Tschechow: Der Kirschgarten; Südthür. Staatstheater Meiningen

Spätestens die so genannte Arabellion, also die nordafrikanischen Diktatoren-Stürze, dürften auch den letzten Revolutionsromantikern und Revolutionsromantikerinnen vor Augen geführt haben, dass so genannte Revolutionen gegen verhasste, überholte oder sonst in irreversiblen Misskredit geratene Systeme und Verhältnisse selten bis nie zu tatsächlich besseren Zuständen führen, neue Ordnung heißt Chaos, die Rebellen vom Vormittag sind frisch gebackene Möchtegern-Diktatoren zur Tea-Time. Wer das letzte große Stück von Anton Tschechow, „Der Kirschgarten“, unter die Perspektive kommender Revolutionen stellt, hat, anders als Tschechow selbst damals, heute noch siebzig Jahre gescheiterte Große Sozialistische Oktoberrevolution vor Augen, falls er die offen hielt, und einen wie ein Kartenhaus zusammenbrechenden Weltsozialismus, von dem gerade das große Mutterland traurigen Anschauungsunterricht liefert, wie illusionär alle Selbstbilder waren, wie wenig verwurzelt alles angeblich so „Unverbrüchliche“. Eben noch ein Generalssekretär mit zu Lenin gedrehtem Gebetsteppich und schon Urbild einer 30 Meter hohen Plastik voll Blattgold und Bruderkuss für den jeweiligen Patriarchen. Das, falls beabsichtigt, dann wohl durchdacht, ist der Bühnenausstattung in Meiningen zu entnehmen, wo durch die kaputten Gutsfenster nicht etwa blühende Bäume, sondern öde sozialistische Neubauten mit Rotem Stern auf dem Dach schimmern.

Dagegen hilft nicht, aber auch gar nicht, die wild-verwegene Implantation von Fremdtext in den Vierakter aus dem Jahr 1904, die Darstellerin der Anja (Anna Krestel) muss aus ihrer Rolle treten und, mit einer Kalaschnikow-Attrappe fuchtelnd und grimmig dreinschauend, Neo-Agitprop absondern, verfasst von einem jungen Mann namens Pjotr Silajew, Jahrgang 1985, der unter dem Pseudonym DJ Stalingrad offenbar so etwas wie postpubertären Weltekel in subkultur-kompatible Marktform gebracht hat. Grauenhafte Perspektive, wenn nun auch noch die DJ-Branche so genannte Romane auswirft, statt auf dem Mischpult zu schubbern. Immerhin, es fielen in dem, sagen wir, Monolog, Namen wie Schukschin und Wyssotzki. Die versoffene Stimme des letzteren hatte in Freundeskreisen meiner Studentenzeit Kultstatus, sie in Meiningen zu hören und immer noch nicht zu verstehen, für mich also schrägen Nostalgiewert. Von Schukschin nicht zu reden, der einfach ein großer Autor war und trotzdem heute unter die „Sowjetischen“ fällt, von denen selbst literaturaffine Jungrussen und Jungrussinnen nicht wissen wollen, wie ich in Germanistik-Sommerkursen mehr als schmerzlich erfahren durfte. Der eigentliche Tschechow aber, also „Der Kirschgarten“, litt in Meiningen (Regie Patric Seibert als Einwechsler für den ursprünglich beauftragten Harald Clemen) an Längen. Und das lag nicht an den drei Stunden Spielzeit plus Pause.

„Nach der Pause dauert es noch 75 Minuten“, sagte die Garderobenfrau zu dem alten Paar, das über Anstrengungen des langen Sitzens klagte. Es wurden sogar 80 Minuten und deren letzte zehn bis fünfzehn waren erheblich geprägt vom Versuch des überwiegend alten bis sehr alten Publikums der zweiten Premiere, das Ende des Abends herbei zu husten. Hinter mir erkundigte sich ein männlicher Besucher in regelmäßigen Abständen bei seiner ihn begleitenden Nachbarin, ob das alles auch bei Tschechow stehe, was sie, offenbar eine Art selbstsicheres Tschechow-Lexikon auf zwei Damenbeinen, meist bejahte, bisweilen verneinte. Er trug zur eigenen Abendunterhaltung dadurch bei, dass er den „Prawda“ lesenden Lopachin des Anachronismus zieh, (da gab es doch noch gar keine Prawda! Richtig: Die erste erschien am 5. Mai 1912!). Später, als Kafka genannt wurde, schnaufte er nur noch wie ein Prachtexemplar aus dem Meininger Dampflok-Schuppen. Ehe die finalen 80 Minuten begannen, entwichen fünf bis sechs alte Paare in Mänteln dem Großen Haus, sie gingen ohne Unmutsäußerungen in auffallender Stille. Das hat dieser „Kirschgarten“ dann doch nicht verdient. Denn er hatte seine munteren Szenen, die bekannt-beliebte Tschechow-Melancholie kippte nicht einmal zum Schluss ins pur Tragische, als der uralte Diener Firs (Peter Bernhardt, nicht annähernd alt genug, um als uralt zu überzeugen) sein Vergessenwordensein erkennt.

