Thomas Mann liest Arthur Eloesser

Es war der 10. Februar 1937, als Arthur Eloessers Name letztmalig in den Tagebüchern von Thomas Mann auftauchte. „Las über Goethe in Eloessers Literaturgeschichte.“ So ist es am Ende der Notizen über jenen Mittwoch festgehalten. Die Fußnote in der großen Ausgabe der Tagebücher im S. Fischer Verlag klärt dazu auf: „Der Berliner Literarhistoriker Dr. Arthur Eloesser (1870 – 1938), Kritiker an der „Vossischen Zeitung“ und Mitarbeiter der „Neuen Rundschau“, war mit TM seit langem gut bekannt. Er veröffentlichte 1925 zu TMs 50. Geburtstag die Monographie „Thomas Mann. Sein Leben und sein Werk“ im S. Fischer Verlag. Seine zweibändige Literaturgeschichte „Die deutsche Literatur vom Barock bis zu Goethes Tod“ und „Die deutsche Literatur von der Romantik bis zur Gegenwart“ erschien 1929. TM rezensierte Band I im Dezemberheft 1929 und Band II im Januarheft 1933 der „Neuen Rundschau“.“ Das Todesjahr Eloessers stimmt immerhin in dieser Fußnote, was den Herausgebern der ersten drei Bände nicht gelang: dort ist er jeweils schon 1937 gestorben, was auch im Band X erneut falsch so behauptet wird. Dort gelang es den Erstellern des Registers auch nicht, das Vorkommen des Namens auf S. 216 aufzunehmen. Es tröstet alle Büchermacher in kleineren und unbedeutenderen Verlagen sicher, dass auch die großen patzen.

Da Thomas Mann den Tod von Arthur Eloesser am 14. Februar 1938 im Tagebuch weder erwähnt noch gar reflektiert hat, bleibt Goethe das letzte Wort. Falsch im Zitat aus der Fußnote ist natürlich auch die Angabe zum Erscheinen der zweibändigen Literaturgeschichte. Wären beide Bände, wie behauptet, 1929 erschienen, bliebe die Frage, warum sich der Rezensent für den zweiten Band drei Jahre Zeit ließ. Tatsächlich aber dauerte es etwa zwei Jahre, bis der zweite dem ersten folgte. Der Abstand ist dennoch bemerkenswert kurz, schaut man auf den Umfang der beiden Bände. Thomas Mann schrieb zwischendurch 1930 auch einen Gruß zum 60. Geburtstag von Arthur Eloesser am 20. März 1930. Monty Jacobs hatte ihn darum gebeten, jener Monty Jacobs, der Eloesser 1928 zurück an die „Vossische Zeitung“ geholt hatte, wo er zuvor bereits von 1899 bis 1913 beschäftigt war. Seinen Brief vom 2. März, am 20. März 1930 in der „Vossischen Zeitung“ zu lesen, schrieb Thomas Mann in Oberägypten, in Assuan, wo man damals an ein Staudammprojekt größten Ausmaßes noch nicht dachte. Die Morgenausgabe der „Vossischen“ brachte in ihrem „Unterhaltungsblatt“ auch einen Brief von Gerhart Hauptmann zum 60. Geburtstag, geschrieben in Rapallo am 14. März, und einen umfänglichen Hauptartikel von Max Osborn unter der Überschrift „Der geborene Kritiker“.

