Jack London: Der Ruf der Wildnis
Vielleicht ist es nützlich, dem Blick auf das erfolgreichste Buch Jack Londons einen in seine kleine Schrift „Acht Ursachen für den literarischen Erfolg“ vorauszuschicken. Die reichlich zwei Druckseiten beginnen in meiner Ausgabe (Jack London: Ein Kapitel schließt, Ullstein 21037) mit dem deprimierenden Satz: „1987 kam ich in San Francisco zur Welt.“ Damit ist Jack London der einzige Schriftsteller, der 71 Jahre nach seinem Tod das Licht der Welt erblickte oder aber der Ullstein-Verlag wollte schon vor dreißig Jahren demonstrieren, dass Lektoren und Korrektoren in ehrgeizigen Häusern nur das Personal-Budget belasten und deshalb verzichtbar sind. Tatsächlich weiß aber jedes vierhundertmillionste Kind, dass Jack London 1876 geboren wurde und damit genau heute vor 140 Jahren. Nach dem ersten Satz geht es glücklicherweise pannenfrei weiter, wenngleich die acht Ursachen erst nach einem biographischen Abriss auf der zweiten Druckseite eine Chance bekommen. Im Telegrammstil: „Ungeheuer großes Glück. Gute Gesundheit; einen wachen Verstand; ein stimmiges Verhältnis zwischen Geist und Körper. Armut. Die Lektüre von Ouidas „Signa“ im Alter von acht Jahren. Der Einfluss von Herbert Spencers „Philosophy of Style“. Die Tatsache, dass ich zwanzig Jahre eher mit dem Schreiben begann als die Anfänger heutzutage.“
Nur wer schon sehr großen literarischen Erfolg hat, kann ihn so erklären. Die britische Autorin Maria Louise Ramé (1. Januar 1839 bis 25. Januar 1908), die unter dem Pseudonym Ouida publizierte, kennt vermutlich selbst die Fachwelt nicht mehr. Ihr Buch „Signa“, eines von mehr als 40 aus ihrer Feder, erschien zuerst 1875, neun Jahre später hat Jack London es gelesen. Es geht um einen körperlich kleinen italienischen Bergbauern, aus dem ein im ganzen Lande gefeierter Künstler wird. Herbert Spencer (27. April 1820 bis 8. Dezember 1903) wird mit allem eher zitiert als ausgerechnet seiner „Philosophy of Style“, die zuerst im Oktober 1852 in „The Westminster Review“ erschien und später in den Band 14 seiner Werkausgabe aufgenommen wurde. Soweit ich sehe, ist sie nie ins Deutsche übertragen worden, obwohl sie, wie englischsprachigen Internetseiten zu entnehmen ist, weit mehr als nur historisches Interesse beanspruchen könnte, thematisiert sie doch früh das, was in den Begriff einer „Aufmerksamkeitsökonomie“ einfließt, in Zeiten permanenter Reiz- und Informationsüberflutung wie der unseren eine Überlebenskunst vor allem in übersättigten Märkten. Jack London schreibt: „Mit dieser Lektüre lernte ich die subtilen und vielfältigen Mittel kennen, die notwendig sind, um den Gedanken, die Schönheit, Empfindungen und Gefühle in schwarze Zeichen auf weißem Papier zu übersetzen.“
Nicht die Evolutionsphilosophie Spencers, von der London vermutlich nicht mehr zur Kenntnis genommen hat als von den Theorien von Karl Marx, wird ihm rückblickend nennenswert, sondern eine eher als Nebenwerk zu sehende Abhandlung. Wenn spätere marxistisch-leninistische London-Erklärer immer wieder auf den eklektischen Charakter seiner Weltanschauung zu sprechen kommen, dann sind das unbillige Vorwürfe, noch ganz abgesehen davon, dass sie mit teilweise haarsträubenden Zutaten aus den Garküchen realsozialistischer Literaturdoktrin versetzt werden. Der berühmte Londoner Friedhof Highgate Cemetry vereint die Gräber von Spencer und Marx in ziemlicher Nähe und die Erde hat sich darüber bis heute nicht aufgetan. Jack London sah sich selbst der Wirklichkeit verpflichtet, von der er „nie auch nur um eine Haaresbreite“ abgewichen sein will. „Darüber hinaus wurde mir klar, dass die richtigen Zeichen diejenigen sind, die meinem Leser ein Minimum an geistiger Anstrengung abverlangen, damit ein Maximum an geistiger Energie übrigbleibt, um meine Mitteilung auf seine Weise erkennen und genießen zu können.“ Mit dem Buch „Der Ruf der Wildnis“ (The Call of the Wild) aus dem Jahr 1903 ist London das in einem solche Maße gelungen, dass nicht nur die Erstauflage von 10.000 Exemplaren am Erscheinungstag vergriffen war, sondern schließlich sechs Millionen ihre Käufer und Leser fanden.
