Ernst Elias Niebergall: Datterich

Vor die Wahl gestellt, welches Zitat mir am ehesten geeignet erscheint, Ernst Elias Niebergall ein wenig Interesse zuzulenken, entscheide ich mich für Kasimir Edschmid. Der 1890 geborene Expressionist nahm den 100. Geburtstag Niebergalls am 13. Januar 1915 zum Anlass, „um Niebergalls Andenken zu retten“. Die sieben Kenner Edschmids werden umgehend einwenden, es lasse sich unüberhörbar seine übliche Selbstüberhebung vernehmen in diesem Ehrgeiz und ich will diesen Wissenden gar nicht erst lange widersprechen. Viel an Edschmid ist Zumutung, war es immer und ist es im Verlaufe seines Leben mehr und mehr geworden. Und er lebte immerhin bis 1966, da war selbst die zweite Renaissance seiner expressionistischen Generationsgefährten schon wieder Episode des Erinnerungsmarktes. Edschmid schrieb: „In seiner Heimat streiten Pastoren und Pollissons, ob er als versoffene Unke oder gleisnerisch und im Gehrock sehr früh die Jagdgründe vertauscht habe. Seine Tragik ist aber, daß diesen Schaffer des stärksten Dialektgeballs zehn Stunden hinter seiner Vaterstadt kein Mensch und keine Rübe mehr versteht. Er wollte das größte und hat (immerfort) das kleinste Publikum.“

Als Französisch-Amateur will ich keine Glosse über das Wort Pollisson starten, ein l mehr oder weniger sei Edschmids Eigensinn geschuldet oder ist auch nur ein erzgewöhnlicher Druckfehler des Paul Cassirer Verlages in Berlin, der 1920 unter dem Titel „Die doppelköpfige Nymphe“ Aufsätze Edschmids herausbrachte, mein Zitat findet sich dort auf der Seite 108, auf der auch der Aufsatz „Datterich (Dialekt-Tragik)“ beginnt. Im Felde des Mundartverständnisses von Rüben bekenne ich tiefreichende Ahnungslosigkeit, meine eigene Mühe, meine eigene extreme Mühe, mich durch knapp hundert Seiten südhessischen, genauer, Darmstädter Dialektes als Schriftsprache zu quälen, gestehe ich dagegen mit einem gewissen Stolz auf meine schließlich finale Selbstüberwindung ein. Mich hat, um es auch gleich vom Notizzettel zu streichen, die mögliche Bekanntschaft Niebergalls mit dem etwas älteren Georg Büchner, gemeinsames Gymnasium, gemeinsamer Studienort Gießen werden erhärtend gern genannt, nicht neugieriger gemacht. Ich weiß nicht, wie viele Gymnasien Darmstadt hatte mit seinen damals 26.000 Einwohnern, es werden kaum sehr viele gewesen sein. Sehr wohl aber weiß ich, wie selten ich mit Schülern, die zwei Schuljahre über mir dem Abitur entgegen strebten, in näheren Umgang kam. So kommt mir Georg Hensel entgegen, der eher auf keine Verbindung der beiden tippt, sehr wohl aber Passagen bei Niebergall in der Nähe mancher Stelle in Büchners Werk sieht.

Ernst Georg Niebergall starb am 19. April 1843 in seiner Geburtsstadt Darmstadt, man kann auf der sonst arg dürftigen WIKIPEDIA-Seite zu ihm immerhin sein Grabmal auf dem Alten Friedhof anschauen, es ist die Grabstelle I H 55. Nur 28 Jahre alt ist er also geworden und sein ganzer Nachruhm beruht fast ausschließlich auf seiner Lokalposse „Datterich“, die 1841 anonym veröffentlicht wurde. Ob sie zu seinen Lebzeiten gespielt wurde, ist nicht gerade umstritten, aber immerhin wird es behauptet, während Georg Hensel in seinem „Spielpan“ ganz lapidar festhält: „Zum ersten Mal gespielt: am 2. August 1862 im Darmstädter Chausseehaus, einem Theater für Wanderbühnen.“ Bis heute gibt es gelegentlich neue Inszenierungen, darunter natürlich solche am Staatstheater Darmstadt, aber auch in Frankfurt, dort also, wo man des Hessischen am problemlosesten mächtig ist. Der Gedanke, dass Heinz Schenk den Datterich im Frankfurter Volkstheater gespielt hat vor nicht einmal zwanzig Jahren, ruft mir umgehend jene fürchterliche Unterhaltungsendung der Bundesrepublik Deutschland (alt) ins Gedächtnis, bei der ich, falls ich sie denn partieweise und nie freiwillig sehen musste, immer fürchtete, dem Gastgeber werde das vermutlich viel zu große Gebiss aus dem babbelnden Äbbelwoi-Mund purzeln.

