Blättchen für Heinz Knobloch (6)
Der Vorbesitzer meines Hefts 4/1971 von „Neue Deutsche Literatur“ hieß Schütze. Er wohnte in der Blumenthalstraße 23a in 111 Berlin. Diese nach Leonhard Graf von Blumenthal benannte Straße hieß, als sie angelegt wurde anno 1899, zunächst Straße 27. Genannter Graf (30. Juli 1810 – 21. Dezember 1900) war ein preußischer Generalfeldmarschall und somit der perfekte Namensgeber für eine neue Straße in Kaiser Wilhelms preußischer Hauptstadt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, verrät eine bekannte Internet-Enzyklopädie, besaß Berlin nicht weniger als acht Blumenthalstraßen, wobei daran zu erinnern ist, dass vor 1920 das Berlin noch nicht jenes war, das sich danach Groß-Berlin nannte, weil es vor lauter Eingemeindungen kaum noch laufen konnte. Dieser Generalfeldmarschall durfte sich ab 1876 sogar Ehrenmitglied der Schwedischen Akademie der Wissenschaften nennen, was Feldmarschällen eher selten geschieht. Von den acht einstigen sind heute nur noch vier nach ihm benannte Straßen verblieben. Drei im früheren Westberlin: in Schöneberg, Tempelhof und Zehlendorf, eine im Osten: in Pankow. Wer aus berufenem Munde das eine oder andere über den Namensgeber lesen mag, darf zu Theodor Fontane greifen. In dessen Darstellung des Schleswig-Holsteinischen Krieges von 1864 fehlt er noch. In „Der Deutsche Krieg von 1866“ aber und auch im vierbändigen „Der Krieg gegen Frankreich“ erschließt das Register die einschlägigen Stellen.
Heinz Knobloch, alter Pankower aus Dresden, war diesem Teil des Werkes von Fontane, den er sonst sehr mochte, so wenig zugetan, dass er ihn nicht einmal erwähnte, so weit mir das bisher bekannt ist. Immerhin ist es bemerkenswert: in der DDR kam niemand auf die Idee, den Namen Blumenthalstraße zu ändern, nur weil er ein preußischer Generalfeldmarschall war, der sich in jenen drei Kriegen Namen, Rang und Adelstitel verdiente. Die am Ende zur Gründung des Deutschen Reiches führten mit der Krönung eines ersten Wilhelm im Spiegelsaal von Versailles. Damit sind wir hinreichend weit abgeschweift vom Ausgangspunkt, um in Knobloch-Nähe zu gelangen und dort zu verbleiben. Denn, raus mit der Katze aus dem gar nicht vorhandenen Sack, das Aprilheft der NDL von 1971 enthält eine Kritik zu Knoblochs viertem eigenen Feuilleton-Band „Täglich geöffnet“. Der erschien zuerst 1970, enthielt hinten „Anmerkungen – teilweise zum Genre“ und gut verteilt Illustrationen von Gitta Kettner (8. Juni 1928 – 20. April 2011). Kettner arbeitete ab 1956 in Dresden freischaffend als Grafikerin und sehr gut beschäftigte Buch-Illustratorin. Von Knobloch illustrierte sie auch „Die guten Sitten“ (1964), „Rund um das Bett“ (1970) und „Bloß wegen der Liebe“ (1971). Man darf durchaus von einer gewissen Dresden-Connection sprechen. Autor der Kritik war Achim Roscher (Jahrgang 1932), lange stellvertretender Chefredakteur der NDL.
