Kleist: Die Hermannsschlacht; Schauspiel Leipzig

Kleist war das natürlich nicht und „Die Hermannsschlacht“ schon gar nicht. Was der tschechische Regisseur Dušan David Pařízek in Leipzig auf die Bühne bringt, auch das Bühnenbild, so weit davon zu sprechen ist, stammt von ihm, ist seine eigene zwölf Jahre alte Kleist-Verstümmelung aus dem Jahr 2007 am Hamburger Schauspielhaus. Schon damals mit nur fünf Spielern, schon damals mit der schräg nach vorn abfallenden, Großparkett simulierenden Spielfläche. Seltsamerweise verschweigen Programmheft und Stückeinführung diese Vorleistung des Regisseurs, dessen tatsächlich nicht leugbarer Ruhm nicht aus Klassikeraufführungen wächst. Seltsamerweise verschweigen Programmheft und Stückeinführung auch die eigenen Leipziger Vorleistungen in der Inszenierungsgeschichte: 1988, nach zwanzig Jahren Abwesenheit von DDR-Bühnen, brachte das Leipziger Schauspielhaus in der Regie von Karl Georg Kayser eine „Hermannsschlacht“, nachdem kurz zuvor das Kleist-Theater in Frankfurt (Oder) eine Aufführung gewagt hatte. Schämt man sich in Leipzig gar eigener Haus-Geschichte? Immerhin erkannte man einst bei Kayser gewisse Anleihen von Claus Peymann, dessen Bochumer Inszenierung von 1982 noch aus heutiger Sicht ein Meilenstein war, was selbst die Kritiker nicht leugneten, die nicht zum Peymann-Fanclub gehörten.

Kleists „Hermannsschlacht“ ist von nur einer Strömung innerhalb der Rezeptionsgeschichte derart nachhaltig aus dem Blick gedrängt worden, dass, wer von ihr spricht, eigentlich nie von ihr spricht, sondern immer davon, wie sie gebraucht wurde, missbraucht. Nach 1945 hätte man das Stück am liebsten aus dem Werk getilgt, es war nur eben leider da. So behalf man sich mit jetzt allenfalls peinlich wirkenden Meidbewegungen, Ausweichmanövern, die vielfältige Formen annahmen: Bände mit Interpretationen klammerten „Die Hermannsschlacht“ einfach aus, Kleist-Bücher vermieden es, die entsprechenden Kapitel so kenntlich zu machen, dass man auf den ersten Blick sah, dass sie von Hermann und Thusnelda handelten. Oder man schrieb des längeren und breiteren über die historischen Umstände, Kleist konnte als geheimer Kurier, als Mitwisser, als sonstwas vorgestellt werden: man umschiffte den Umgang mit dem Text, dessen Grauslichkeiten vorgeblich unerträglich schienen. Als wäre das in anderen Kleist-Texten nicht ähnlich. Wenn die Empörung, etwa angesichts des Umgangs mit der in fünfzehn Teile zerstückelten Hally-Leiche, sich regelrecht überschlug, vergaß man mit verblüffender Folgerichtigkeit die Quelle im Alten Testament, die Kleist benutzt hatte. Wie man überhaupt nahm, was zu passen schien und mied, was das Bild störte.

In Leipzig bekommt der Zuschauer schon in der dritten Aufführung nach der Premiere am 3. Oktober anderes zu sehen als die Premierengäste. Nicht nur, weil sich der Darsteller des Ventidius, Thomas Braungardt, in einer anderen Inszenierung so schwer verletzt hat, dass er auf einer Schräge selbst mit Hilfsmitteln nicht spielen könnte, ihn ersetzt Wenzel Banneyer, sondern auch weil die Musik-Auswahl offenbar nicht befriedigte: von Al Bano und Romina Power las man noch in einer Premierenkritik, die fehlen nun, wenngleich nicht das italienische Liedgut, das für die Römer zu stehen hat in vordergründiger Plumpheit. Wer aus rund 30 Rollen fünf macht, ohne den fünf Mitwirkenden Mehrfach-Rollen aufzubürden, muss eine Radikalkur vollziehen. Es gibt dann kaum noch Dialoge. Für die verbliebenen Hauptrollen, Dirk Lange als Hermann, der Cherusker, Bettina Schmidt als Thusnelda, seine Gattin, bedeutet das: Textaufsagen statt sprachlicher, gar spielerischer Interaktion. Lange kommt in blauem Anzug, weißem Hemd und roter Krawatte und monologisiert. Nach zehn Minuten ist der erste Akt vorbei, resümierte in Hamburg der Kritiker der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Vorher in Leipzig wie in Hamburg Bier, damals Herforder, jetzt Potts in der Bügelverschlussflasche, jetzt gibt es auch noch Jägermeister in der Kleinflasche und das Hamburger Händeschütteln ist an die Pleiße migriert. Und Hally sitzt mitten im Parkett.

