Nichts langweiliger als Glück

„Ich kann mich hier nicht lang und breit darüber auslassen, was mir jene einzig dastehende Arbeit des liebenswürdigen Schlesiers so lieb und wert macht; der Taugenichts ist after all nicht mehr und nicht weniger als eine Verkörperung des deutschen Gemüts, die liebenswürdige Type nicht eines Standes bloß, sondern einer ganzen Nation. Kein andres Volk hat solch Buch. Ein Buch aber, in dem sich vor einem, auf wenigen Blättern und mit der Naivität eines Märchens, die tiefsten Seiten unseres Lebens erschließen, ein solches Buch muß was Apartes sein.“An Paul Heyse gerichtet schrieb dies Theodor Fontane am 6. Januar 1857 und Joseph von Eichendorff, der Schöpfer des gerühmten Büchleins vom „Taugenichts“, lebte noch, lebte in Neiße bei seiner Tochter.

Solche Urteile schreiben sich fort: „... es ist überzeugend und exemplarisch deutsch, und obgleich sein Format so bescheiden ist, möchte man ausrufen: Wahrhaftig der deutsche Mensch!“ Thomas Mann war es, der mit feinem Urteil eine Neuausgabe des „Taugenichts“ mit Illustrationen von Emil Preetorius besprach im Kriegsjahr 1916 und sich hinreißen ließ in mehrfacher Hinsicht. Und schließlich, 1940, Georg Lukacs: „... ein genialer Griff des Dichters, der so tiefe Gefühlsmomente des deutschen Volkes erfaßt, daß seine Beliebtheit bis heute unerschüttert blieb. Im 19. Jahrhundert gibt es wenige deutsche Charakterentwicklungen, in denen der „Taugenichts“ nicht eine bestimmte Rolle gespielt hätte. Er ist und bleibt eine der meistgelesenen, der am meisten geliebten deutschen Bücher. Freilich vorwiegend auf einer bestimmten Entwicklungsstufe: in der Jugend.“

Solche Urteile schreiben sich fort. Da ist es schön, daß, fern vom deutschen Gemüt, an der Quelle noch der bengalischen Kurzgeschichte nachgelesen werden kann: „Nun haben Taugenichtse einen Vorteil: Wenn auch ihre eigne Familie nichts für sie übrig hat, so sind sie doch meist bei allen Leuten beliebt. Da sie durch keine Arbeit angebunden sind, werden sie zum Allgemeinbesitz.“ Rabindranath Tagore schrieb das und sah das so in „Subha“, 1893 entstanden, und erweiterte sogleich: „Gerade wie eine Stadt einen freien Platz braucht, auf dem jedermann Atem schöpfen kann, so braucht ein Dorf zwei oder drei Müßiggänger, die Zeit für alle haben; denn wenn wir selber eben mal faul sind und einen Gefährten brauchen, ist dann einer zur Hand.“

Zur Hand ist auch Joseph von Eichendorffs Taugenichts unbeirrt, wie nur je zieht er aus seinem Dorf in die Welt hinaus seinem Glück zu und es ist ihm „wie ein ewiger Sonntag im Gemüte“. Kaum ist er um die nächste Ecke, nimmt er schon den erstbesten Dienst und als er seinen Kreis gegangen ist, steht er am Fenster mit seinem holden Liebchen, knackt die aus Italien mitgebrachten Knackmandeln und vernimmt den weisen Rat seiner zukünftigen Gattin: „Du mußt dich jetzt auch eleganter kleiden.“ Joseph von Eichendorff hat es bei diesem deutlichen Signal bewenden lassen, er hat der Nachwelt den Taugenichts erspart, der mühelos besänftigt hinterm Ofen sein Pfeifchen schmaucht, während seine Kammerzofe inkognito auf dem Weg zum Sauerkohle die Kellertreppe hinabschlurft.

Georg Lukacs wußte wohl, warum er Eichendorff, den Romantiker, unter die deutschen Realisten des 19. Jahrhunderts reihte, die herrliche Szene allein auf dem Donauschiff gibt ihm alles Recht dazu: „Die Studenten saßen kerzengerade auf ihren Fässern und aßen und tranken nur sehr wenig vor großer Devotion.“ Dieselben Studenten, die kurz zuvor noch Sprüche klopften vom unbekannten Schornstein, der für sie raucht. Bittere Ironie also, wenn Eichendorff an den Schluß seines mit „Halle und Heidelberg“ überschriebenen Memoirenkapitels setzt: „Die Jugend ist die Poesie des Lebens und die äußerlich ungebundene und sorgenlose Freiheit der Studenten auf der Universität die bedeutendste Schule dieser Poesie...“? Eichendorffs Realismus lag in seiner Illusionslosigkeit. „Und an einem prächtigen Morgen, den er halb verschlafen, dehnte sich Klarinett, daß ihm die Glieder vor Nichtstun knackten; „nein“, sagte er, „nichts langweiliger als Glück!“

