Anni Carlsson: Arthur Eloesser

Google kann so grausam sein. Wer den Namen Anni Carlsson eingibt, stößt zunächst auf Dutzende Suchergebnisse zu einer Modedesignerin gleichen Namens. Das wird suchende Frauen womöglich sehr freuen, wer aber auf den Spuren der Germanistin und Übersetzerin vor allem skandinavischer Literatur unterwegs ist, muss selbst auf den Wikipedia-Eintrag zu ihr bis zur vierten Seite warten, der dann erwartungsgemäß (fast erwartungsgemäß, schränke ich ein), auch Fehlstellen enthält, die sich leicht entdecken lassen. Wie auch immer, Anni Carlsson (1. November 1911 – 20. Februar 2001) hat ein recht umfangreiches Werk hinterlassen, das in einem Falle sogar von einem Mut zeugt, der fast an Hasard grenzt. Sie unternahm es, nach einem offenbar abgebrochenen ersten Versuch beim Stuttgarter Verlag Kohlhammer (Reihe Sprache und Literatur, Band 10), von dem nur ein Band I bis 1850 erschien, im Verlag Francke Bern und München auf weniger als 400 Seiten (!!) vorzulegen: „Die deutsche Buchkritik von der Reformation bis zur Gegenwart“. Also: 500 Jahre Buchkritik auf weniger als 400 Seiten. Andere wären, wenn sie überhaupt die Idee zu einem solchen Unternehmen gehabt hätten, an der schieren Fülle des zu überblickenden Materials verzweifelt, sie hätten nicht nur sehr bald das Handtuch geworfen, sondern wohl den kompletten Wäscheschrank hinterher. Anni Carlsson aber fing vorne an und hörte hinten auf und das mit solidem Register.

Der Blick in dieses Register aber, die Vorbemerkung zum Buch stammt vom Herbst 1968 und umfasst nur eine halbe Seite, offenbart dies: Anni Carlsson war offenbar nach 1945 die erste, die dem Buchkritiker Arthur Eloesser (20. März 1870 – 14. Februar 1938) mehr als nur erwähnende, gar aufzählende Aufmerksamkeit widmete. Damit war sie innerhalb der bis heute bescheidenen Eloesser-Literatur die zweite in zeitlicher Folge: nach Doris Schaaf, die mit ihrem 1963 in der von Hans Knudsen herausgegebenen Reihe „Theater und Drama“ des Colloquium Verlags Berlin-Dahlem erschienenen Buch (Band 21), der Titel verrät es, einen anderen Schwerpunkt setzte: „Der Theaterkritiker Arthur Eloesser“. Es ist ein in mehrfacher Hinsicht unglückliches Buch, Schaaf hat weder vorher je noch nachher je wieder zum Schrifttum deutscher Sprache beigetragen. Ich komme bei passender Gelegenheit ausführlich darauf zurück. Der Theaterkritiker Eloesser hat derzeitiger Übersicht zufolge einige Hundert Texte hinterlassen, von denen die allerwenigsten bis heute neu gedruckt wurden. In dieser Hinsicht verhält es sich mit dem Literaturkritiker etwas günstiger, denn die 1988 geborene Tina Krell hat im Vergangenheitsverlag ein so umfängliches wie unhandliches Buch mit dem Untertitel „Die frühen Feuilletons Arthur Eloesser von 1900 – 1913“ vorgelegt, in dem Literaturkritiken und Charakteristiken sogar dominieren. Der Haupttitel lautet schlicht „A.E.“.

Anni Carlsson hat also definitiv Pionierarbeit geleistet. Von dieser Aussage ist selbst dann nichts zurückzunehmen, wenn ich abschließend sehr gravierende Einwände formulieren, bestimmte, sich allein aus dem Umfang ihres Buches unvermeidliche herleitende wissenschaftliche Defizite auf den Punkt bringen muss. Erst das Löbliche. Carlsson ruft den Namen Eloesser erstmals auf im Umfeld einer Kritik an Rudolf Borchardt (9. Juni 1877 – 10. Februar 1945). Der hatte geschrieben: „Die literarische Kritik, die in deutschen Zeitungen und Zeitschriften ausgeübt wird, hat weder durch den Grad ihrer Erziehung noch durch den ihrer Einsichten den gemeinsten Anspruch auf Achtung“. Dem hält Carlsson zum Gegenbeweis die „Neue Rundschau“ und die „Süddeutschen Monatshefte“ entgegen. Letztere erschienen von 1904 bis 1938 in München, erstere gibt es heute noch und hat den allerbesten Ruf. Unter den Namen, die Carlsson nennt, ist auch Eloesser (neben Alfred Kerr, Oskar Bie, Moritz Heimann, Hermann Bahr und Josef Hofmiller). Bis auf Kerr werden die anderen Namen sicher nur Insidern etwas sagen, was natürlich nicht gegen sie spricht. Das Kapitel, in dem Eloesser im Buch zuerst ausführlicher, ja sogar sehr ausführlich selbst, zu Wort kommt, trägt den Titel „Die parteiische Kritik der Jahrhundertwende“. Und es geht um den Roman „Buddenbrooks“ von Thomas Mann. Der liefert gewissermaßen das Fallbeispiel mit Eloesser in einer Hauptrolle.