Bei verständigen Leuten kann man nachlesen, dass die schwierigste Figur des Personals die des Lopachin ist. Das Programmheft zitiert einen der verständigsten Tschechow-Kenner: Wolf Düwel und dessen 1961 in der längst vergessenen Reihe „Wege zur Literatur“ des längst vergessenen Hallenser VEB Verlag Sprache und Literatur erschienenes Tschechow-Buch. Was dort zu Lopachin und allen anderen im „Kirschgarten“ steht, ist verblüffend nah an dem, was der Regisseur auf die Bühne brachte bis in diverse Details. Umgekehrt natürlich, was für die Regie und keinesfalls gegen sie spricht. Das Ergebnis freilich ähnelt in mancher Hinsicht wiederum verblüffend dem einer Berliner Inszenierung aus dem Jahr 1947. Über die der Kritiker Paul Rilla schrieb: „Aber die Wirkung besteht aus Auftritten, und die Auftritte bestehen aus Spielmomenten: was fehlt, ist die durchgehende innere Spannung, die still fließende Bewegung, die einhüllende (nicht einlullende) Atmosphäre, jenes nuancenreiche Grau-in-Grau, dessen silbrig flimmernde seelische Schattierung die einzigartige Kunst Tschechows bleibt.“ Lopachin spielt in Meiningen Vivian Frey. Er schläft anfangs unter der Prawda ein, er versucht dieser wirklichkeitsblinden Adelssippe eine massiv-goldene Brücke zu bauen hin zu Schuldenfreiheit und sicherem Einkommen. Und verzweifelt fast an deren honoriger Ignoranz. Seine kontrastierende Agilität wirkt phasenweise überzogen.

Ulrike Walther ist die aus Paris heimkehrende Gutsbesitzerin Ljubow Andrejewna Ranjewskaja, die schon erwähnte Anna Krestel ihre Tochter Anja. Mit aus Paris ist auch Jascha gekommen, ein junger Lakai (Hagen Bähr), der vor allem rauchen muss, denn Tschechow hat dieser Figur eine Zigarrenliebe beigegeben. Zum Gut gehören der Bruder Leonid Andrejewitsch Gajew (Hans-Joachim Rodewald), die Pflegetochter Warja (Meret Engelhardt), das Stubenmädchen Dunjascha (Carla Witte), der seltsame Buchhalter Semjon Pantelejewitsch Jepichodow, der eine Art Faktotum darstellt und die Arbeit nicht erfunden hat (Peter Liebaug). Auf dem Gut lebt auch der ewige Student Pjotr Sergejewitsch Trofimow (Björn Boresch), dem Tschechow angeblich nicht alles mitgeben konnte, was er angeblich beabsichtigte (so meinen alle die Tschechow-Deuter, die dem Dichter wenigstens etwas revolutionären Elan zuordnen wollen), dagegen habe die Zensur des Zarenreiches gestanden. Wie ihn die Regie in Meiningen agieren lässt, ist eher entlarvend und deshalb näher an der Figur als alles ideologische Wunschdenken. Vor allem ist er auf andere Art, aber in der Konsequenz sehr ähnlich, ein Maulheld wie Bruder Gajew auch, der die berühmte Ansprache an den Schrank von einem weißen Kinderstühlchen herab vorträgt. Dass er seine Bonbons unauffälliger als andere Gajews futtert, fällt auf, auch seine Billard-Manie ist eingedampft.

