Harald Gerlach: Jungfernhaut

Was der Titel des neuen Buches von Harald Gerlach meint, enthüllt sich erst auf der letzten Seite: „Was damals war, läßt sich nicht mehr herstellen. Wir wissen zuviel. Die Unschuld ist verloren. Keiner gibt uns die Jungfernhaut zurück.“ Hält man dagegen das Motto, das der Autor seiner Novelle vorangestellt hat, es stammt von Goethe und lautet: „So gib mir auch die Zeiten wieder, / Da ich noch selbst im Werden war“ - dann spürt man ein Spannungsfeld und die scheinbar eindeutige Wahrheit des Endes verwandelt sich in eine fragwürdige, also des Fragens würdige Bilanz. Es sind drei Männer und drei Frauen, die sich nach dreißig Jahren wieder an einem Ort versammeln, an dem die Männer und eine der Frauen einen prägenden Teil ihrer Kindheit verbracht haben.

Der Ort ist ein einzelnes Gehöft in der Nähe eines Dorfes, in das die Kinder als Angehörige eines Flüchtlingstrecks damals kamen. Sie blieben als widerwillig geduldete, bisweilen unverhohlen feindselig aufgenommene Fremde und sie blieben isoliert. Hunger war das allgegenwärtige Siegel der Zeit und die Kinder fanden sich im täglichen Kampf gegen diesen Hunger zu einer verschworenen Gemeinschaft, einer Gemeinschaft der Selbstbehauptung, einer Schutzgemeinschaft und nicht zuletzt einer Versorgungsgemeinschaft. Diebstähle gehörten zu ihren Unternehmungen und der alte Musketier-Spruch „Einer für alle, alle für einen“. Von dieser Gemeinschaft ist nach dreißig Jahren nichts mehr übrig. Karin, die unumschränkte Anführerin von einst, ist nicht einmal angereist.

Die anderen, alle in intellektuellen Berufen, Lehrer, Wissenschaftler, Malerin und Journalist, finden sich weit entfernt von ihren alten Idealen, finden sich jeder mit sich selbst beschäftigt, in ganz oder fast zerbrochenen Ehen. Der Journalist mußte nach einem Parteiverfahren seine Redaktion verlassen, er fühlt sich ungerecht behandelt und hat den Hof der Kindheit verkauft, um seinem Groll zu leben. Von ihm ging die Initiative zu dem Treffen aus, doch die Hilfe, die er uneingestanden erwartet, findet er nicht, nicht einmal wirkliches Verständnis findet er. Der Hof brennt am Ende ab, man trennt sich und es wird für immer sein. Die eingangs zitierte Bilanz aber stammt aus dem Munde von Karin, die keine hohe Funktion mehr bekleidet, wie die anderen glauben, die allein in einer Wohnung lebt, in die sie als Untermieterin zog, die Alkoholikerin geworden ist.

„Jungfernhaut“ ist Harald Gerlachs achtes Buch im Aufbau-Verlag, es ist, wie ich glaube, neben dem Erzählungsband „Vermutungen um einen Landstreicher“, sein bisher stärkstes. Es nutzt die eingesetzten Mittel souverän, anders als der Roman „Gehversuche“ zum Beispiel, der ihm voranging, und es baut auf einen urteilsfähigen Leser. Ohne durch den Autor an den Nasenring genommen zu werden, muß er den Monologen, aus denen die Novelle besteht, sein eigenes Bild gewinnen, jede Identifikation mit den Aussagen einer der Figuren der Novelle, so vernünftig sie bisweilen auch klingen, führt in die Irre, sind sie doch alle so angelegt, daß sie sich gegenseitig sowohl ergänzen als auch relativieren, daß sie sich widersprechen wie auch sich aufheben. Lediglich einige wenige visionäre Passagen wie auch der einmalige Einsatz von diffusen „Stimmen“ scheinen mir überzogen, Theaterdonner, aber Harald Gerlach war ja lange am Theater. Die Unnachsichtigkeit mit Menschen seiner Generation, Gerlach ist Jahrgang 1940, bezieht sich vorerst auf die Bestandsaufnahme, der nächste Schritt wäre die Ergründung des Weges bis zum aufgezeigten Punkt. Den hat der Klappentext allerdings nicht versprochen.
 Zuerst veröffentlicht in TRIBÜNE Nr. 35, Seite 13, 19. Februar 1988, unter dem   Titel:Später Abschied von den Idealen der Kindheit; nach dem Typoskript