Diese Zahl ist alles andere als aktuell, denn sie stammt ursprünglich aus dem Jahr 1975 und ist zuletzt 2006 ungeprüft wiederholt, also vermutlich einfach nur abgeschrieben worden. Eine Quelle bezieht die Zahl gar nur auf die in den USA verkauften Exemplare, also kämen alle anderen in der ganzen Welt auf alle Fälle noch hinzu. Ganz sicher ist dagegen die Zahl von sieben Kapiteln, die das Buch enthält, sie sind unterschiedlich lang und haben alle separate Überschriften. Im Mittelpunkt steht Buck, zu Beginn 127 Pfund schwer, sein Vater ein riesiger Bernhardiner namens Elmo, seine Mutter die schottische Schäferhündin Shep. Buck gehört zu Haus und Anwesen des Richters Miller in Kalifornien, ist die unumstrittene Nummer 1 unter den Hunden dort und führt ein Leben „wie ein begüterter Aristokrat … er war sich seines Wertes wohl bewusst, ja er war sogar ein wenig selbstgefällig, wie es Landedelleute infolge ihrer abgesonderten Stellung zuweilen werden.“ Er ist vier Jahre alt, als ein Angestellter, den Spielschulden drücken, ihn entführt, um ihn an Männer zu verkaufen, die dem Lockruf des Klondike-Goldes im hohen Norden folgen und dafür vor allem gute Schlittenhunde brauchen. Buck macht gleich im ersten Kapitel eine prägende Erfahrung: „Ein Mann mit einem Knüppel ist ein Gesetzgeber, ein Herr, dem man gehorchen muss, wenn es auch nicht unbedingt nötig ist, sich bei ihm einzuschmeicheln.“
Wenn es im siebten und letzten Kapitel schließlich heißt: „Das letzte Band war zerrissen. Der Mensch und die Ansprüche der Menschheit hielten ihn nicht mehr.“, dann ist der weite Weg bezeichnet, den der vierbeinige Landedelmann Buck geht, ehe der allerletzte Satz des Buches über ihn lauten kann: „Aus seiner mächtigen Kehle dringen heulende Laute, wenn er sein Lied von der Urwelt, das Lied des ganzen Rudels singt.“ Jack London hat eine packende Tiergeschichte geschrieben, deren gewaltiger Erfolg ihn selbst überraschte und die von manchen seiner Biographen für das beste gehalten wird, was er überhaupt schrieb. All diese Biographen bringen die Geschichte Bucks mit Charles Darwin in Verbindung, wobei sie das „Survival of the Fittest“ ihm fälschlich zuordnen, denn dieser spezielle Gedanke stammt von Herbert Spencer. Nirgends aber fand ich, was bei einer Geschichte, die als Rückkehr zur Natur erzählt wird, schon leise merkwürdig ist, den Namen Rousseau, auch der Name Thomas Hobbes findet sich nicht, obgleich er doch so etwas wie der Stammvater der Wolfs-Metapher für kapitalistische Gesellschaftsverhältnisse ist. Der Geschichte Bucks nimmt das nichts, ihren Deutern freilich einiges, wo sie sonst doch nach den entferntesten Bezügen greifen, um intertextuelle Fitness zu demonstrieren.