Auch Günter Strack hat den Datterich gespielt, ich weiß allerdings nicht, in welcher Phase seiner stetigen Gewichtszunahme, es muss der junge Günter Strack gewesen sein, sonst hätten ja außer ihm nicht mehr viele andere Mitspieler auf die Bühne gepasst. Alain Michel, von dem ich nichts weiß, als dass er den Niebergall-Beitrag für Killy's Literaturlexikon schreiben durfte, beschreibt den Datterich so: „Ein arbeitsscheuer Wirtshaushocker spiegelt einem strebsamen Drehergesellen vor, ein einflußreicher Mann zu sein und ihm eine Meisterstelle verschaffen zu können. Er erreicht, daß dieser ihm alle Zechen bezahlt und sich ihm anschließt, scheitert aber bei dem Versuch, den Dreher auch von dessen Braut zu trennen, der wie geplant die Tochter seines Lehrherrn heiratet und von der Stadt als Meister aufgenommen wird.“ In Kenntnis des Stückes, welches aus sechs Bildern und einer großen Zahl sehr kurzer Szenen innerhalb dieser Bilder besteht, verrate ich nur soviel: Ich las schon Kurzinhaltsangaben, die noch weniger verrieten. Meine tiefe Empörung, ja, meine noch tiefere Betroffenheit über die gedankenlose Verwendung des Wortes „arbeitsscheu“ gebe ich zu Protokoll der Sprachpolizei. Datterich ist bei Ernst Elias Niebergall ein „Particulier“, was man mit Rentner übersetzen könnte, wenn man dabei nicht an Menschen denkt, die eine Rente ausgezahlt bekommen. Im Jubiläumsjahr von Bismarck ist dieser Hinweis auch historisch wichtig.

Datterich trinkt in der Tat gern Wein und zwar solchen aus Trauben, was ich sehr gut nachempfinden kann. Dass er auch kaltem Hammelbraten geneigt ist, baut dagegen eine Einfühlungsbarriere vor mir auf, die selbst mit heißen Bohnen nicht zum Schmelzen gebracht werden könnte. Datterich spielt Karten mit einigen ebenfalls der Schichtarbeit abholden männlichen Mitbürgern, die früher Handwerker waren, falls ihm ein Gewinn zufällt, setzt er selbigen umgehend in flüssige und feste Nahrung um, was ihn davor bewahrt, mit dem Gewinn Schulden bezahlen zu müssen, zu können, zu wollen, von denen er ausreichend hat, selbst bei Lisette, die im Gasthaus bedient. Datterich neigt dazu, Räuberpistolen zu erzählen, dass sich die Balken biegen, Lisette kennt ihn und muss ihn nicht erst eigens durchschauen. Der von Alain Michel genannte strebsame Drehergeselle dagegen, er heißt Schmidt, glaubt alles und lässt sich so herrlich leicht übertölpeln, dass man geneigt ist, ihm jegliches Mitleid zu entziehen. Am Ende ist er freilich bereit, Datterich ist entlarvt, sich mit ihm gar zu duellieren und dabei sein Leben zu geben für Marie, die Tochter des Drehermeisters Dummbach. Dummbach sagt im Stück etwas, was PEGIDA-Herzen höher schlagen lassen könnte, wenn sie denn Lokalpossen lesen würden, statt selbst solche zu spielen.

Der inkriminierte Satz lautet: „Mir erläwe's net, awwer Sie wern sähe, daß ich recht hob: in fufzig Johr sinn mer all Derke!“ Für alle, die mit „Derke“ nichts anfangen können, ein kleiner Tipp: de Derke howwe de Döner arfunne. Dummbach, der Mann mit dem sprechenden Namen, ist ein typisch deutscher Wirtshaus-Räsoneur, ein Stammtisch-Politiker mit der heute freilich für Zeitungshäuser aller Couleur, die unter dem Verdikt der „Lügenpresse“ stehen, fast paradiesischen Eigenschaft, alles zu glauben und ernst zu nehmen, was in der Zeitung steht. Der künftige Schwiegersohn schenkt ihm, er weiß, was sich gehört, übrigens eine Zeitung, die seinerzeit tatsächlich existierte und aus Hildburghausen kam. So weit reichte der Ruhm Südthüringens in der Biedermeierzeit: bis nach Darmstadt. „Datterich“ heißt die Lokalposse aber vor allem deshalb, weil der tatsächlich im Mittelpunkt steht. Ich starte ein weiteres Zitat: „Der titelgebende Datterich ist als trinkfreudiger Schuldenmacher und geschwätziges Großmaul eine Mischung von Falstaff und Maitre Pathelin, mit dem er besondere Ähnlichkeit hat in der Szene, als er sich fieberkrank stellt. Das Stück als solches trägt vornehmlich zur Entlarvung kleinstädtischen Bürgertums in der Enge der Gesinnung und in der Hohlheit des Pathos bei, so daß es dadurch vielfach über den reinen Lokalcharakter hinausreicht und in manchen Zügen den Possen Nestroys nahekommt.“

