker und Zyniker im Publikum würden freilich ihre Söhne nach diesem herrlichen Romulus nennen, wäre es nicht gar zu fremd inmitten der retrograden Namensmoden, mit denen Standesämter gar nicht so sehr ringen. Diesem Kaiser Romulus, dem die Geschichte den Beinamen Augustulus gab, das „Kaiserchen“, lässt Friedrich Dürrenmatt die nämliche Geschichte sehr kalt am Arsch vorbeigehen. Er hat es mit seinen Hühnern, die die Namen von Kaisern tragen oder mindestens von großen Feldherren. Ob und wie viel sie gelegt haben, bestimmt die Morgengespräche mit den Dienern und viel Witz erwächst aus den Namensspäßen. Leistungsschwache „Kaiser“ kommen in die Pfanne oder in den Topf. Auch den gefiederten Romulus ereilt das Schicksal. Huhn Odoaker legt dafür drei Eier und die ersetzen dem Herrscher am Frühstücksei mit Fruchtzwergen, Scheiblettenkäse und Kochschinken das Orakel. Des Kaisers Hinweis auf die Gänse des Kapitol ist in Weimar gestrichen, man muss auch nicht gleich übertreiben mit der erwarteten Vorbildung im Parkett.

Der Abend lebt und stirbt mit dem Darsteller des Romulus. Mit Ingolf Müller-Beck lebt er, als gäbe es kein Sterben. Dem Regisseur Thomas Dannemann ist in jeder Hinsicht ein Glücksgriff gelungen, weil pure Körperlichkeit, kombiniert mit Kostüm (Jana Findeklee) Zusatzeffekte ermöglicht, die im Finale mit Sebastian Kowski als Odoaker eine Situationskomik entfesseln, die helles Vergnügen machte. Müller-Beck kann auch die Umschwünge, wenn es plötzlich doch einbricht in Gleichmaß und Gleichmut, ganz draußen halten lässt sich die Wirklichkeit nicht. Die gesamte Geschichte, die Dürrenmatt erzählt, spielt an den Iden des März, das ist jener Tag, an dem Brutus und Kollegen einst den Cäsar erstachen, und an dem dann immer der Sold an die Beamten gezahlt wird, um antikaiserliche Mordgedanken zu bannen. Der Witz, einer von massig Witzen, bei Dürrenmatt: der Finanzminister ist mit der leeren Staatskasse geflohen. Romulus lobt die ihm wenig verächtliche Tat mit einer überrumpelnden Aktualität: „Wer einen großen Skandal verheimlichen will, inszeniert am besten einen kleinen.“ Ihm bleiben ein Innenminister Tullius Rotundus (ebenfalls Julius Kuhn) und eine Kriegsministerin Mares (Dascha Trautwein), von der wiederum Romulus zu seiner Julia sagt, nur ein Trottel werde freiwillig in diesen Zeiten Kriegsminister.

Bösere Sätze zum Stichwort Vaterland als in dieser ungeschichtlichen Komödie sind mir wissentlich noch nicht begegnet. Das mag Ultralinke erheitern, die sich gelegentlich Bomber-Harris zurück wünschen, damit Deutschland endlich aufhöre zu sein, darüber hinaus aber stimmt es nachdenklich. Womit wir mitten in einer Debatte darüber wären, was der Schweizer Dürrenmatt meint, wenn er von sich sagt: „Der Verfasser ist kein Kommunist, sondern Berner.“ Das würden auch Sennenhunde von sich sagen, wenn sie der Sprache mächtig wären, die wir verstehen. Und mitten in der Debatte, was Dürrenmatt meint, wenn er von Komödie spricht. „Romulus der Große“, ist einschlägig gesagt worden, enthalte Dürrenmatts Komödientheorie implizit, die später erst explizit formuliert wurde und alle seriöse Theorie-Textsammlungen bereichert im Kapitel 20. Jahrhundert. Man hat da was mit schlimmstmöglicher Wendung läuten hören und so. Romulus liest dem Abendland die Leviten, könnte man eben heute sagen. Wenn die Germanen kommen, hieß das annähernd, geschähe den Römern recht. Wenn die Syrer kommen, hört man in Weimar ziemlich direkt, geschähe uns allen recht. Dürrenmatt würde eine Botschaft dieser Art nicht dementieren, steht zu vermuten, nur das Wort Botschaft wäre ihm wohl zu banal.