Mit einer überraschungsfreien Folgerichtigkeit rollt das Erleben Bucks ab, die Erfahrungen, die er sammelt, könnten als Maximen in ein Lehrbuch finden. Mit dem ersten Schnee beginnt es nur. „So ging das also hier zu. Anstand und Gnade gab es nicht. Wenn man einmal zu Boden ging, war man erledigt.“ Und: „Wenn er wählerisch und vornehm seine Mahlzeit zu sich nahm, musste er entdecken, dass seine Gefährten, die schneller damit fertig waren, ihm den Rest des Futters wegfraßen.“ Buck begeht seinen ersten Diebstahl: „Der Diebstahl zeigte fernerhin den Niedergang oder den völligen Zusammenbruch seines moralischen Bewusstseins, das im rücksichtslosen Kampf ums Dasein wertlos, ja geradezu hinderlich war.“ Und plötzlich gibt es überraschende Parallelen zum Tramp Jack London, der eine Prügelorgie gegen Frau und Kind beobachtet: „... so wurde die Vollständigkeit seiner Verwilderung dadurch gekennzeichnet, dass er jetzt imstande war, der Verteidigung einer guten Sache auszuweichen und dadurch seine Haut zu retten.“ Es ist von der Verwilderung des Hundes die Rede, wohlgemerkt. Schon im dritten Kapitel heißt es einigermaßen unliterarisch: „Das Raubtier der Urzeit war in Bucks Erbmasse dominant und kräftig entwickelt.“ Buck hat später gar Traumbilder aus einer Zeit mit behaarten, aufrecht gehenden wilden Männern.
Zu allem, was Buck an Eigenschaften hat, mitbringt und neu erwirbt, tritt eines, das Jack London so beschreibt: „Doch Buck besaß eine Eigenschaft, die erst wahre Größe ausmacht – Phantasie. Er kämpfte aus Instinkt, doch er konnte auch mit dem Kopfe kämpfen.“ Auch hierzu könnte man das Selbstbild des Tramps Jack London in „Abenteuer des Schienenstrangs“ heranziehen. Es ist müßig, genau diese Fähigkeit anhand wissenschaftlicher Erkenntnisse über Hunde in Zweifel zu ziehen, was man sicher begründet tun könnte, es handelt sich um Literatur. Problematischer gestaltet es sich, dies einfach als Literatur zu nehmen: „Es gibt eine Ekstase, die den Höhepunkt des Lebens ausmacht, über die hinaus das Leben sich nicht zu steigern vermag, und eine Paradoxie, der alles Lebendige unterliegt, will es, dass diese Ekstase eintritt, wenn man am lebendigsten ist, und dass sie gleichzeitig in uns die Bewusstheit des Lebens völlig übertönt. Diese Ekstase, dieses unbewusste Leben, ergreift den Künstler, den eine Flamme einschließt und der darin völlig über sich hinauswächst; sie erfasst den Soldaten, der nach dem Kampf auf dem Schlachtfeld kriegstoll wird und keinen Pardon annimmt; und sie kam über Buck ...“. Der Künstler im Schaffensrausch, verglichen mit dem Soldaten im Schlachtenrausch, das fordert klar entschiedene Widerrede.
Leider haben jene Biographen Londons, die übereinstimmend davon schreiben, dass der Autor von „Der Ruf der Wildnis“ es abgelehnt habe, seine Geschichte als eine Allegorie gedeutet zu sehen, es versäumt, eine belastbare Quelle für diese ihre Behauptung anzugeben, auch hier ist also eine einfache Übernahme von einem zum anderen wahrscheinlich, ohne eigene Prüfung am Original. Buck arbeitet in Regierungsdiensten, in Postdiensten und fällt schließlich nach erneutem Besitzerwechsel in die Hände von unglaublichen Amateuren. In letzter Not wird er vom schon akzeptierten Tod errettet, eine ausgleichende Gerechtigkeit lässt ihn mit seinem neuen Herrn noch aus der Ferne sehen, wie seine Plagegeister ihrer eigenen Unfähigkeit zum Opfer fallen und im Fluss ertrinken. Doch der Ruf der Wildnis ist längst erklungen, die inneren Bilder verschwinden nicht mehr einfach. „Weit machtvoller wirkten Erinnerungen auf ihn ein, die er als Erbmasse in sich trug und die ihm scheinbar vertraute Bilder von Dingen vor Augen führten, die er nie zuvor erblickt hatte; es waren die Instinkte (die nichts anderes als zu Verhaltensweisen gewordene Erinnerungen seiner Vorfahren darstellten, die später in ihm abgeklungen und noch später wieder aufgelebt und zu vollem Dasein erwacht waren.“ Auch das ist natürlich Literatur, nicht Wissenschaft.