Dieses Zitat stammt von Helmut Prang (1910 – 1982), dessen „Geschichte des Lustspiels“ nicht unbedingt zu den Sternstunden der geschriebenen Theatergeschichte gehört, dazu ist der Autor einfach vielfach zu voreingenommen und von seinen eigenen, keineswegs unanfechtbaren Definition und Angrenzungen getrieben, aber er bekundet Niebergall gegenüber immerhin etwas wie Hochachtung. Der in der frühen DDR geschätzte Paul Reimann schrieb: „Das Erstarken realistischer Tendenzen spiegelte sich auch in dem Werk von Schriftstellern wider, die keinen nachhaltigen Einfluß auf die Entwicklung der deutschen Literatur ausübten, wiewohl sie literarisch eine ansehnliche Höhe erreichten. Das gilt insbesondere von dem trefflichen, jungverstorbenen Dramatiker Ernst Niebergall...“. Der nicht nachhaltige Einfluss Niebergalls hat seine Ursache wohl fast ausschließlich in der Sprachbarriere, die seine beiden Possen aufrichten, Georg Hensel meint geradezu auf „Datterich“ bezogen, dass sie: „wäre sie nicht im Dialekt geschrieben, zu den großen deutschen Komödien zählte.“  Für Karl Heinz Ruppel ist der „Datterich“ „in Wahrheit die genialste Dialektkomödie und eines der wenigen großen Lustspiele der deutschen Literatur“. Ruppel ist immerhin der langjährige Hauptverantwortliche von „Reclams Schauspielführer“ und war der Kritiker, der anlässlich einer Inszenierung in Berlin am 11. März 1941 die für mich nicht nur gescheitesten, sondern auch am weitesten über das Stück hinaus reichenden Aussagen zur Substanz der Posse formulierte. Ruppel schrieb für die Kölnische Zeitung, seine Kritiken erschienen erstmals gesammelt 1943 im Verlag Paul Neff Berlin/Wien unter dem Titel „Berliner Schauspiel“, 1962 wurden sie unter dem neuen Titel „Großes Berliner Theater“ erneut aufgelegt, ergänzt um zahlreiche Fotos, darunter auch zwei komplette Seiten zur genannten „Datterich“-Aufführung.

In der Neuausgabe findet sich übrigens nur eine einzige Retusche: der aus Wien stammende Darsteller des Drehermeisters Dummbach, Karl Etlinger, der 1941 noch ein „Ostmärker“ war, ist 1962 schlicht ein „Österreicher“ geworden. Da sind mit Retuschen aus der Stalin-Zeit in Nachdrucken nicht weniger DDR-Autoren, auch DDR-Kritiker, ganz andere Streichungen nachweisbar. Ruppel erkennt in Datterich einen ganz besonderen Typus: „Umgekehrt sind Niebergalls Darmstädter Spießer aber auch so beschaffen, daß sie einen widersetzlichen Geist wie Datterich nicht nur dulden, sondern sogar brauchen. Nur indem sie seine unsolide Existenz ständig vor Augen haben, genießen sie mit rechtem Wohlbehagen ihre eigene Solidität. Nur indem er ihn täglich stört, fühlen sie sich recht geborgen in ihrem bürgerlichen Frieden.“ Dies ist, mit Verlaub, eine Dialektik, die sehr heftig auf eine Grundstruktur deutet. Wieviele Menschen gibt es, die ihr eigenes Selbstwertgefühl zum großen Teil oder gar vollkommen aus Abgrenzungsüberzeugungen und -ritualen beziehen. Man könnte auch Legionen feindbildbasierter Lebensentwürfe beiziehen, immer ist der jeweilige Feind ein wenig Datterich. Ruppel: „Die Lüge ist seine Form der Phantasie und zugleich die einzige, die auch die Spießer verstehen; denn sie ist ihr Ersatz für Dichtung.“ Was für ein Satz!


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