Rainer Maria Rilke 150
Wenn ich auf meiner eigenen Website den Namen Rilke eingebe, lande ich bei 29 Treffern in den Jahren 2012 bis 2025. Nur Treffer 19 ist ein zusammenhängender Text zu ihm, geschrieben und öffentlich gemacht anlässlich des 90. Todestages am 29. Dezember 2016. Es ging um den Band „Geschichten vom lieben Gott“, wer mag, kann das nachlesen. Unter meinen Notizen mit Blick auf den heutigen runden Geburtstag stoße ich auf die folgende: „War Rainer Maria Rilke ein Putin-Versteher? Die Frage ist so dämlich, dass sie nach Ausrufung der Zeitenwende durch einen bald vergessenen Kanzler der Bundesrepublik Deutschland vermutlich irgendwo schon gestellt wurde. Schließlich haben Menschen beiderlei Geschlechts und darüber hinaus schon Dostojewski aus Lehrplänen verbannt, obwohl sie mit Professoren-Titel einhergehen und nicht mit Narrenkappe und Schellen.“ Schade, dass das kein Tabu-Bruch ist, eine Provokation auch nicht so recht. Es ist halt so, dass es ein ziemlich dickes Buch gibt mit dem Titel „Rilke und Russland. Briefe Erinnerungen Gedichte“. Herausgegeben hat das ein gewisser Konstantin Asadowski, von dem ich nichts weiß, erschienen ist es im Aufbau-Verlag Berlin und Weimar 1986, man könnte es rückblickend dem 60. Todestag Rilkes zuordnen. Vorn sind fast 80 Seiten Einleitung, hinten ein Apparat, von dem sich selbst manche vermeintlich wissenschaftliche Publikation saftige Scheiben abschneiden könnte.
Man stößt bei Schritt und Tritt auf den Namen Lou Andreas-Salomé. Bei dem könnte man gut verweilen, auch wenn man umgehend Rilke dabei vergäße. Rilke aber, nicht vom Thema ablenken, war sogar in der Lage, Briefe in russischer Sprache zu verfassen. Rilke liebte Russland „wirklich wie eine Heimat“. Steht gleich oben im Klappentext und auch in der DDR wussten Verleger, dass man Leser neugierig machen muss: deshalb sind unter anderem Briefe an Boris Pasternak, an Lew Tolstoi und Marina Zwetajewa angekündigt. Man genieße diese subtile Reihenfolge: Pasternak vor Tolstoi! Zu ihm wie auch zu Marina Zwetajewa musste sich die kleine DDR in ihren späteren Jahren halbwegs mühsam hinarbeiten, für die Zwetajewa fiel eine dreibändige Ausgabe ab (Verlag Volk und Welt Berlin 1989), für Pasternak gab es so viel Raum nicht. Aber immerhin: es erschienen „Initialen der Leidenschaft“ 1973 in der „Weißen Reihe“ des genannten Verlages schon in zweiter Auflage, 1986 folgte bei Reclam Leipzig „Luftwege. Ausgewählte Prosa“. Rilke stand, im Erbe-Verständnis der DDR, das bisweilen schräge Wege ging, wenn es galt, Werke und Autoren unter die ummauerten Leser zu bringen, auf seltsame Weise in den frühen Vorstufen der deutsch-sowjetischen Freundschaft. Die Abbildungen im 660-Seiten-Buch zeigen Ansichtskarten aus Rilkes Besitz, ein Foto hat Boris Pasternak mit Rilkes Bändchen „Neue Gedichte“ in der Hand, Jahreszahl dazu 1933.
Womit ich bei Insel gelandet bin. Der Insel-Verlag, bis heute existent, eröffnete seine, ich darf wohl sagen: legendäre Insel-Bücherei mit „Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke“. Bei Sammlern, also richtig echten Sammlern, stehen von dieser Nummer 1 ganz sicher mehrere Exemplare der in 1A und 1B sortierten Auflagen, die schon 1959 die Millionenmarke knackten. Das Büchlein kam in Leipzig, Wiesbaden, Frankfurt am Main heraus, auch als Reprint, Leipzig versuchte es 1987 noch mit einem Anhang und einem Nachwort. Mein altes Exemplar gehört zum 551. - 600. Tausend, manch Büchner-Preisträger würde sicher das Preisgeld gespendet haben, wenn als Belohnung solche Auflagen winkten. Die späte, erweiterte DDR-Auflage aber hat ein Nachwort von Horst Nalewski (26. Januar 1931 – 29. Januar 2020). Wer den nicht nennt im Zusammenhang mit Rilke, sollte sich hinter dem nächstbesten Vorhang verstecken und zwar so, dass unten auch nicht die Fußspitzen herauslugen. Nalewski hat Nachworte, Vorworte, Einleitungen, Aufsätze, eigene Bücher zu Rilke publiziert, darunter eine weit verbreitete Bild-Biographie im Leipziger VEB Bibliographisches Institut. Für drei Bände DDR-Rilke war er verantwortlich, für zwei Bände Briefe im Nachgang und auch nach 1989 geriet seine außerordentliche Rilke-Kompetenz nicht in Vergessenheit. Dagegen spricht nicht der neue Clemens J. Setz, der den alten Fritz J. Raddatz lobt.
