Nur vier Monate später*
Erinnern Sie sich noch an den kleinen Jungen in Sebnitz, den Neonazis vor den Augen einer wegsehenden Menge im Schwimmbad ertränkten? Die Medien aller Couleur, auch die, die ihre Seriosität und Weltbedeutung wie im Bauchladen vor sich herschleppen, brauchten gar nicht lange zu recherchieren. Die Story schrieb sich von selbst. Alles passte, alles rundete sich, man konnte weiterdrehen, wie der einschlägige Jargon heißt. Nur eins passte nicht. Weder ein Neonazi noch sonst jemand hatte den Jungen ertränkt. In solchen Momenten starrt man in Edelmedien ungefähr dreizehn Sekunden betroffen in den Rasierspiegel und dann gilt die Hausregel: Nichts ist so alt wie die Zeitung von gestern. Manchmal veranstalten ein paar alte Säcke noch ein Kolloquium über die Moral in der Presse, wobei sie meist Ethik sagen, weil das besser klingt. Das freilich nur für die Referenten wegen der Honorare interessant ist. In der Kleinstadt Gehren, die einst ein Schloss hatte und ein Amtsgericht und vor Arnstadt und Ilmenau Kreisstadt war, ehe es diesen Status überhaupt gab, hat ein junger Mann sich einen ziemlich dämlichen Spaß daraus gemacht, zum Fasching mit einer ziemlich dämlichen Hitlermaske umherzulaufen und eine ziemlich dämliche Jury hat das prämiert. Von der weiten Welt hat das niemand mitbekommen, weil die einschlägige Faschingsveranstaltung selbst bei einheimischen Medien als nicht besuchenswert gilt. Dann gab es eine völlig missratene Presseerklärung der Veranstalter, die sich öffentlich für etwas entschuldigen wollten, was die Öffentlichkeit gar nicht kannte. Und es gab eine stille Übereinkunft, es genau dabei zu belassen. Nicht, um der weiten Welt den umfassbaren Skandal vorzuenthalten, an den sich nur mutige junge Journalisten wagen, sondern mangels Gewicht des Vorgangs. Mit Verspätung kam die Geschichte dann doch noch ans Licht der Öffentlichkeit und nur vier Monate später macht das Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL daraus eine ganze Seite. Hut ab. Sogar die San Diego Union Tribune weiß jetzt, dass Gehren eine Stadt ist, in der man Hitler-Masken trägt. So sind diese Ostdeutschen eben. Kaum nimmt man ihnen ihre Plüschfabrik und lässt sie ungehemmt wieder in Windeln kacken, schon werden sie so. Ich liebe meinen Beruf.
* zuerst erschienen: Freies Wort, 29. Juni 2002, Wiederabdruck in: Eckhard Ullrich:
Ein Kreis mit Ecken und Kanten, Escher Taschenbuch 2004