Man muss Roscher nicht der ersten Reihe der in die Geschichte eingegangenen Knobloch-Kritiker zuordnen, falls man dazu neigt, solch Treiben überhaupt für zielführend zu halten. In geschlossenem Kreis, also nicht vor laufenden Kameras, würde ich dazu tendieren, ihm zu unterstellen, er habe für die eine Seite in der eigenen Zeitschrift nur Minimalstaufwand betrieben. Was da zweispaltig auf nicht viel mehr als einer Druckseite zu lesen ist, wirkt, als habe jemand die Klappentexte gelesen, ein wenig geblättert, ein wenig Vorwissen einfließen lassen und dann war er auch schon fertig. Nur ganz Naive mögen glauben, dass Kritiken niemals so entstehen. Wer aber zum Beispiel weiß, dass ein Rechtsanwalt schon die ersten 50 Euro berechnen darf, wenn er „Herein!“ ruft, falls es geklopft hat, der versteht vielleicht, dass es Hemmungen in Menschen gibt, 700 Seiten zu lesen für, sagen wir, 150 Euro und danach Vorwürfe zu hören, dass er von all den anderen Werken des Kritisierten keinerlei Notiz nahm, geschweige von der bereits vorliegenden Sekundärliteratur zu allem. Selbst die bestbezahlte Kritik ist immer zu schlecht bezahlt. Man studiere Zeile für Zeile Rechnungen von Bestattungsunternehmen, wo jeder einzelne Handschuh zum Anfassen der Leiche aufgeführt ist und stelle sich dann die denkbare Rechnung eines Kritikers vor, dem bisweilen, so die Fama, sogar schon zugemutet wurde, Belegexemplare (oder die Freikarte im Theater) als Honorarteil zu sehen.
Roscher jedenfalls, der auch in Joachim Walthers „Sicherungsbereich Literatur“ erscheint als IMS „Achim“, aber wegen der unvollständigen Aktenlage ohne belegbare Schadwirkungen, hat seltsame Sätze über Knobloch zu Papier gebracht: „Denn Knobloch ist konkret, obgleich er gar nicht konkret ist; er nennt Dinge, Leute, Zustände beim Namen, ohne sie beim Namen nennen zu müssen.“ Ich gestehe, nichts zu verstehen. Besser sieht es aus bei: „Aber wie der Autor sieht, erkennt und vermittelt: genau, unbestechlich, parteilich. Und geistreich!“ Volksverbundenheit und Parteilichkeit – das war einmal die große Losung in der DDR, als Forderung im Lauf der Jahre freilich mit stark nachlassender Drohwirkung. Nebenbemerkung: mir sind zwar schon reihenweise Menschen mit unbestechlichem Blick vor Augen geführt worden, noch nie aber einer mit bestechlichem Blick. Man sollte vermuten, solche gäbe es gar nicht, womit automatisch die gelobte Unbestechlichkeit ihren Eigenwert verlöre. Die Tücken der Logik nach vier Semestern. Zunächst hielt es Achim Roscher für denkbar, dass der „Theoretiker“ Knobloch seine Bestimmungen zur Sache eher in seinen eigenen Feuilletons als in seinem „Vom Wesen des Feuilletons“ in die Welt gebracht habe. Und findet „eine merkwürdige Harmonie von Betrachtungsgegenstand und Persönlichkeit des Betrachters; einen sauberen Stilisten mit dem festen Standpunkt des aktiven Marxisten.“
Schwer zu sagen, wie begeistert Knobloch über solche Etikettierungen war, zumal im nächsten Satz Roscher auch noch eine ebenfalls merkwürdige Reihenfolge erkennt: „Die Folge ist: Unterrichtung, Erkenntnisvermittlung, Belehrung und Unterhaltung.“ Unterhaltung als viertes Rad am Wagen ist sogar kursiv gedruckt. Ist sie die Petersilie auf den ersten drei Kartoffeln? Am Ende hat Roscher kein einziges Feuilleton mit seinem Titel genannt, kein Wort über die Gliederung des Buches, keine Begeisterung über einen gelungenen Satz, wo doch gerade gelungene Sätze das sind, weswegen der Vollblut-Feuilletonist am Morgen überhaupt sein linkes Bein zuerst aus dem Bett schiebt. Immerhin glaubt der Rezensent erkannt zu haben, dass Heinz Knobloch den vorderen Klappentext selbst schrieb und wir wissen sogar, dass einmal die Klappe für ein ganzes Feuilleton herhielt, das später noch mitten in ein Buch geriet. Dann aber schiebt Roscher knüppeldick nach: „Aber das Schönste an dem Knobloch-Buch ist zweifellos, dass man nicht Angst haben muss, bis zum Abendprogramm sein Kapitel nicht schaffen zu können. … Knoblochs Feuilletons kann man immer lesen, zum Beispiel vor Sendebeginn und nach Sendeschluss.“ Ich sage: Es geht auch auf dem Klo oder einer Gartenbank, im Liegen oder in der Hängematte schaukelnd! Was zum Teufel ist das für ein mies gequirlter Quark? „Man kann die Lektüre auch schadlos unterbrechen … man hat immer Gewinn.“