Jack London: Wolfsblut
Den zwölften Geburtstag hatte ich schon hinter mir, als ich zuerst „Wolfsblut“ las und ich hatte auch „Der Wolf von Winnipeg“ hinter mir und „Tierhelden“ von Ernest Thompson Seton. Ob ich über Sätze wie die folgenden hinweg las, oder wie sie auf mich wirkten, weiß ich nicht mehr. „Es drängte sie bis in die tiefsten Winkel ihrer Seele zurück und quetschte aus ihnen, wie den Saft aus der Taube, alles falsche Streben, alle unwahre Begeisterung, alle übertriebene Wertschätzung irdischer Dinge heraus, bis sie sich klein und unbedeutend vorkamen wie Sonnenstäubchen, die mit wenig Klugheit und geringer Weisheit im Fangballspiel der großen, blinden Naturkräfte sich hin und her bewegten.“ Die Rede ist vom Schweigen. Der Norden erscheint so: „Vielmehr lag es wie ein Lachen darüber, ein Lachen, schrecklicher als jede Traurigkeit, freudlos wie das Lächeln der Sphinx, kalt wie der Frost und grimmig wie die Notwendigkeit. Die unerbittliche, unerforschte Weisheit des Ewigen lachte da über die Nutzlosigkeit des Lebens und seiner Anstrengungen. Es war die echte Wildnis, die ungezähmte, kaltherzige Wildnis des Nordens.“ Heute bin ich mir ziemlich sicher, dass Jack London sehr viel Ehrgeiz in solche Sätze steckte und schließlich auch stolz auf sie war. Sein Metier aber waren sie nicht. Heute würde ich ein Buch mit solchen Sätzen eher weglegen.
Damals aber war ich, das weiß ich nun wirklich noch, empört, dass dasselbe Buch auch „Weißzahn, der Wolfshund“ heißen sollte. Mir schien Weißzahn als Name für einen Hund unmöglich, für den Originaltitel „Whitefang“ interessierte ich mich selbstverständlich noch nicht. Auch irritierte mich die Tatsache nicht, dass „Wolfsblut“ von einem M. Laue übersetzt wurde und nicht, wie alle anderen Jack-London-Bände in meiner Reichweite, von Erwin Magnus. Die Ausgabe des Paul List Verlages Leipzig 1953 enthielt auch weder Vor- noch Nachwort und als der Leipziger Reclam-Verlag den Text übernahm, mein Band 153 gehört schon zur vierten Auflage, kam weder das eine noch das andere hinzu. Vielleicht waren die Herausgeber der Meinung, es würde die Leser nur verunsichern, von Sozialdarwinismus und blonder Bestie zu lesen, der Name Herbert Spencer hätte vielleicht sogar unerwünschte Neugier geweckt. Als Dichter der Arbeiterklasse apostrophiert, hätte Jack London als Objekt einer sonst üblichen Weltanschauungsanalyse ein wenig passendes Bild abgegeben, denn der DDR-Bürger lernte im Parteilehrjahr und verwandten Weiterbildungen, wie schlimm etwas ist, was Eklektizismus genannt werden muss. Ein Gebräu aus Marx, Darwin, Nietzsche, Herbert Spencer hätte diagnostiziert werden müssen und wurde ja dann auch.
„Wolfsblut“ aber, in auffallend vielen Darstellungen von Leben und Werk Jack Londons fehlt das Buch ganz, hatte ein wenig den Ruf eines Zweitaufgusses. Das Original war in dieser Sicht der Hund Buck, der dem Ruf der Wildnis folgt, hier folgt Whitefang umgekehrt dem Ruf der Zivilisation. Die freilich bei London nicht sonderlich gut weg kommt. Also Rolf Italiaander und Heinrich Rentmeister lassen „Wolfsblut“ einfach aus. Rolf Recknagel aber taucht umgehend in die Analyse der Blutes ein: „Die biologische Konstitution von Weißzahn ist nicht rein wölfisch, weil seine Mutter Kische bereits als Schlittenhund im Dienste der Indianer stand.“ Dies klingt heftig nach einer altbekannten Theorie der Vererbung erworbener Eigenschaften, denn der Dienst als Schlittenhund verändert natürlich die biologische Konstitution nicht, bestenfalls das Verhalten. Dies aber, und das führt London im ersten Teil vor, ist das Verhalten einer sehr intelligenten Wölfin mit hochentwickelter Rudelbindung, die eben bei zivilisierten Hunden kaum vorkommen dürfte. Zwischen dem ersten Teil mit seinen nur drei Kapiteln und den folgenden mit ihren fünf und sechs Kapiteln liegt ein Bruch der Perspektive, der in seiner Naivität so gar nicht zu den hochgestochenen Sätzen des ersten Kapitels passen will, das eher auf eine Überreflexion deutet als auf Naturwuchs.
