Otto Erich Hartleben: Rosenmontag

Wer wie ich anlässlich des 150. Geburtstages von Otto Erich Hartleben (siehe meine der Komödie  „Hanna Jagert“ geltende Darstellung in JAHRESTAGE, 3. Juni 2014) etliche Zeilen der Polemik gegen eine unsägliche Kritik Franz Mehrings an Hartleben widmete, darf einer Art von Rehabilitierung des Gescholtenen am Rosenmontag 2015 im Rahmen einer Betrachtung zu „Rosenmontag. Eine Offiziers-Tragödie“ wenigstens einige Zeilen Aufmerksamkeit schenken. Franz Mehring hat angesichts der Tragödie nicht etwa eigene Fähigkeiten wieder ausgegraben, die er im Blick auf die Komödie vollständig verleugnete, er hat die gleiche rein soziologisch-ideologische Sicht auf ein Bühnenwerk zu ganz anderen Urteilen führen lassen, weil der Gegenstand der Tragödie, soweit Mehring sie gesellschaftskritisch sehen wollte, ins eigene Konzept von Gesellschaftskritik passte. Die tragische Geschichte des Leutnants Hans Rudorff und seiner Liebsten Gertrude Reimann, genannt Traute, ist als Bloßstellung der kaiserlichen Offizierskaste und ihrer verlogenen, in der Konsequenz mörderischen Moral lesbar.

Otto Erich Hartleben verzeichnete mit dieser Tragödie nicht nur seinen mit Abstand größten Bühnenerfolg, er verdankte ihr auch solide Einnahmen. In einem Brief an Otto Brahm vom 5. März 1901 heißt es: „Mit zärtlicher Bewunderung hab ich die letzte Mittwochseinnahme – 80. Aufführung – betrachtet...“. Wo und wann gibt es das schon, dass ein Autor Honorarabrechnungen mit zärtlicher Bewunderung betrachten kann! Auch in Druckform lief der „Rosenmontag“ wie am Schnürchen. Die 1912 bei S. Fischer erschienene Ausgabe „Briefe von Otto Erich Hartleben an Freunde“ bewirbt hinten die diversen Einzeltitel des Verlages, die sieben Jahre nach dem frühen Tod Hartlebens noch lieferbar waren: vom „Rosenmontag“ die 20. Auflage, noch erfolgreicher nur die beiden Erzählungen unter dem Titel „Die Geschichte vom abgerissenen Knopfe“ (22 Auflagen) und die Novellen „Vom gastfreien Pastor“ (30 Auflagen). Die distanzierte bis ablehnende Behandlung des Stückes bei etlichen Autoren hat sicher mit diesem Erfolg zu tun. Noch heute wird in Deutschland Erfolg, wenn er ein amerikanischer ist, bis zum Exzess mitgefeiert (und mit verkauft), wenn er ein deutscher ist, hat er jenseits der pflichtgemäßen, Anzeigenaufkommen akquirierenden Feuilleton-Darstellung den skeptischen Blick stets als kostenlose Beilage.

Ursula Münchow, unter den DDR-Germanisten für Arbeiterliteratur im weiten Sinne zuständig, sprach ein scharfes Urteil über „Rosenmontag“: „Mit diesem Werk eroberte er das Milieu des Offizierskasinos und der Kaserne für das Drama, sank aber künstlerisch auf das Niveau des reißerischen bürgerlichen Rührstücks herunter.“  Gegen solches Urteil hilft Lektüre, denn gespielt wird das Stück wohl schon lange nicht mehr und dagegen ist noch nicht einmal viel einzuwenden. An Paul Schlenther schrieb Hartleben am 18. September 1900: „Die vielverrufene Berliner Censur hat das Stück mit ein paar kleinen Strichen („Unterleib“, „Dirne“!) ohne Bedenken genehmigt. Wie sollte sie auch nicht, da doch beim besten und schlechtesten Willen keine Tendenz aus der Dichtung herauszulesen ist!“ Man stelle sich vor, die Zensur strich das Wort „Unterleib“! Selig die Zensur, die sich mit solchen Aufgaben beschäftigen darf. Man erkennt andererseits auch, wie extrem niedrig damals die Skandalschwelle lag und hat immer damit zu rechnen, mit ihrem einstigen Skandalwert beworbene Kunstwerke weit entfernt davon zu sehen. Was um 1900 als Pornographie auf den Index geriet, war an heutigem Pornographie-Verständnis gemessen weniger als nichts. Vor allem aber war es immer und überall verlogen. Denn die herrschende Moral, daran ändert sich kaum etwas, selbst wenn es anders aussieht, war immer Doppelmoral, ließ da gelten, was sie dort verurteilte. Gerade in Offizierskreisen und auch in „Rosenmontag“ tobt sich diese Widersprüchlichkeit regelrecht aus.