In einfacher, aber wirkungsvoller Dramaturgie lässt Jack London einem äußerst düsteren Kapitel ein lichtes, freundliches folgen. Die Leser erleben jetzt einen Buck, der erstmals in seinem Hundeleben einen Herrn im wahren Sinne des Wortes liebt, dieser Mann heißt John Thornton und fällt wie seine beiden Gefährten im Finale einem brutalen Indianer-Angriff zum Opfer. Vorher aber schafft Buck Unglaubliches, verdient für Thornton eine Menge Dollar und macht so die weitere Reise in eine Gegend möglich, wo tatsächlich so viel Gold zu gewinnen ist, dass die tägliche Ausbeute im vierstelligen Dollarbereich liegt. Im sechsten Kapitel stehen jene Sätze, die besonders gern zitiert werden, wenn es um den Geist des Buches geht: „Er musste überwinden oder überwunden werden, und Mitleid zeigen, war nichts als Schwäche. … Töten oder getötet werden, fressen oder gefressen werden, hieß es hier, und diesem aus den Tiefen der Vergangenheit entsprungenen Gesetz gehorchte er.“ John Thornton lässt Buck sehr viel Freiheit, der Hund unternimmt weite Streifzüge, zum Teil tagelange, um dann doch wieder ins Lager zurückzukehren. Und dann trifft er auch den ersten echten wilden freien Wolf. „So gebieterisch lockten ihn diese Schatten, dass mit jedem neuen Tag die Menschen und die Ansprüche der Menschen immer weiter von ihm abglitten.“
Und immer noch lernt Buck, der John Thornton aus dem Wasser rettete und ihn dann vor den Indianern nicht retten kann. Nur rächen kann er ihn und er tut das auf sehr blutige Weise. Vorher aber: „Für Buck war dieses Jagen, Fischen und ziellose Umherstreifen im unbekannten Gebiet die Quelle höchsten Entzückens.“ Und: „Er wusste, dass er jetzt endlich dem Rufe folgte, als er an der Seite seines Waldbruders der Stelle zueilte, woher ganz gewiss der Ruf erklang.“ Buck erlegt einen schwarzen Bären und einen großen Elchbullen, in beiden Fälle zeigt er alles, was er hat und kann und dann kehrt er ins Lager zurück, wo alle tot sind. Letztmalig handelt er ohne Überlegung und in blinder Wut, lässt „die Leidenschaft Herr über seine Schlauheit und seinen Verstand“ werden, das Ergebnis: „Er hatte den Menschen getötet, das edelste Wild von allen, und er hatte ihn unter dem Faustrecht von Knüttel und Reißzahn getötet.“ Das Gold haben die Yeehat-Indianer nicht mitgenommen, der für sie riesige Hund aber ist ihnen wie ein böser Geist erschienen. Für Buck beginnt nun das Leben an der Spitze eines Wolfsrudels. Das Ende ist nicht ohne Pathos. Hat Jack London tatsächlich „sozialdarwinistisches Gedankengut mit zivilisationsfeindlichen Ansichten“ verknüpft, wie die Autoren von „Literatur der USA im Überblick“ (Reclam Leipzig) behaupten?
Einer wie Jack London, der sich von den unerwarteten Einnahmen aus dem Doppelverkauf von „Der Ruf der Wildnis“ an den Buchverlag Macmillan und an die Zeitschrift „Saturday Evening Post“ als erstes sofort ein Segelboot kaufte und den grenzenlos freigebigen Gastgeber spielte, bis zu hundert Gäste sollen jeden Mittwoch gekommen sein zum Leidwesen der Gattin Bessie, konnte gar nicht zivilisationsfeindlich sein, kritisch dagegen sehr wohl. „In Bucks Rückkehr zur Natur spiegelt sich Jack Londons eigenes Fluchtverhalten gegenüber der kapitalistischen Gesellschaft wider“, behaupten die DDR-Amerikanisten Schönfelder und Wirzberger. Nach Eberhard Brüning, einem weiteren DDR-Amerikanisten mit Deutungshoheit und Professorentitel, „übertrug er das Wolfsgesetz der kapitalistischen Gesellschaftsordnung auf die Tierwelt.“ Dies wäre umgekehrter Sozialdarwinismus gewesen. Dieser Unfug ist offenbar niemandem aufgefallen, sonst wäre er sicher kaum in einem Lexikon gelandet, was er aber tat. Laut Michail Krausnick zeigt London „brutale sozialdarwinistische Ideen von natürlicher Auslese und dem Überleben des Stärkeren“. Sehr viel ist also auch in Heidelberg ansässigen Autoren nicht eingefallen. Dabei wäre allein der auffallende Umstand, dass sich Buck nie aktiv für Hündinnen interessiert, schon ein Aspekt für den Anfang.