Hermann hat keine Gegenspieler, wenn man von Ventidius absieht und vielleicht Varus (Markus Lerch), die freilich auch überwiegend für sich agieren und sprechen. Alle anderen Germanen sind ja gestrichen, es gibt die Politik nicht, die Hermann betreibt. Natürlich muss man die historischen Umstände, wie sie in den alten Quellen überliefert sind, auf die Kleist vermutlich weniger zurückgriff, als Interpreten gern hätten, nicht kennen, wenn man eine „Hermannsschlacht“ auf der Bühne sehen will. Man weiß, dass alle, aber auch wirklich alle nennenswerten Dramatiker, wenn sie mit Geschichte umgingen, sehr frei mit ihr umgingen. Es hat den Stücken regelmäßig eher geholfen als geschadet. Thusnelda ging in Hamburg am Stock, in Leipzig trägt sie ein güldenes Kleid. In Leipzig steht sie kurzzeitig barbusig am oberen Rand der Schräge, Germania und/oder die Freiheit symbolisierend, wie wir sie von Delacroix kennen. In Hamburg, so Max Glauner, „dürfen sich die enttäuschte Thusnelda und ihr Ventidius zum Abschluss vor dem eifersüchtigen Mann nackig ein längeres Bondagespielchen liefern“, in Leipzig ist Thusnelda ein Würgeengel in bekleidetem Zustand, es dauert, bis sie Ventidius tot hat. Der hungrige Bär entfiel da wie hier, wie er überhaupt fast immer zu entfallen hat: wie sollte auch ein Zerfleischen auf offener Bühne gezeigt werden.

Der Text, den der Regisseur belassen hat, bekommt mangels Pausen, mangels Spiel, etwas so Kompaktes, dass tragende Sätze einfach untergehen: Wirkung braucht Zeit, ein zugetextetes Publikum, selbst ein vorgebildetes, ist überfordert, wenn sie ihm nicht gegeben wird. Gerade für das Skandalon „Hermannsschlacht“ wäre eine Inszenierung ja eine Prüfung, nur müssten die skandalösen Stellen eben hörbar sein, sichtbar werden, Sätze muss man sacken lassen können. Noch beim Scheinschluss des Leipziger Spiels ist zu spüren: Teile des Publikums fallen auf das faule Spiel mit Fremdtext herein, dem man nach allen Regeln der herrschenden Korrektheit auf keinen Fall Beifall spenden darf. Ob aber der Ätsch-Effekt von der Rampe ins Parkett eine gute Idee ist, darf man heftig bezweifeln. Ob Björn Höcke im Zitat dem Kleist besser bekommt als einst die höchstselbige Rezension von Alfred Rosenberg und die Dekrete des Reichsdramaturgen Schlösser, darf man heftig bezweifeln. Nur wenn man meint, die deutsche Situation 2019 ist der Situation von 1929 oder 1932 so sehr vergleichbar, dass man auch den alten Agitprop-Lkw kommunistischer Straßentheater-Gruppen wiederbeleben kann, sind die letzten zehn Minuten zur Not ertragbar. Doch gehen jene, die agitiert werden müssen, denn auch tatsächlich in die Theater der Republik?

Der Kleist-Preisträger des Jahres 1915, Kleist-Herausgeber des Jahres 1922, Arnold Zweig, schrieb in seinem noch immer mit Gewinn lesbaren „Versuch über Kleist“ neben Nachdenkenswertem über die „Hermannsschlacht“ auch dies: „Weil wesentlich auf eine Menge zielend, ist das Drama nicht vorwiegend intellektuell gegründet. Es wendet sich an den ganzen Menschen als potentiellen Träger der Menge und an das verbindende Gefühl in jedem, nicht an den isolierten und isolierenden Intellekt. Es handelt daher nur in Sonderfällen Probleme ab, es will Schicksale gestalten und also keine Angelegenheit bloß Gebildeter sein, kein Literatenerzeugnis, sondern das eines homogenen Publikums, im Idealfall eines Volkes.“ Zweig zielt knapp hundert Jahre später immer noch auf eine gängige Theaterpraxis, auf eine vielleicht sogar viel dreister und bezogen auf Publikum rücksichtslosere Theaterpraxis, einbezogen auch die gar nicht so kleine berufskritische Gefolgschaft dieser Theaterpraxis. So ist es dem postmodernen Anspielungsliebhaber womöglich ein mittleres Vergnügen, im finalen Agitprop-Teil selbst die DDR-Nationalhymne mit verquirlt zu finden mit ganz anders besetztem Text- und Liedgut: wem aber ist das gewärtig, wer findet das „witzig und spannend“? Nicht einmal das „Problem“, ob der Zweck die Mittel heilige, ist ein guter Theater-Plot.

Manches in der Inszenierung ist, für sich genommen, ganz niedlich: „Einigkeit und Recht und Freiheit“ zur eingespielten Mandoline, die Thomas Braungardt live gespielt hätte, wenn er hätte spielen können. Manches ist so vordergründig, dass es quietscht: Ich hab NEIN gesagt – MeToo im Teutoburger Wald von den Lippen Thusneldas. Dass Hermann und der Rat Eginhardt (Julian Kluge), um den Abend nicht vollends zum Schrägsteh-Bankett verkommen zu lassen, Dialoge mit fiktiven Partnern in verschiedenen Dialekten sprechen und spielen, befriedigt vielleicht die in die Jahre gekommene Generation Spaßgesellschaft, es gibt was zu kichern, wozu man ja bekanntlich vor allem in ein staatlich subventioniertes Theater geht. Hat es mit Kleist zu tun? Muss es? Dafür sitzt im Parkett ein Mädchen, das angesprochen wird: Hally heißt du? - und dann auf die Bühne geholt wird, dann über die Schulter geworfen wird und lange zu schreien hat, bis sie (hinter der Bühne natürlich) „zerstückelt“ wird für die fünfzehn Stämme, die motiviert werden müssen für den Volkskrieg gegen die Römer. Hally steht nicht im Programmheft. 20.39 Uhr verließen einige der Zuschauer den Saal, lösten damit aber keine Volksbewegung aus. „Freiheit! Freiheit!“ brüllt es und „Der Römer muss weg!“ Gottchen, Gottchen! Schlimmer geht immer. Das lehrt der Abend.
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