Biographische Rückschlüsse sind hier erlaubt. Joseph von Eichendorff war rund vierzig Jahre glücklich verheiratet mit Aloysia Anna Viktoria von Larisch, hat lange Jahre im Status eines Staatsbeamten gelebt (bis 1844), die scheinbare Unvereinbarkeit seines bis zum Alter jugendfrischen, nahezu entwicklungslosen Schaffens mit seinem Leben als Staatsdiener, Vater und Ehemann hat die Legende von seiner Doppelexistenz genährt.. Es bleibt eben schwer, sich einen Mann einfach in seinem Widerspruch vorzustellen. Daher die Verlegenheit der Interpreten  am Ende der Taugenichtsnovelle. Joseph von Eichendorff will sich seinem Bilde nicht fügen, er, der „sich geradezu hinter eine Formkulisse versteckt“, er, „der mit dem Apparat eines naiven Volkslieds die unglaublichsten Dinge sagt“ (Hermann Hesse).

Der Lyriker Walther Petri hat sich, noch mit Vorurteilen, Eichendorffs Gedicht „Nachts“ ausgesetzt und eine Entdeckung gemacht: „Für einen Augenblick verharrt die Zeit: ein Erbe, das ich mehr als lese: erschrocken und erstaunt, daß ich den Text erfahre, als wäre er hier ausgesagt und neu, anheimelnd ist das nicht.“ Und Thomas Rosenlöcher vermutet: „Unversehens scheint uns diese Lyrik ... hinterrücks eingeholt zu haben.“ Birgt also Joseph von Eichendorff doch noch Überraschungen? „Der Dichter kann nicht mit verarmen; / Wenn alles um ihn her zerfällt, / Hebt ihn ein göttliches Erbarmen - / Der Dichter ist das Herz der Welt.“

Natürlich ist Eichendorff in seiner Zeit zu sehen, seine Lebensspanne umfaßte drei Revolutionen, alle lehnte er ab und weil er die Zukunft in der Vergangenheit suchte, der „alten, schönen Zeit“ - die genau besehen immer nur die Zeit der Kindheit auf dem Schlosse Lubowitz war – hat sein Denken regressive Züge. Als Adliger kritisierte er den Adel, als Romantiker die Romantik, als deutscher Spießbürger den deutschen Spießbürger und als begnadeter Dichter schrieb er: „Ich kann mein poetisches Talent nicht als so entschieden und mir und der Welt genügend betrachten, um mich zu einer Ausschließung von aller anderen tüchtigen Arbeit zu berechtigen.“ Welch eine Haltung!

Die stolzen Wälder, die rauschenden Flüsse, das immer wieder ins Gedicht geholte Aufsteigen der Lerchen – es waren keine Fluchtmotive für Eichendorff, es waren Haltepunkte in einer heillosen Zeit. Er war fähig zu umwerfendem Humor – auch im „Taugenichts“ gibt es ausgesprochene Slapstickszenen. Und: „So still ist's nicht draußen im Schnee, / So stumm und verschwiegen sind / Die Sterne nicht in der Höhe, / Als meine Gedanken sind.“ Es müssen beängstigende Gedanken gewesen sein wie in „Der irre Spielmann“: „Wer ist der Jäger da? Wer ist das Wild?“, deprimierende Einsichten wie in „Morgenlied“: „Der Mensch kann nimmermehr hinaus / aus dieser Narrenwelt.“ - oder in „Gedenk'“: „O Menschlein, daß du Flügel hast / Und daß du hier gefangen.“ Peter Hille hatte recht, als er Joseph von Eichendorf eine Singvogelnatur nannte.

Es war ihm gegeben aufzusteigen wie die Lerchen, mit Gesang aus voller jubelnder Kehle und mit dem Wissen des Bodenbrüters, der sein Nest in eine vorgefundene Kuhle baut: es gibt die Not der Schwerkraft. Wenn Johannes R. Becher eine Rede vor dem Minsker Plenum des sowjetischen schriftstellerverbandes im Februar 1936 mit Eichendorff einleitet: „Nicht Träume sind's und leere Wahngesichte, / Was von dem Volk den Dichter unterscheidet. / Was er inbrünstig bildet, liebt und leidet, / Es ist des Lebens wahrhafte Geschichte.“ - dann hat er die bleibende Modernität  des Freiherrn Joseph von Eichendorff zugleich als fortwirkendes Programm gesehen. Das gilt.
 Zuerst veröffentlicht in SONNTAG, Nr. 10 1988, Seite 4, 6. März 1988,
 Unterzeile: Joseph von Eichendorff zum 200. Geburtstag, Fassung des Typoskripts


Joomla 2.5 Templates von SiteGround