Rolf Recknagel sieht im schönen Schmitt, der aus Wolfsblut einen gefürchteten Kampfhund macht, den extremen Vertreter der weißen Zivilisation des nordamerikanischer Kapitalismus. Am anderen Ende der Skala verortet er Weedon Scott und seinen superreichen Clan, er „wird zum Sinnbild der humanistischen Kräfte schlechthin.“ Die Bezüge zu Larsen, dem „Seewolf“, fehlen natürlich auch nicht, grundsätzlich aber ist festgehalten: „Während wir eingangs der Tiergeschichte den Kampf auf Leben und Tod zwischen Mensch und Raubtier in der Wildnis erlebten, finden wir im Schlusskapitel die triumphale Freundschaft zwischen Mensch und Haustier. Die lebensbejahenden Ideen und Kräfte dominierten und demonstrierten gleichzeitig einen Grundzug im Gesamtwerk von Jack London.“ Das schließlich doch traurige Fazit: Die marxistisch-leninistische Sicht auf die Geschichte von „Wolfsblut“ verbeißt sich so sehr in die politisch-ideologisch-weltanschauliche Diagnostik, dass das Literarische einfach außerhalb des Blickfelds bleibt. Allenfalls werden Londons Fehltritte Richtung Sozialdarwinismus mit eigenen Lebenserfahrungen entschuldigt. Der von Recknagel zitierte Friedrich Engels hilft nicht weit, denn Wolfsgesetz und Kapitalismus der freien Konkurrenz funktionieren im Vergleich nur, wenn beide zielstrebig verkannt werden.
Was man Jack London aus heutiger Sicht zum Vorwurf machen könnte und es wäre ein sehr alberner Vorwurf, ist seine Unkenntnis der Ergebnisse der modernen Verhaltensforschung. Denn tatsächliche Wölfe im Rudel verhalten sich ganz erstaunlich sozial, während die freie Konkurrenz die Varianten ihres Vollzugs klar in den agierenden Individuen hat. Der schöne Schmitt ist eben zuerst ein durchschaubar konstruierter Charakter, dessen Agieren fast unangenehm monokausal erklärt wird. 1958 erschien zum Preis von 40 Pfennig ein 24 Seiten starkes Heft einer Reihe „Weltberühmte Geschichten in Bildern“, gemeinsam verantwortet von den Verlagen Junge Welt Berlin und Ifjúsági Lapkiadó Vállalat Budapest. Auf nicht weniger als fünf der farbigen Bilder sieht man diesen Schmitt, er ist blond, rotnasig, ihm fehlt vorn ein Zahn, dicke Lippen, abstehende Ohren, zu allem schielt er auch noch. Man sieht ihn mit Kette und Peitsche bewaffnet, wie er Wolfsblut bei Weedon Scott stehlen will und man sieht ihn in panischer Angst am Boden liegend, Wolfsblut über ihm, seine Kehle suchend. London beschreibt die Hässlichkeit des bösen Mannes: „die Augen groß und so weit voneinander entfernt, das noch ein paar dazwischen Platz gehabt hätte.“ Und: „Schmitt war wie alle Feiglinge grausam.“ Und Weedon Scott verprügelt ihn.
