Hofmannsthal: Blicke

Hugo von Hofmannsthal gehörte nicht zu jenen, die sich gleichgültig über den Leser erhoben: „Denn eine Gabe kann nicht dargereicht werden, ohne dass zum Voraus des Empfängers gedacht werde.“ In schöner Missachtung der ach so nüchternen Mengenlehre beendete er sein Vorwort zur ersten Auflage seines „Deutschen Lesebuches“ mit dem Satz: „Denn ein Buch ist zur größeren Hälfte des Lesers Werk, wie ein Theater des Zuschauers.“ Uneingeschränkt gilt das auch für die Essays, die jetzt in einer durch den jungen Germanisten Thomas Fritz besorgten Auswahl bei Reclam erschienen sind. Besitzer der tausendseitigen Insel-Dünndruckausgabe „Ausgewählte Werke“ (1975) dürfen sich freuen: die leidigen Überschneidungen, die sonst zu häufig Anlass zum Ärger bieten, sind hier fast gänzlich vermieden, lediglich der als „Chandos-Brief“ schon historisch gewordene Text aus dem Jahre 1902 ist in beiden Ausgaben aufgenommen und das ist vollauf berechtigt.

Hofmannsthal hat sich neben seinem lyrischen, seinem dramatischen, seinem erzählerischen Schaffen immer auch publizistisch-kritisch betätigt. Vielfältig waren die Anlässe, denen er sich widmete und selbstsicher im Urteil gab sich schon der 17järige. Auffallend oft stellte er sich in den Dienst von Autoren und Werken und sie erscheinen „in der Schilderung Hofmannsthals überaus verlockend: verlockend durch ihre Kurzweiligkeit, Schönheit und blutvolle Realistik; verlockend durch den in Aussicht gestellten Reiz“ (Fritz). Balzac und Shakespeare, Grillparzer und Stifter, Jean Paul und Lessing, um nur einige Namen zu nennen, erstehen in den Essays und Reden. Das ist ein faszinierender Vorgang: sie erstehen durch Sprache, durch Hofmannsthals Sprache. Deshalb ist das Buch auch ein Plädoyer für die deutsche Sprache: sie ist nicht ohnmächtig, sie ist reich, sie ist ausdrucksfähig. Thomas Fritz hat als Herausgeber auch ein Nachwort geschrieben, das zur Auswahl passt. Es ist selbst ein Kunstwerk. RUB 1177, 3 Mark)
Zuerst veröffentlicht in: Tribüne, Nr. 248, Seite 14, am 18. Dezember 1987, nach dem Typoskript


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