Komödien, die direkt ins das leiten, was der feinere Geist Diskurse nennt, sind auch dann kein Klamauk, wenn sie sich auf Bühnen als Klamauk verkleiden. Das Lachen und die Hälse, man kennt das, es bleibt stecken. Man sieht diesen schnöseligen Theoderich (Fridolin Sandmeyer) eifrig über die Bühne wieseln und hört, was Odoaker von ihm hält und ausnahmsweise liegt man richtig, wenn man sich erinnert, dass es eben dieser Theoderich war, den wir Spätgermanen Dietrich von Bern nennen (Ich bin ein Berner ???), zwanglos ruft das Nibelungen-Lied aus dem Berner Oberland, oder? Dem Kaiserchen Romulus verhilft seine Einsicht ins Wesen des römischen Imperiums zu Größe, es ist eine vollkommen andere Größe als die, von der die Helden des jungen Schiller ständig reden und träumen. Dieser Mini-Kaiser hat sogar das, was heute gern von Politikern gefordert wird, denen man eine verschrobene Parteizentralen-Plastik gönnen möchte: eine Vision. Es ist eine lächerlich bescheidene und eben deshalb fast die größtmögliche aller denkbaren Visionen: FRIEDEN. Wie albern auch aus diesem Grunde Versuche, der Dürrenmatt-Figur die ohnehin ironische Größe abzusprechen. „Wie viele Revolutionäre gibt es, die Humor haben?“ fragte Max Frisch am 6. Mai 1949 in der „Weltwoche“, die damals noch nicht Roger Köppel gehörte, nach der Uraufführung. Er sah eine „Anklage, die wörtlich an unser unchristlich-christliches Europa gerichtet werden könnte ...“. 1949 war das, wie gesagt. Da brauchte man ein Fischerboot noch nicht zum Schlauchboot zu machen, um verständnisinnige Aktualitätskicherer herauszukitzeln.

„Romulus der Große“ war weder in der Schweiz noch in Deutschland ein großer Bühnenerfolg. Das kam später. Man ahnt warum. Das ging wohl zu heftig gegen den Kapitalismus, den inzwischen auch Kommunisten mögen. Denn Dürrenmatt hat den Hosenfabrikanten Cäsar Rupf erfunden (ebenfalls Christoph Heckel), der sich, wenn er wählen müsste zwischen Weltfirma und Imperium, wegen der Rentierlichkeit klar für die Weltfirma entschiede. Längst sind Weltfirmen Imperien und bekommen Kaisertöchter zum Heiraten auf dem Tablett serviert. Der seine Zustimmung verweigernde Romulus agiert hier wie ein armer Narr selbst in den Augen seiner Gattin (Nadja Stübiger), seiner Minister, seines oströmischen Kaiserkollegen Zeno (Max Landgrebe), der mit Rucksack als Asylbewerber gekommen ist und dann weiter zieht zum König von Abessinien. 1949 gab Dürrenmatt seinem Text noch Anspielungen auf Hitler-Deutschland mit, doch wenn die Kriegsministerin jetzt in Weimar ihre Worterfindung „totale Mobilmachung“ einführt, steht das Lachen kaum in Gefahr, im Hals stecken zu bleiben. Für Lacher-Erzeugung ist auch Krunoslav Šebrek als potentieller Schwiegersohn Ämilian nicht zuständig, der aus der germanischen Gefangenschaft floh, die Kaisertochter Rea (Nora Quest) kaum mehr. Denn allein das Agieren von Cäsar Rupf macht Verhältnisse nackt, die hochgemute Tarnphrase kann nichts mehr verstecken.

Im kleineren Format hat diese Funktion im Stück auch der Kunsthändler Apollyon (ebenfalls Krunoslav Šebrek), dem Romulus gegen Bares alles überlässt, was überhaupt noch Geld bringt. Er ist Grieche, was lassen sich da für hübsche Gags andocken. Regisseur Thomas Dannemann erheiterte sein Premierenpublikum darüber hinaus mit bei Dürrenmatt nicht vorkommenden Werken von Botticelli, Gerhard Richter (erkannte meine rechte Sitznachbarin) und gar dem Weimarer Goethe-Schiller-Denkmal auf Rädern. Zeno sagt zu Romulus: „Wir müssen jetzt unsere Kultur retten.“ Romulus entgegnet: „Wieso, ist Kultur etwas, das man retten kann?“ Friedrich Dürrenmatt hat auch eine Komödie für den Zitatenschatz geschrieben, in allen vier Akten gibt es Stellen, die man andächtig abschreiben möchte. Viele von ihnen sind in Weimar nicht untergegangen, wenn auch keineswegs alle das Publikum erreichten. Darunter das Zitat für Freund und Feind der „Lügenpresse“: „Meldungen stürzen die Welt nie um. Das tun die Tatsachen, die wir nun einmal nicht ändern können, da sie schon geschehen sind, wenn die Meldungen eintreffen. Die Meldungen regen die Welt nur auf, man gewöhne sie sich deshalb so weit wie möglich ab.“ Meldungen über gelungene Premieren sollten wir vorerst von dieser Empfehlung ausnehmen. Dies war eine.
www.nationaltheater-weimar.de


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