Gutachtologie

Es gibt Gutachten und es gibt unabhängige Gutachten. Gutachten sind umfangreiche teure Schriftstücke, die Lügen das Gewicht von wissenschaftlichen Tatsachen verleihen. Die Gutachten werden bezahlt und spiegeln daher die Meinung derer wider, die sie bezahlen. Bei unabhängigen Gutachten ist das anders. Sie sind zwar ebenfalls umfangreich, aber keinesfalls teuer, denn sie werden offenbar nicht bezahlt. Oder wenn sie bezahlt werden, spiegeln sie nicht die Meinung derer wider, die sie bezahlen.

Habe ich da irgendetwas falsch verstanden? Beginnen wir  differenzierter: Diejenigen, die mit dem Inhalt eines Gutachtens nicht einverstanden sind, weil in ihm nicht das steht, was sie selbst denken, bevor sie überhaupt lange nachgedacht haben, denken sich die Verfasser des Gutachtens als bestechlich und darum rufen sie nach einem anderen Gutachter. Sie durchstöbern einschlägige Informationsquellen so lange, bis sie einen Gutachter gefunden haben, der höchstwahrscheinlich exakt das aufschreiben wird, was sie selbst schon immer dachten. Denn an gutachterlicher Überzeugungskraft soll es dann doch nicht mangeln.

Die Unabhängigkeit des zweiten Gutachtens besteht darin, dass es nicht von denen bezahlt wird, die das erste Gutachten bezahlt haben. Jede andere Definition würde bedeuten, dass die Rückführung der Wertlosigkeit des ersten Gutachtens auf sein Bezahltwordensein eine falsche Annahme wäre. Denn zur Überraschung aller Freunde des zweiten, des per Definition also unabhängigen Gutachtens, schicken auch dessen Verfasser mit gnadenloser Folgerichtigkeit und zeitnah, wie es heute so nett und blöd heißt, eine Rechnung mit Fälligkeitsdatum. Da das Renommee eines Gutachtens also von der Höhe der am Ende des Schriftsatzes rechts unten stehenden Summe inklusive Mehrwertsteuer in direkter Abhängigkeit stehend betrachtet werden muss, unabhängig davon, ob es abhängig oder unabhängig verfasst wurde, das heißt, ob es bezahlt wurde oder ob es bezahlt wurde, wird auch dieses Gutachten teuer sein.

Es wäre schließlich zu schön, wenn eine Art von Discount-Gutachterei zu einem Verdrängungswettkampf führen würde. Wenn also etwa der Anbieter unabhängiger Gutachten über die Schädlichkeit von Brücken in beliebigen Landschaften diese Gutachten im Paket preiswerter machen würde, falls wir ihm auch noch ein Gutachten über die Schädlichkeit von Leberkäse für norddeutsche Mägen und über die Schädlichkeit von Hirn für Gedanken-Äußerer abnähmen.
 
Nun gibt es zwar Untersuchungen darüber, dass die Einnahme von hochdosierten Hustenlösern nur dadurch hustenlösend wirkt, dass man den Hustenlöser mit sehr viel Flüssigkeit aufnimmt, woraus sich folgern ließe, dass die Einnahme von sehr viel Flüssigkeit zwar gegen den Husten, nicht für die Gewinnerzielung des Apothekers gut ist. Keinerlei Untersuchungen aber sind mir bekannt, in denen ermittelt wird, ob es schon je ein unabhängiges Gutachten gab, das etwas anderes feststellte als das, was sein Auftraggeber hören und lesen wollte.
 
Es gibt auch keine Untersuchungen darüber, ob es sinnvoll wäre, auf Lesetournee gehende unabhängige Gutachter in die Künstlersozialkasse aufzunehmen, weil sie ja vom Vortrag leben wie vom vorherigen Aufschreiben des später Vorzutragenden, mithin Ähnliches tun wie Dieter Hildebrandt. Der gravierende Unterschied zwischen Hildebrandt und dem unabhängigen Gutachter freilich, der darin besteht, dass der Gutachter keinen dummen Witz über Eva Herman in seine Rede einflechten muss, darf an dieser Stelle vernachlässigt werden.
 
Ich bin, um meine etwas theoretisch gebliebene Gedankenführung nutzanwendendlich abzuschließen, der Meinung, dass auf alle Fälle alles schädlich ist, was in einem unabhängigen Gutachten als schädlich bezeichnet wird, während alles, was in einem ersten Gutachten für unbedenklich erklärt wird, wahrscheinlich noch viel gefährlicher ist, als es ein zweites Gutachten zum Ausdruck bringen können würde.
 Zuerst veröffentlicht in: Ullrichs Ecke, 3. November 2007


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