Franz Mehring aber, der über „Hanna Jagert“ nur mit Schaum vorm Großhirn schreiben konnte, geht den „Rosenmontag“ mit ausgesprochenem Wohlwollen an, die möglichen Einwände will er nicht verschweigen, aber einordnen. Also: „Nicht als ob sich unter der kritischen Lupe nicht sehr viele Mängel des Dramas entdecken ließen! Die Fabel ist dürftig und nicht einmal originell.“ Also: „Man kann auch nicht sagen, daß Hartleben die Dürftigkeit seiner Fabel durch die geschickte Schürzung und Lösung des dramatischen Knotens auszugleichen gewußt habe. Im Gegenteil! Er ist in dieser Beziehung recht achtlos verfahren: die Art, wie er das Liebespaar erst auseinander- und dann wieder zusammenbringt, ist nicht frei von großen Unwahrscheinlichkeiten, um nicht zu sagen Unmöglichkeiten.“ Die Hauptsache aber ist für Mehring Stoffgewinn: „Es ist das erste Drama, das die preußische Offiziersklasse als solche dichterisch darzustellen wagt.“ Und: „Die Klasse als solche in ihrem sozialen Sinnen und Trachten zu packen. Ihr Leben und Weben in Kasino und Kaserne plastisch zu gestalten, das hatte bisher noch kein Dramatiker versucht, und es ist entschieden ein bedeutendes Zeugnis für Hartlebens dramatische Begabung, daß ihm gleich der erste Versuch dieser Art in so hohem Grade gelungen ist.“

Ein kurzer Blick auf das Geschehen der Tragödie ist nötig. Hans Rudorff ist inmitten von adligen wie bürgerlichen Offizieren insofern eine Besonderheit, als er musisch begabt ist und seine Begabung auch lebt. Er spielt Klavier und schreibt Gedichte. Er kehrt in sein Regiment zurück nach einer langen Auszeit, die mit einer schweren Krise zusammenhängt, ausgelöst durch das Auseinanderbrechen einer Beziehung, was ihn an den Rand des Selbstmords brachte. Jetzt kommt er zu seinen alten Kameraden mit der Neuigkeit, sich verlobt zu haben mit der Tochter eines sehr wohlhabenden und ihm auch sehr wohlgesonnenen Kommerzienrats. Was er nicht weiß: sein gegenwärtiges Leben ist das Ergebnis einer bösen Intrige seiner beiden Neffen, die seiner Gertrude suggerierten, er habe sich heimlich verlobt, und ihm zeitgleich, sie habe sich mit einem anderen Offizier eingelassen. Eine Hauptrolle spielt dabei sein Aufenthalt in Erfurt in einer Gewehrfabrik, allerdings nur in der Erinnerung, nicht in der aktuellen Tragödien-Handlung. Tatsächlich gab es in Erfurt seit 1862 die Königlich Preußische Gewehrfabrik, die bis zum Ende des Ersten Weltkrieges ein rasantes Wachstum erlebte: von 420 Mitarbeitern 1866 und 1000 zehn Jahre später bis zu den 20.000 im Jahr 1917. Nach 1945 entwickelte sich aus einer sowjetischen Aktiengesellschaft der VEB Büromaschinenwerk Optima daraus, Gewehre wurden dort keine wieder produziert.