Arthur Eloesser wird angesichts des Gesamtumfangs des Buches extrem ausführlich mit seiner Besprechung aus der „Neuen Rundschau“, Heft 12, Jahrgang 1901, zitiert. Das kann und soll hier nicht wiederholt werden, dafür aber Carlssons Einschätzung, Eloesser sei „einer der zuverlässigsten Kritiker“ gewesen, was immer das zunächst bedeuten mag. Nach einer fast kompletten Druckseite Zitat resümiert sie: „Das ist, etwas, oberlehrerhaft, ganz noch die Sichtweise des älteren Realismus. Eloesser misst mit den herkömmlichen Maßstäben; er nimmt nicht wahr, wie sehr die „dionysisch“ kontrastierende Bewegung des neuen Romanciers, die musikalische Struktur seiner Epik, ihr zartes Filigranmuster sich von den bisherigen Hervorbringungen des Realismus unterscheiden.“ Eine solche Aussage ist nur möglich, sage ich vorausdeutend, wenn man es, der selbstgewählten Basis zufolge, nicht besser weiß. Denn oberlehrerhaft ist Eloesser nie, nicht jedenfalls in den wirklich zahlreichen Kritiken von seiner Hand, die ich bisher lesen konnte, gewesen. Und der Begriff des Herkömmlichen, immer wieder gern benutzt von Pseudo-Avantgardisten, die in Kunst und Literatur ausdauernd das vergängliche stets Neue, nie das Haltbare, gar Klassische mögen und herausstellen, eben wegen seiner Herkömmlichkeit, sagt regelmäßig über seinen Benutzer mehr als über den Gegenstand, den er behandelt. Niemand ist heute vergessener als der Avantgardist von gestern.

Anni Carlsson stellt, immer ausschließlich auf „Buddenbrooks“ bezogen, die Kritiker Eloesser, Josef Hofmiller (26. April 1872 – 11. Oktober 1933) und Hermann Bahr (19. Juli 1863 – 15. Januar 1934) einander gegenüber, was bei Bahr insofern problematisch ist, als er Kritiker eher nur im Nebenberuf war. Er schrieb selbst Romane, Theaterstücke, Novellen. Die vorgeblich mangelhafte Hellhörigkeit, die Hofmiller und Eloesser hinsichtlich Thomas Mann teilen sollten, wird allein durch die Tatsache konterkariert, dass Arthur Eloesser 1925 anlässlich des 50. Geburtstages von Thomas Mann die erste deutschsprachige Monographie über ihn publizierte („Thomas Mann. Sein Leben und sein Werk“, S. Fischer Berlin 1925). Carlsson selbst zitiert weiter hinten im Buch eine der beiden überaus wohlwollenden Besprechungen, die Thomas Mann der Literaturgeschichte Eloessers in zwei Bänden widmete (ebenfalls in der „Neuen Rundschau“ übrigens). Zu Wort kommt Eloesser noch im selben Kapitel zu Eduard von Keyserling und seinem Roman „Bunte Herzen“. Den Balten (14. Mai 1855 – 28. September 1918) sieht er vor allem im Einfluss auf andere. Auch hier ist die Quelle die „Neue Rundschau“. Es wird klarer, welches Problem ich in dieser Geschichte der Buchkritik zunehmend wahrhaben muss: Anni Carlsson kennt zweifellos keinerlei andere Kritiken Eloessers, der eben viele, viele Jahre prägender Kritiker für die „Vossische Zeitung“ war.