Was Jack London seinen tierischen Helden lernen lässt, ist vor allem in der Zeit als „Wölflein“ von großer Poesie. Seine Erfahrungen mit Eichhörnchen, mit einer tapferen Schneehuhnmutter, mit einer Luchsin, aber zunächst allein das Erleben der durchsichtigen Wand des Höhlenausganges, das alles ist faszinierend einfühlsam aufgeschrieben, als hätte der Autor eigene Erlebnisse vor sich. „Man konnte ja niemals wissen, was geschehen würde, denn wo lebende Wesen im Spiel waren, geschah alles immer anders, als man dachte.“ heißt es einmal. Ein andermal: „Hätte das Wölflein nach Menschenweise überlegt, so hätte es das Leben als eine gefräßige Gier bezeichnet und die Welt als einen Ort, worin zahllose ähnliche Begierden herrschten, die sich verfolgten, sich jagten, sich gegenseitig vernichteten, all das wirr und blind, gewalttätig und ohne Ordnung, ein wildes Durcheinander, gelenkt nur durch den Zufall, unbarmherzig, plan- und endlos.“ Und: „Selbst Zorn und Kampf waren Genuss. Sogar der Schreck und das Geheimnis des Unbekannten erhöhten das Lebensgefühl.“ Das ist natürlich Jack London selbst mit seiner Lebenserfahrung, seiner Sicht auf die Welt. Es ging und geht ihm, als er sich dessen bewusst geworden ist, um erhöhtes Lebensgefühl. Das erhöht ihn auch über andere Menschen. Dass er just danach strebt, bildet ihm lange Jahre keinen Gegensatz zu seinen gefühlssozialistischen Gleichheits-Überzeugungen.
Wie Bill und Heinrich im ersten Teil sich mit ihrem Gepäck, einer Leiche in einer Kiste sowie den immer weniger werdenden Schlittenhunden durch den hohen Norden kämpfen, ist in der Tat eine Szenerie, die so oder ähnlich mehrfach vorkommt bei Jack London. Es steht freilich nirgends geschrieben, dass das Selbstzitat der einen Gruppe von Autoren erlaubt, der anderen aber bei Strafe der Missachtung verboten sei. Spannende Literatur hat eine Zutatenliste und nicht die Aufgabe, sich deren zu schämen. Bei den Indianern lernt Wolfsblut erstmals vollkommen neue Gefühle kennen: „Allein, das seltsamste war, dass Wolfsblut, wie die Hand ihn hin und her rollte, ein unerklärliches Vergnügen empfand.“ Und er verliert seine Mutter, die er erst viel später wieder sieht. „Der Mensch hat oft das Unglück, dass ihm seine Götter vom Altare gestoßen werden oder dass sie zu Staub zerfallen; der Wolf aber oder der wilde Hund, der aus der Wildnis zu dem Menschen kommt, erfährt diesen Kummer nicht.“ Die Indianer sieht Wolfsblut differenziert: „Er erkannte, dass bei den Menschen die Männer meistens gerecht, die Kinder grausam und die Frauen gutmütig genug wären.“ Sie reichen das Fleisch in der Mehrzahl aller Fälle, das bestimmt ihren Wert. Wolfsblut lernt nun sogar, in einem Schlittenhunde-Gespann zu arbeiten und er arbeitet gut.
Freunde des weltweiten Kampfes gegen Kinderarbeit sollten in einer stillen Stunde diesen Satz lesen über einen Indianerjungen in Alaska: „Dieser Schlitten war mehr ein Spielzeug, aber Mitsahs ganzer Stolz und ganze Freude, weil er fühlte, er beginne damit, in der Welt die Arbeit eines erwachsenen Mannes zu verrichten.“ Wir ahnen, dass das auch für Jack London einmal ein ganzer Stolz war, der sehr früh und sehr hart arbeiten musste. Biographen schreiben, dass er streng genommen gar keine Kindheit hatte und dass er deshalb sein Lebtag ein großes Kind geblieben sei. So erklärt sich die Küchenpsychologie die Welt und und liegt dabei gar nicht so selten richtig. Sadist Schmitt schafft es, Wolfsbluts Herrn Grauer Biber so sehr alkoholabhängig zu machen, dass der sogar auf Wolfsblut verzichtet, nachdem er alles schon vorher verlor, was er hatte und das war gar nicht wenig gewesen. Wolfsblut wird mit Hunger und Prügel gefügig gemacht und bringt seinem neuen Herrn viel Geld, bis der Mann mit der Bulldogge kommt, die ihn an der Kehle packt und einfach nicht mehr loslässt. Erstmals unterliegt Wolfsblut und ist dem Tode nah. Hier kommt die Rettung in letzter Sekunde nach bester Spannungsdramaturgie: Weedon Scott, der Schmitt verprügelt, Wolfsblut rettet und mühsam wie kenntnisreich sein Vertrauen gewinnt.