Als Boris Borissowitsch Simeonow-Pischtschik ist Reinhard Bock die pure Kontrastfigur zur eigentlich gewünschten Korpulenz, er bildet mit Evelyn Fuchs als Gouvernante Charlotta Iwanowna ein groteskes Paar. Er ständig dabei, Geld zu erbetteln und am Ende ein Glückspilz, weil auf seinem Grund und Boden etwas gefunden wird, was geschäftstüchtige Engländer in der Aussicht auf dauerhaften Profit langfristig vermarkten möchten. Weshalb sie einen Pachtvertrag über viele Jahre unterschreiben, was dem Russen ein Zeichen ihrer hochgradigen Intelligenz zu sein scheint, ihm selbst freilich nur bescheinigt, dass er nicht die Spur von unternehmerischem Sinn besitzt, der sehr viel mehr einbrächte als Pacht. Aber so sind sie eben, diese russischen Gutsbesitzer in den Jahren und Jahrzehnten nach der Abschaffung der Leibeigenschaft 1861, sie sind „überflüssige Menschen“, nur halt nicht mit der revolutionären Konsequenz, dass man sie deshalb auch einfach umbringen darf. Sie, Charlotta, agiert vor allem als Zauberkünstlerin mit kleinen und größeren Tricks, zu denen die Regie ihr Zeit und Raum und eine wilde Perücke gibt, während die Rolle andernorts gern in die Streichmasse sortiert wird. Sie ist auf einen mäzenatischen Adel angewiesen und zu fast allem bereit, nur um nicht verstoßen zu werden. Zum Kern des Stücks tragen beide kaum bei, sie liefern Zeitbild: weit eher episch als dramatisch und heute fast surreal wirkend, weil: nicht vorstellbar.

Ulrike Walther wirkt in ihrer Rolle zurückgenommen, nicht nach Präsenz drängend. Manchmal bricht es aus ihr heraus, wenn sie von Trofimow an ihren ertrunkenen Sohn erinnert wird, wenn sie zwischen Neigung und Beherrschung schwankt, denn im Inneren ist sie keine Entsagende, im Inneren ist sie bekanntlich am Ende sogar bereit, zu genau dem Mann zurück zukehren in Paris, der sie hemmungslos ausnutzte und betrog, nur, weil er sie, so sieht sie es, braucht. Der Verlust des Kirschgartens trifft sie schließlich weniger als das Wissen, an wen sie ihn verloren: an Lopachin. Sie kokettiert nicht einmal mit ihrer bedenkenlosen Verschwendungssucht, sie hat keine Gewissensbisse, die Erbmasse ihrer Tochter zu verjubeln, die Sorge um den alten Diener Firs ist zwar nicht gespielt, aber sie sitzt auch nicht tief. Sie wird sich nicht ändern, keine Wirklichkeit kann das, weil sie diese einfach gar nicht wahrnimmt. Ihr Bruder Gajew, der lieber ein Vermögen für Bonbons ausgibt, als ein Vermögen mit Bonbons zu verdienen, wird von Hans-Joachim Rodewald ebenso am knappen Zügel geführt: keine Vordergrund-Gags, keine Parodie, ihn erreicht wie seine Schwester die Wirklichkeit nicht. Deshalb passt es auch, dass er ausgerechnet „Finanzier“ wird bei einer Bank, wo er doch mit Geld kaum besser umgehen kann als die Ranjewskaja. Die finalen Axtschläge am Kirschgarten kommen in Meiningen von einer Kettensäge.

Putzmunter und in solider Entfernung von dort, wo des Guten zu viel aufgetragen wäre, agiert Carla Witte als Dunjascha. Sie will lieben und wo sie ein mögliches Ziel sieht, da zieht sie alle Segel auf. Und schnöde behandelt Hagen Bähr sie, wenn er kurzzeitig einmal nicht raucht. Meret Engelhardt ist stets in Tschechows Wunsch-Schwarz gekleidet, sie könnte die Avancen, die Dunjascha bedenkenlos macht, nie kopieren und hofft dennoch bis zum Schluss, dass Lopachin sie vielleicht doch zur Frau nimmt. Doch hat sie, selbstbestimmt, wie keine andere im Stück, auch Vorsorge für den Fall der Fälle getroffen, der natürlich folgerichtig eintritt. Sie wird Haushälterin, denn nur Pflegetochter der Ranjewskaja sein, zumal die das ihr nicht mehr gehörende Gut verlässt, das kann sie nicht. Humorlos sozialkritisch gibt Matthias Herold den Landstreicher, der zum Bahnhof will. Die Frage bleibt (an die Inszenierung), ob tatsächlich fortgesetzt angeklagt werden muss, was längst verurteilt wurde. „Erinnerung ist kein Selbstzweck. Und in Zeiten allverfügbaren Wissens wird sie zunehmend zum Hindernis.“ Steht im Programmheft und stammt von Mads Pankow. Ich kann mich nicht erinnern, den Namen je gehört zu haben. Da bin ich richtig froh, dass Erinnerung kein Selbstzweck ist. Verfügbares Wissen über ihn für mich: trotz Massen im Netz: Keins. Ich empfehle meine drei bisherigen „Kirschgarten“-Besprechungen an dieser Stelle: zweimal 2013, einmal 2014.
www.das-meininger-theater.de


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