Als eine seiner besten Kritiken kennzeichnet Anni Carlsson jene, die Eloesser dem Roman „Klaus Hinrich Bass“ von Gustav Frenssen (19. Oktober 1863 – 11. April 1945) widmete. Zu finden, nun schon keine Überraschung mehr, im Jahrgang 1919 der „Neuen Rundschau“. Dass Eloesser auch in der „Vossischen Zeitung“ sehr ausführlich über Frenssen schrieb, sei hier nur angemerkt. Carlsson kommentiert: „Sarkastisch waltet Eloesser seines vielgeschmähten „Literaten“amtes: den markigen Draufgänger mit unbestechlichem Kunstverstand nach Hause zu schicken.“ Als es um Hermann Hesse geht, hat die Autorin leider keinen Eloesser zur Hand, obwohl der schon sehr früh und sehr prägnant zu ihm schrieb, nur eben leider nicht in der „Neuen Rundschau“. Das Kapitel endet resümierend, abermals bekommt Eloesser ein Lob: „Wohltuend sachlich bleibt das Kunsturteil Arthur Eloessers. Die Kritik der Jahrhundertwende ist ähnlich reich und subjektiv bewegt wie die Literatur.“ Das nachfolgende Kapitel steht unter der Überschrift „Im Schatten Nietzsches“ und bringt weitere Belegstellen. Gleich drei Zitate nimmt sich Carlsson aus der Arbeit „Generationen“, die Eloesser im Jahrgang 1918 der „Neuen Rundschau“ zum Abdruck brachte. Als resignierende Aussage deutet sie dabei diese: „…die literarischen Bewegungen folgen sich heute mit einer so unheimlichen Schnelligkeit, dass sich keine mehr ordentlich auswirken und ausweisen kann.“

Gegen Ende des Kapitels darf Arthur Eloesser sich zu einem Kritikerproblem äußern, welches Anni Carlsson als „Ressentimentgefahr im Verhältnis der Generationen“ kennzeichnet. Dazu Eloesser, immer noch aus „Generationen“: „So zwischen Vierzig und Fünfzig tritt der kritische Schriftsteller das gefährliche Alter an … Nur ein halbes Jahr mangelnder Aufmerksamkeit – der ewige Jüngling ist sitzen geblieben, und er wird das versäumte Pensum nie mehr nachholen können.“ 1918 befand er sich just in diesem Alter, er arbeitete hauptberuflich als Dramaturg, allenfalls nebenberuflich und sehr viel seltener noch als Kritiker. Es wird ihm, darf vermutet werden, da sich die praktische Arbeit am Theater zugleich auch ihrem Ende näherte, vielleicht sogar schmerzlich bewusst geworden sein, dass er in mancher Hinsicht den Anschluss verpasst hatte. Das wiederum mag den Ausschlag dafür gegeben haben, deutlich mehr an Buchprojekte zu denken (und sie dann auch zu realisieren) als je zuvor. Die zweibändige Literaturgeschichte, von der bereits die Rede war, kann da gut auf den Fundus zurückgreifen, der in den Kritikerjahren entstand. Eine Theatergeschichte auf der Basis seiner sehr zahlreichen, wenngleich immer deutlich kürzeren Kritiken, hat er offenbar nie in Erwägung gezogen. Nur einmal noch, im Kapitel „Die goldenen zwanziger Jahre“, kommt Anni Carlsson danach auf Arthur Eloesser zurück, nun auf die Literaturgeschichte, genauer den 1. Band.

Im Anschluss an Aussagen Hermann Hesses, 1930 unter dem Titel „Notizen zum Thema Dichtung und Kritik“ erschienen, natürlich in der „Neuen Rundschau“, deutet sie auf Eloesser: „Hier war ein selbständiger Rezensent mit einer umfassenden literarhistorischen Bildung.“ Hätte Carlsson andere Quellen gehabt, hätte sie zwingend schreiben müssen: mit einer unglaublichen Belesenheit, mit einem exzellenten Gedächtnis, mit sicherem Gespür für passende Zitate. Hätte Carlsson auch nur elementare Kenntnis von Eloessers Biographie gehabt, hätte sie auf Erich Schmidt stoßen müssen. So zitiert sie Thomas Mann, der wohlwollend, natürlich wohlwollend, schreibt. Sie zitiert von Josef Hofmiller dessen „Weihnachtsbücherschau“ für die „Süddeutschen Monatshefte“. „Meisterhaft im Aufbau, glänzend im Einzelnen, unterhaltend, ohne je flach, belehrend, ohne je ermüdend zu werden, dem Unbewanderten eine vorzügliche Einführung, dem Kenner eine Fundgrube selbständiger Auffassungen und geistvoller, jedoch niemals geistreichelnder Einfälle …“. Das ist so prägnant (und treffend) geschrieben, dass man sich wundert, warum keiner der Sammelbände mit Arbeiten Hofmillers im Register den Namen Eloesser nennt. Der angekündigte finale Haupteinwand gegen Anni Carlsson aber lautet: wer auf so extrem schmaler Text-Basis eine ganze Geschichte der Buchkritik baut, arbeitet in letzter Konsequenz fahrlässig, wirkliche Wissenschaftlichkeit darf sein Buch nicht beanspruchen. Denn Buchkritik war niemals in erster Linie Kritik in Monats- oder gar Quartalsschriften. Auch wenn sie dort viel Zeit, mehr Platz und oft viel höhere Qualität hatte.


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