Weedon Scott nimmt Wolfsblut mit nach Kalifornien, in den Süden, in eine vollkommen andere, neue Welt. Wieder ist vor allem ein Lernprozess abgebildet. Wolfsblut lernt, mit anderen Tieren umzugehen, lernt, dass man Haustiere respektiert, Wildtiere aber dennoch jagen darf. Er tötet fünfzig Hühnchen, wird dann aber dazu gebracht, und zwar ohne brutale Erziehungsgewalt, das nicht nur nicht mehr zu tun, sondern sich gar nicht mehr um sie zu kümmern. Die Freundschaft des Hundes Dick schlägt er aus, mit Collie hat er seine Fehden, drei Hunden, die absichtlich auf ihn gehetzt werden, darf er zeigen, wer er ist, er tötet zwei. Jack London erzählt, mit welchen Methoden und Grundsätzen Scott das Tier dazu bringt, ihn nicht nur zu achten, sondern nach allen Regeln der Kunst zu lieben. Wolfsblut steckt als höchstes Zeichen seiner Liebe seinen Kopf unter Scotts Arm. Und er rettet Scott das Leben: als er nach einem Sturz vom Pferd hilflos liegen bleibt, bringt er Hilfe. Fast am Ende fällt er selbst beinahe einem Schwerverbrecher zum Opfer, aber auch er wird gerettet, wird gesund gepflegt und kommt zu alten Kräften. Als erwachsener Leser fragt man sich allerdings fast bis zum Ende, warum sich dieses Wolfsblut offenbar überhaupt nicht für das andere Geschlecht interessiert, wenngleich man ahnt, dass Collie doch eine Rolle spielen werde.
Auch in Jack Londons eigenem Leben spielt das andere Geschlecht ja eine spezielle Rolle, auf die hier nicht eingegangen werden soll. Wirklich lustig ist die Naivität meines Wolfsblut-Bilderbuches in dieser Hinsicht. Denn Jack London schildert Collie als Schäferhündin, den Hund Dick nennt er einen Jagdhund. Das Bilderbuch aber zeigt auf der letzten Seite einen Collie-Hündin, die deutlich größer ist als Wolfsblut, dazu drei Welpen, die alle keinerlei Ähnlichkeit mit Wolfsblut haben, rührend aber der Text: „Endlich konnte der liebe gute Wolf sein Krankenlager verlassen. Noch ein wenig schwach, lief er langsam in den Garten hinaus. Da erblickt er Collie mit ihren Jungen; und er legte sich zu ihnen in die Sonne und duldete es mit väterlicher Würde, dass die Kleinen auf ihm herumkletterten und Purzelbäume schossen.“ Ja, Wolfsblut ist auch bei London der liebe gute Wolf geworden, nachdem er den Einbrecher Jim Hall tötete, der den alten Richter Scott umbringen wollte. Ein Autor namens Utz Anhalt hat sich übrigens (im Internet) auch nicht lange ans Buch gehalten und Collie eine Colliehündin genannt. „Die Parallelen zwischen „Wolfsblut“ und Jack London selbst sind jedoch eindeutig: Er schlug sich als Abenteurer in der Wildnis durch, als Obdachloser und als Glücksritter. Am Ende seines Lebens etablierte er sich aber mit seinen Romanen in genau der bürgerlichen Gesellschaft, die er (und die ihn) verachtete.“ Oder so ähnlich.