Wer also ordentlich Insel-Bücher gesammelt hat, ist im Besitz eines durchaus beachtlichen Werks. Wer zusätzlich Briefbände sammelt, weil er einfach Briefe lieber liest als diese ewigen Romane, von denen ja Rilke glücklicherweise nur einen hinterließ, den „Malte“, wie er von seinen Fans liebevoll genannt wird, der hat rasch einen Stapel vor sich von höchstem Interesse. Und kann sich in diesen Mann vertiefen, indem er auch seinen Untiefen nicht aus dem Weg geht. Wenn er Quartier oder Geld oder beides brauchte, und das war sehr oft der Fall, dann hatte er allzeit Gönnerinnen in seinem Adressbuch, an die er sich wenden konnte. Er war ein Meister des Briefschreibens in dem Sinne, dass er traumwandlerisch den Ton fand, der nötig war für jede einzelne Gönnerin, für jeden Briefpartner im „normalen“ Gedankenaustausch. Er konnte sich inszenieren als das Genie in der Einsamkeit usw. usf. Man lese im Kontrast die Briefe an Hertha König oder Inga Junghanns, die „Briefe an einen jungen Dichter“, die „Briefe an eine junge Frau“. Es gibt einen dicken Band „Briefe an Schweizer Freunde“, seinerzeit von Rätus Luck im „Suhrkamp Weißes Programm Schweiz“ erschienen, Briefwechsel mit Mathilde Vollmoeller, mit Claire Goll, mit Hugo von Hofmannsthal, mit André Gide und, in meiner Sammlung fast am längsten vertreten, der mit Rolf Freiherr von Ungern-Sternberg. Wer braucht da noch „Sonette an Orpheus“, „Duineser Elegien“?
Exemplarisch für Bedarfsstau ein Portrait von Burkhard Müller, der in sechs Tagen Geburtstag feiert, ein schreibender Baby-Boomer, wie man diese Männer und Frauen jetzt nennen muss, um verstanden zu werden. Müller schrieb „Rainer Maria Rilke oder Der Fluch des Virtuosen“, zu finden in seinem Buch „Lufthunde“, das ich bisweilen mit Gewinn zur Hand nehme, denn er hat auch über Irmgard Keun geschrieben, über Wilhelm Busch und Christian Morgenstern. Da stehen Sätze wie: „Ein überaus elegantes Gebilde; also zu wenig für ein Gedicht.“ Oder: „Rilke ist der Künstler der Gebärde, wenn es je einen gab. Die Gebärde markiert ein Tun, ohne dass es aber zustande kommt, und darum fällt ihr alles gleich leicht.“ Es liegt auf der Hand, dass Müller nicht zum harten Kern des Rilke-Fanlagers gehört. Man muss freilich darauf hinweisen, dass ihm die Prosa Rilkes keiner Erwähnung wert war. Mich zum Beispiel freut es sehr, wenn mir meine Tochter vom Schloss Duino ein Foto mit Rilkes Arbeitszimmer zukommen lässt. Es ist gut, wenn man Töchter hat, die auf solche Weise ab und zu an ihren alten Vater denken. Der ja auch solche Fotos sehr gern macht, wenn ihm prominente Orte unterlaufen auf Reisen. Und der in seinen Altbeständen auf ein Heft „Temperamente. Blätter für junge Literatur“ stößt, es ist die vierte und letzte Ausgabe des Jahres 1980. Dort präsentierte Horst Nalewski in der Rubrik „Vorrat“ Rainer Maria Rilke.