Harald Gerlach zählt mittlerweile zu den gestandenen Autoren seines Jahrgangs (1940), seit 1973, als er mit dem Gedichtband „Sprung ins Hafermeer“ debütierte – davor lag noch ein Poesiealbum – sind in unterschiedlichen Abständen sieben Bücher von ihm erschienen, das achte, die Novelle „Jungfernhaut“, liegt jetzt vor. Daß es sich rasch liest, liegt nicht nur an der leserfreundlichen Typographie, die der Verlag gewählt hat. Gerlach weiß als langjähriger Theatermann um Dramaturgie, er baut Spannung auf und löst sie auch. Theatralisch geht es nur ganz selten zu, wenngleich ich nicht verheimlichen will, daß manches Vorausdeuten dann doch zu sehr dramatisiert, was augenscheinlich wird, wenn das Ganze überschaubar ist. Worum geht es?

Sechs Menschen treffen sich an einem Platz nach dreißig Jahren wieder, mit dem vier von ihnen unauslöschliche Erinnerungen verbinden, Erinnerungen an eine aufregende, abenteuerliche, heroische, ihre Schwere in den Hintergrund drängende Kindheit nach dem Krieg. Sie waren Umsiedlerkinder, mit ihren Familien widerwillig im Dorf aufgenommen, Feindseligkeiten ausgesetzt, schlimmen Verdächtigungen und dem Hunger jener Jahre. Not und Widerstandswille schweißte sie zusammen. Diebstähle linderten den Hunger. Unangefochtene Führerin der Gruppe war damals Karin, geliebt, beneidet und bewundert von den anderen. Anne und Gerd, Malerin sie, Journalist er, leben jetzt auf dem alten Hof, weil Gerd seine Arbeit bei der Zeitung aufgegeben hat nach einer Auseinandersetzung, die er nur als Ungerechtigkeit begreifen kann.

Er lädt die alte Gruppe zu dem Wiedersehen ein, es kommen Dieter und Marga, Henner und Reni. Doch die alte Zeit ist vorbei, der Wahlspruch der Musketiere „Einer für alle, alle für einen“ hat für sie keine Gültigkeit mehr. Eher könnte über dem Treffen stehen „Jeder für sich und jeder gegen jeden“. Harald Gerlach gibt das Geschehen, indem er die Teilnehmer der vergeblichen Vergangenheitsbeschwörung abwechselnd selbst zu Wort kommen läßt nach kläglichem Ende. Die Aussagen ergänzen sich gegenseitig, relativieren sich, widersprechen sich, keine Stimme kann für sich die objektivierte Wahrheit beanspruchen. Die wird in die Hand des Lesers gegeben, er muß sich sein Urteil selbst bilden, wobei es wohl auf den Standort des Lesers, auf seine eigene Haltung entscheidend ankommt.

Einzelne Motive, die in Gerlachs letztem Buch, dem Roman „Gehversuche“, bereits eine Rolle spielten, erscheinen in „Jungfernhaut“ wieder, so das Bild von den Masken, die Leere verbergen, der Wunsch zu fliegen als Sinnbild für höchste Selbstverwirklichung, für menschlichstes Sein. Wenn aber im Roman die Flugversuche einen gestalteten Kontrapunkt zu den im Titel apostophierten „Gehversuchen“ der kritisch-satirisch gezeichneten Hauptfigur bildeten, ist in der Novelle auf dieses Gestaltungsmittel verzichtet. Es folgt sogar nach dem äußerlichen Ende des Treffens – das alte Haus brennt aus, die Desillusionierung endgültig vollendend – erst die Stimme der Karin: sie ist nicht mehr in hoher Funktion, sondern Alkoholikerin. Die Negativ-Bilanz ist scheinbar vollkommen.

„Im Herkommen ist die Richtung angelegt, die wir weitergehen“, sagt der Wissenschaftler Dieter. Und die Malerin Anne: „Ich denke, ich habe nie aufgehört, auf dem Treck zu leben.“ Bleibt also immer ein Flüchtling, wer einst einer war? Mir will scheinen, als ob die Hauptillusion dieser Männer und Frauen aus Gerlachs Generation darin liegt, daß sie Unmögliches wollen. Der schon zitierte Wissenschaftler Dieter sagt auch: „Ab dreißig ist jeder für sein Gesicht selbst verantwortlich.“ Die Figuren der Novelle aber sind jeder für sich aus der Verantwortung für sich selbst geflohen und das ist kein Generationsproblem. Wohl aber ein Anspruch an Harald Gerlachs Leser.
 Zuerst veröffentlicht in BERLINER ZEITUNG, Nr. 106, Seite 7 am 5. Mai 1988 unter
 dem Titel: Auf der Flucht vor der Verantwortung; nach dem Typoskript


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