Für den Leutnant Hans Rudorff aber erwies sich der begrenzte Aufenthalt im preußischen, keineswegs thüringischen Erfurt als schicksalhaft. Der Versuch eines neuen Lebens mit neuer Liebe steht auf schwachem Fundament, denn kaum trifft er Gertrude wieder, kaum eröffnet sich ihm in mehreren Schritten die ganze Verlogenheit und Böswilligkeit der Intrige seiner Vettern, keimt die alte Liebe wieder auf und zwar auf beiden Seiten. So unwahrscheinlich, wie das Mehring vorkam, ist das gar nicht, allenfalls hat man zu registrieren, wie extrem leicht Männer (mindestens Bühnen-Männer) in deutschen Landen eifersüchtig zu machen waren, das zieht sich von Schillers Ferdinand bis eben mindestens zu Leutnant Rudorff. Umgekehrt ist der Braut die Lüge deshalb glaubhaft, weil sie eben genau weiß, dass eine Ehe nicht standesgemäß wäre und deshalb kaum zu erwarten. Traute sieht als Sünde gemäß ihres Glaubens, was den Herren Offizieren bestenfalls jemals ein kleines Abenteuer wäre. Solche Konflikte sind freilich damals offenbar so allgegenwärtig gewesen, dass sie in Literatur und Theater mit einmaliger und gar endgültiger Behandlung nicht fassbar wurden.

Noch einmal Franz Mehring: „Je dürftiger die Fabel und je ungeschickter die Verwicklung ist, um so helleres Licht fällt auf die Fähigkeit des Dichters, durch die kräftige und überzeugend wahre Herausarbeitung des Milieus eine dramatische Spannung hervorgerufen, wie sie nur immer durch die originellste Fabel und die verzwickteste Verwicklung hätte hervorgerufen werden können.“ Verbirgt sich hier der Ansatz eines Handbuches für scheußliches proletarisches Milieutheater? Es hat den Anschein: „Deshalb kommt man über alle sonstigen Mängel von Hartlebens Tragödie leicht fort, weil man sozusagen mit Händen greift, wie der Held im Banne seiner Klasse untergeht.“ Zu dem Zwecke freilich muss man primär auf Klassen-Untergänge fokussiert sein, nicht auf starke Bühnengeschichten. Mehring bekennt, eher Sympathie für die Gegenspieler zu empfinden als für den tragischen Helden, denn der „ist ein leidlich wohlwollender, aber ziemlich kurzsichtiger und schwankender Charakter“. Das aus heutiger Sicht zweifellos deprimierendste an Franz Mehrings Zweckdeutung ist, dass er von der Frau, die am Ende ja auch stirbt mit ihrem Leutnant, nicht die allergeringste Notiz nimmt. Es hätte ihm auffallen können, dass ihr Name im Personenverzeichnis sicher kaum zufällig ganz oben steht. Während Shakespeare seine Frauen prinzipiell hinten einordnete, unmittelbar vor den namenlosen Kleinrollen.

Warum heißt die Tragödie eigentlich „Rosenmontag“? Weil die Handlung auf diesen Tag zuläuft, dann freilich in den frühesten Stunden des Tages endet. Am Rosenmontag soll die neue Verlobte und künftige Gattin den Kameraden vorgestellt werden, am Rosenmontag wollen die Leutnants mit einigen weiteren Dienstgraden Friedrich Schillers berühmte Ballade „Der Handschuh“ als Bühnenweihfestspiel aufführen, die letzte Probe ist  auf vier Uhr in der Frühe angesetzt. Es wird echte Löwen- und Leopardenkostüme geben, der Ranghöchste spielt das Tigertier, ganz nebenher wird so der im Schillerjahr 1905, also keine fünf Jahre nach der Uraufführung, kulminierende Schiller-Kult in Szene gesetzt, damals wirkte das vermutlich nicht einmal unfreiwillig komisch. Das Stück endet mit dem sechsten Bild des fünften Aktes, als Offiziersburschen und Harold, ein Freund Rudorffs, die beiden Toten finden. Ein Gedicht verriet Gertrude Reimann, was ihr Liebster plante: „Am Rosenmontag liegen zwei // die kalten Hände noch verschlungen // Das Leben strömte rauh vorbei // die beiden haben's nicht bezwungen // Als überwunden grüßen sie // den Sieger, dem das Glück begegnet // im Tod verbunden segnen sie // all jene, die das Leben segnet.“


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