Diese Rubrik wurde seit Heft 1/1976 gepflegt, einmal nur fiel sie aus. Nalewski scheute die kleine Kesselpauke nicht: „1. Rilke?! Ja. Rilke. Mir scheint, dass wir – immer noch und leider – Autoritätsbeweise benötigen, um einem Fremden, einem Problematischen, einem einmal Abgetanen gegenübertreten zu können und auch zu wollen.“ Die Autorität, die von Rilke wenig hielt, hieß Brecht. Autoritäten, die ihn freundlicher sahen, hießen Fürnberg und Becher, Georg Maurer und Stephan Hermlin. Die Leser der „Temperamente“ bekamen als Appetithäppchen gereicht: „Der Auszug des verlorenen Sohnes“, „Archaischer Torso Appollos“, „Fragment einer Elegie“, „Imaginärer Lebenslauf“, Auszüge aus „Sonette an Orpheus“, „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ und „Über den Dichter“. Es sind schlechtere Zusammenstellungen denkbar. 1975, also vor 50 Jahren, also anlässlich des 100. Geburtstages von Rilke, schrieb Horst Nalewski für die „Weimarer Beiträge“ (XXI. Jahrgang, Heft 12) dies: „Ein Jubiläum kann zum Eingeständnis langandauernder Versäumnisse werden, also schlechten Gewissens; auch zu einer unumgänglichen Pflichtübung – was freilich die Hoffnung aufkommen ließe: So verstandene Pflicht ahnt etwas von der Abhängigkeit eigener Wertschätzung ...“. Im Eiskunstlauf galt lange die Pflicht als das Höchste, die besten Kürläufer/innen hatten stets das Nachsehen hinter allen Meistern des Kurvenkratzens.
Am Ende werden wahrscheinlich keine Kämpfe ausgetragen werden müssen zwischen denen, die Rilke für einen großen, und denen, die ihn für einen ganz großen Dichter halten. Der größte war er sicher nicht, wobei sofort der Streit beginnen dürfte, wer auf den Plätzen vor ihm einläuft. In der Rubrik „Vorrat“ kam auch Schiller erst kurz vor Rilke, vorn dran war mehr Sozialismus. In der Hamburger „Zeit“ durfte kürzlich der in allen Feuilletons zeitweise überdimensional belobigte Norweger Karl Ove Knausgård offenbaren, dass Rilke ihn ein Leben lang begleitet, ja ihn zum Schriftsteller gemacht habe. Knausgård ist 1968 in Oslo geboren, man kommt nicht sofort auf die Idee, ihn nach Rilke zu befragen, denn sechsbändige Romanzyklen waren dessen Sache eben nicht, siehe oben. Die „Zeit“ ist auf die Idee gekommen, wofür ihr zu danken wäre, doch Dank aus Gegenden, für die sie eigens den Lokalteil „Zeit im Osten“ erfand, wird ihr kaum wichtig sein. Man könnte, eigener Vorschlag, Rainer Maria Rilke auch als Prager sehen. Dort ist er geboren just am 4. Dezember 1875 und die Prager deutschsprachige Literatur, soweit sie behandelt wird, ist nicht übergriffig ihm gegenüber, wenn sie ihn sich einverleibt, so lange er denn schließlich in seinem wenig langen Leben auch gar nicht mehr dort war. Rilke steht da neben durchaus illustren Namen. Kafka immer zuerst, aber eben auch Kisch, Werfel, Meyrink, Natonek, Winder, F. C. Weiskopf.
Max Brod schreibt ihm in „Der Prager Kreis“ (Suhrkamp Taschenbuch 547) dies zu: „Rilke gebührt das Verdienst, zum erstenmal Angelegenheiten, die dem tschechischen Volk Herzenssache waren, mit tiefstem Anteil, sozusagen ganz aus der Nähe durchgefühlt zu haben … Rilke ersetzt einen großen Teil der mangelnden Sprachvertrautheit durch seine nachtwandlerische Einfühlung in das slawische Element, die ihn schließlich nach Russland führt.“ In seiner Autobiographie „Streitbares Leben“ verrät Brod, nachdem er sich an eine Lesung Rilkes im Spiegelsaal der „Concordia“ erinnert hat: „Übrigens bin ich nur dieses eine Mal mit ihm zusammengetroffen; und auch da habe ich den verehrten Mann nur von fern erblickt; nicht mit ihm gesprochen. Ich sehe sein blasses, mageres, mongolisch wirkendes Gesicht, den herabhängenden Schnurrbart, im Gedränge nach dem Vortrag gleitet Rilke mit vielen anderen an mir vorbei.“ Hand aufs Herz: wie viele andere Autoren hätten die Chance ergriffen, das Einmalige aufzubauschen, zumal es schwer überprüfbar gewesen wäre? Zum Schluss, hier stehe ich und kann nicht anders, noch Arthur Eloesser: „Rilke, weil er ein Sänger war, konnte die seltene Stunde nicht abwarten, und in der späten Stunde der Weisheit singt man nicht mehr von seinen Liebesnächten.“ Der 1870 Geborene hat dem fünf Jahre Jüngeren nicht so viel Platz gegeben wie er Thomas Mann gab. Darauf wird zurückzukommen sein, wenn es passt.