Konstantin Simonow: Die Unterwasserbrücke
Am 5. Dezember 1944 gab das Oberkommando der Heeresgruppe Mitte (Ia Nr. 17454/44 geh.) Armeen, Generalkommandos und Divisionen einen Führerbefehl vom 25. November 1944 zur Kenntnis. Hitler war am 21. November, einem Dienstag, mit seinem Sonderzug am Berliner Bahnhof Grunewald eingetroffen, nachdem er am Vortag mit dem gesamten Stab endgültig sein Hauptquartier „Wolfsschanze“ verlassen hatte. Der Befehl galt der „Befehlsführung bei abgeschnittenen Truppenteilen“ und begann so: „Der Krieg entscheidet über Sein oder Nichtsein des Deutschen Volkes. Er fordert rücksichtslosen Einsatz jedes Einzelnen. Todesmutige Tapferkeit der Truppen, standhaftes Ausharren aller Dienstgrade und unbeugsame überlegene Führung haben auch aussichtslos erscheinende Lagen gemeistert.“ Der eigentliche Befehl betraf Truppenführer, die, auf sich allein gestellt, glaubten, den Kampf aufgeben zu müssen. Sie hatten unverzüglich das Kommando an denjenigen zu übergeben und sich ihm zu unterstellen, der den Auftrag erfüllen und den Kampf fortsetzen wollte, unabhängig von seinem Dienstgrad. Das Dokument trägt die handschriftliche Unterschrift von Generaloberst Georg-Hans Reinhardt (1. März 1887 – 24. November 1963), der seit dem 16. August 1944 Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Mitte war.
Die frühen Kriegserzählungen Konstantin Simonows, die der Berliner Verlag Kultur und Fortschritt 1970 in einem Heft der Reihe kap (Krimi Abenteuer Phantastik) sammelte, ein angesichts des Inhalts der Geschichten einigermaßen seltsamer Publikationsort, thematisieren todesmutige Tapferkeit und Heldentum auf der anderen Seite der Front. Die Erzählungen stammen aus den Jahren 1942 bis 1945, wirken sehr einheitlich, nur die sechste fällt aus dem Rahmen. Es will mir wichtig scheinen, einleitend eine Aussage von Simonow zu zitieren, die aus einer „Autobiographie“ genannten Schrift von 1975 stammt, die sich freilich über weite Strecken eher wie ein amtlicher Lebenslauf für die Kaderakte liest. Er schreibt dort: „Diese Atmosphäre unseres Hauses und des Truppenteils, in dem wir lebten, weckten in mir eine nie nachlassende Sympathie und Hochachtung vor der Armee und allem Militärischen überhaupt. Dieses kindliche Gefühl, das mir nicht voll bewusst wurde, ist mir, wie sich später zeigen sollte, in Fleisch und Blut übergegangen.“ Um Missverständnissen vorzubeugen: die Hochachtung galt allem Militärischen überhaupt, das ist etwas anderes als Hochachtung gegenüber einer bestimmten Armee, einer bestimmten Person und ihrer militärischen oder militärhistorischen Leistung.
Die dritte der sechs Erzählungen heißt „Der dritte Adjutant“ und hebt mit diesem Satz an: „Der Divisionskommissar war fest davon überzeugt, dass tapferen Menschen viel seltener etwas zustößt als feigen. Diese Behauptung bekräftigte er immer wieder gern, und er wurde sogar böse, wenn man anderer Meinung war.“ Der Kommissar steht damit auf alle Fälle schon einmal gegen die Bibel (Jesus Sirach 3, 26), in der zu lesen ist: „Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um.“ Dass kommunistische Kriegskommissare die Bibel zu ihrer Argumentationsgrundlage nehmen, wäre natürlich mehr als verwunderlich. „Er maß die Gefahr für sich und für die anderen mit dem gleichen Maß. Da starben Menschen. Nun, dafür war Krieg. Aber tapfere starben nur in seltenen Fällen.“ Der dritte Adjutant bewundert ihn wegen seiner Ansichten und der Stabschef ist neugierig auf die hinter den Ansichten des Kommissars stehende Theorie. Er leugnet, eine zu haben, meint aber trotzdem ganz allgemein, dass „ein Feiger, wenn er stirbt, schon vergessen ist, bevor er in der Erde liegt. Wenn aber ein Tapferer fällt, wird von ihm noch oft gesprochen und sogar geschrieben.Wir erinnern uns nur an die Namen der Tapferen. Das ist es. Und wenn Sie das eine Theorie nennen, so steht Ihnen das frei. Eine Theorie, die den Menschen über die Angst hinweghilft, ist eine gute Theorie.“
Leider oder zum Glück gibt es einschlägige Überlieferungen, wie es aussehen konnte, wenn ein Kriegskommissar böse wurde. Wie es überhaupt ist, wenn ein militärischer Vorgesetzter auf einen Untergebenen böse ist, kann man in Armeen sogar ohne Krieg leicht und nachhaltig erfahren. Es ist deshalb auch auf Lesers Seite eine bestimmte Hochachtung vor allem Militärischen nötig, um diesen Geschichten eines Kriegskorrespondenten und Romanautors mit intensiver eigener Kriegserfahrung halbwegs unbefangen begegnen zu können. Kommissar Kornew geht sehr weit in seinen Ansichten: „Und selbst der Tod versöhnte ihn nicht mit der Feigheit. Wäre es möglich gewesen, so hätte er Tapfere und Feige getrennt begraben lassen. Mochte zwischen ihnen eine Trennungslinie sein - wie im Leben, so auch im Tode.“ Man stelle sich solche Soldatenfriedhöfe vor, um zu ermessen, was für eine Ideologie hinter solchem Denken steht. Dieser Kommissar liebt es, wenn Leute ihn wütend verlassen, er sieht sich als Motivator: „Wenn die Menschen etwas verärgert sind, denken sie besser nach.“ Der Erzähler verbirgt im Text den stillen Kommentar: „Er tat oft genug Dinge, die sich für ihn als Divisionskommissar nicht gehörten. Aber er dachte erst daran, dass er das nicht hätte tun sollen, wenn er es nicht mehr rückgängig machen konnte. Dann war er wütend auf sich und die anderen, die ihn an diese Tat erinnerten.“
Einer wie dieser Kommissar las also solche Geschichten vermutlich mit Wut und das ist sehr wahrscheinlich keine ausdrückliche Absicht des Erzählers Simonow gewesen. Eher die, ein bestimmtes Heldenbild für eine breite Öffentlichkeit zu erstellen, die diese Erzählungen zuerst in Zeitungen las, Simonow schrieb vor allem für die „Krasnaja Swesda“. „Soldatenruhm“ erzählt von Semjon Schkolenko, der bei zwei Spähtruppunternehmen, zu denen er allein losgeschickt wird, ein Dutzend Deutsche in die Luft sprengt, Gefangene nimmt und Waffen erbeutet. Im Eifer schießt er auf eigene Leute, die eben dabei waren, ihr eigenes Grab zu schaufeln und nun von ihm befreit wurden. Sie haben volles Verständnis. Auf welcher Seite des Soldatenfriedhofes wären sie gelandet, hätte sie die Kugel Schkolenkos tödlich getroffen, wären sie doch weder tapfer noch feige gewesen, hätten einfach nur Pech gehabt? Den Kommissar gibt es in dieser Erzählung aber nicht. „Soldatenruhm“ könnte auch die zweite Geschichte heißen, hat aber den Titel „In einer Polarnacht“. Hier vollbringt ein Bordschütze in einem umgebauten Behelfsbomber eine Notlandung, weil sein Pilot tödlich getroffen ist. Dieser Bordschütze Gubin flog gemeinsam mit dem Piloten Baschkirow Luftangriffe gegen eine finnische Stadt, deren Name übersetzt Kloster bedeutet.
Die Titelerzählung „Die Unterwasserbrücke“ setzt einem Divisionsingenieur Sosnowkin ein Denkmal, der in wesentlichen Charakteristika genau die Eigenschaften aufweist, die auf derartige deutsche Spezialisten den etwas dümmlichen Spruch zog „Dem Inschineer ist nichts zu schwer“. Sosnowkin entwirft und baut eine Brücke, die Panzern eine Flussüberquerung ermöglicht, ohne den Deutschen auf der anderen Seite von ihrer Böschungshöhe her sichtbar zu werden. Als fahren diese über die Wasser, wird es aussehen und die Montage erfolgt im eiskalten Wasser des bereits zufrierenden Flusses. „Und was unsere Panzerleute anbelangte, so dachten sie nur daran, hinüberzukommen, ob es einen Rückweg gab oder nicht – das interessierte sie am wenigsten.“ Es ist bezeichnend, dass Simonow nicht einmal eine Andeutung davon gibt, ob der Angriff auf die andere Seiten erfolgreich verlief oder ein Himmelfahrtskommando für die Beteiligten wurde. Das Pathos dagegen ist unverkennbar. Simonow lässt den Ingenieur aufrecht den Panzern voranschreiten, wie auch der Kriegskommissar den Deutschen buchstäblich die Brust bot in seiner seltsamen Überzeugung von der Unverwundbarkeit der Tapferen. Man kann das durchaus eine arg vordergründige Heldenverklärung nennen.
Auch die 17 Jahre alte „Malyschka“ ist eine Heldin, eine von anderem Kaliber freilich. Ihre Geschichte spielt während des panikartigen Rückzuges der Roten Armee, sie begleitet als Feldscher Verwundetentransporte nach hinten. Nur eben, dass dieses „Hinten“ sich selbst auf der Flucht befindet. Weil ihr schaukelnder Transporter nur sechs Plätze hat, es aber sieben Verwundete gibt und sie nicht einen zurücklassen möchte, nimmt sie eine mörderische Fahrt auf dem Trittbrett in Kauf. Nach strengeren medizinischen Maßstäben sind diese Verwundeten gar nicht transportfähig, die Fahrt auf Straßen, die den Namen nicht verdienen, beschleunigt mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit ihr Sterben. Auch das bleibt am Ende ausgeklammert, realistische Leser dürfen sich das hinzudenken. Und aus dem Abstand der Zeiten zeigt sich, dass es ein Heldentum geben kann, das keinen weiteren Inhalt hat als den, ein Zeichen zu setzen. Simonow verklärt und entzaubert seine Helden gleichzeitig, kann man folgern, ohne den Erzählungen Gewalt anzutun. Es gibt noch einen alten Kosaken in der Geschichte, für den es eine Ehrensache ist, nicht zu stöhnen. Er regt an zu singen und selbst Malyschka auf dem Trittbrett singt mit, weil es die Fahrt erleichtert. Der Trick der Geschichte: man erfährt nicht, ob und wie viele der Transportierten überlebt haben.
Die abschließende Erzählung „Bandera roja“ verlässt den russischen Schauplatz. In Serbien trifft der Erzähler auf einen Jugoslawen mit Spanienkriegserfahrungen, der wiederum in einer Binnen-Erzählung von einem Bulgaren berichtet, der sich für sein Land schämt, das an der Seite Deutschlands stand. „So geht das nicht! Dimitroff ist doch auch Bulgare. Und die Faschisten dort unten in Sofia, die werden wir erschießen.“ Sterbend lässt er sich das Lied vorsingen, das den Titel der Geschichte liefert und die endet mit einem Blick auf gemeinsam marschierende Bulgaren und Jugoslawen. Von Marschall Georgi Konstantinowitsch Shukow ist der Befehl Nr. 0345 vom 13. Oktober 1941 überliefert, in dem es heißt: „Feiglinge und Panikmacher, die das Schlachtfeld verlassen, die ohne Genehmigung die eingenommenen Stellungen im Stich lassen, die ihre Waffen und Geräte wegwerfen, sind auf der Stelle zu erschießen.“ Das ist es wohl, was der Kriegskommissar und auch Konstantin Simonow nicht anders sehen. Doch gibt es Mut aus Angst? Den man Mut der Verzweiflung nennt? Was es auf alle Fälle gibt, oder zu geben scheint, ist ein systemunabhängiger Anruf von Tapferkeitsbegriffen in Zeiten militärischer Katastrophenzustände. Das nicht Vergleichbare ist plötzlich doch vergleichbar.