„Als ich die Freude hatte“, so Thomas Mann, „den ersten Band Ihrer Deutschen Literaturgeschichte in der „Neuen Rundschau“ anzuzeigen und Ihrer früheren Beiträge gedachte, ließ ich absichtlich das kleine biographische Buch unerwähnt, das mich unter all den Ihren persönlich am nächsten angeht: denn es ist misslich, von dem zu sprechen, was von uns spricht.“ Leser der „Neuen Rundschau“ hätten es vermutlich seltsam gefunden, wenn Thomas Mann in seiner ausführlichen Annotation des ersten Bandes der Literaturgeschichte von Eloesser auf dessen Buch über ihn auch nur erwähnend eingegangen wäre, der Ruf dankbarer Gefälligkeit ist rasch da. Er eilt Thomas Mann ohnehin nach, er eilte auch Goethe nach. Wobei anzumerken wäre, dass eine Vergleich mit Goethe schon für sich genommen nicht gegen Thomas Mann spräche. Dass seine Äußerung in der „Neuen Rundschau“, Nr. 12 von 1929, Seiten 863/ 864, nicht als Rezension oder gar fachwissenschaftliche Würdigung gedacht sei, hat er ausdrücklich betont, er wolle das Buch „nur anzeigen“, ist dort zu lesen. Die Herausgeber der Tagebücher hätten es auch lesen und ernst nehmen können. Thomas Mann glaubte und schrieb es sicher auch deshalb gleich unumwunden an den Anfang seiner Annotation, dass Eloessers Buch „den Ausdruck verändern wird, mit dem man auf diesen Schriftsteller blickt.“

Diese Literaturgeschichte ist für Thomas Mann, im Dezember 1929 noch frischer Nobelpreisträger für Literatur wie der andere Gratulant, wie Gerhart Hauptmann seit 1912 auch, „ein Werk, dessen Zustandekommen schon, im absorbierenden Trubel der kritischen Tagesansprüche, jedem, der Sinn für die schwere sittliche Kunst der Zeitorganisation besitzt, hohe Achtung abnötigen muss.“ Auf Erich Schmidt, den akademischen Lehrer Eloessers bezogen, schreibt Mann dann weiter: „Der Meister hätte seine Freude daran gehabt, denn es atmet Freude, es erzeugt geistige Lebenslust – ich schreibe es hin und überlege, ob mir damit nicht von ungefähr die Bestimmung des Wesens aller produktiven Kritik untergelaufen ist!“ Fast kokett schreibt er das, als liefen bedeutende Gedanken ihm öfter fast unbemerkt unter und natürlich hat er recht: geistige Lebenslust ist ein schöner Ausdruck, den jeder und jede zu schätzen weiß, dem/der sie selbst widerfährt. Thomas Mann verheimlicht seine Verwunderung nicht, dass es eine ungebrochene Nachfrage nach solchen Literaturgeschichten gibt. In seiner zweiten Annotation im Januar 1933 nennt er eine ebenfalls zweibändige jener Zeit: die „Geschichte der deutschen Literatur“ von Paul Wiegler, 1600 Seiten im Berliner Ullstein Verlag 1930, ähnlich periodisiert wie Eloessers Lexikon-Format in blauem Leinen.

In der ersten Annotation nannte Thomas Mann als ihm bekannte Parallele die „Hauptströmungen“ des Dänen Georg Brandes. Gemeint waren die Bände „Die Litteratur des neunzehnten Jahrhunderts in ihren Hauptströmungen“, seit 1894 in immer neuen Auflagen und Erweiterungen erschienen, sechs Bücher zum Schluss, die zum Teil inzwischen auch neu gedruckt wurden in BoD-Reprint-Verlagen. Von der großen Mehrzahl der beliebten Literaturgeschichten hebt der Kritiker Eloesser klar ab: „Denn das ist die morsche Bildungseselsbrücke nicht, die meistens Literaturgeschichte heißt. Es ist Lektüre – und zwar große, helle und reiche Lektüre … von Dichtung, Literatur ist hier die Rede mit einer Wirkung, wie Dichtung und Literatur sie selber üben“. Lektüre ist hervorhebend gesperrt gedruckt. „Literaturgeschichte? Es handelt sich um eine geistige Kulturgeschichte der Deutschen, den Seelenroman dieses Volkes seit den Tagen des Barock, eine Darstellung deutschen Charakters und inneren Schicksals also, gegeben mit soviel Wissen wie Sympathie, sachlich und warmherzig, sehr kunstreich in der Komposition, die nicht bloße Chronologie bleibt“. Vorgetragen werde alles „in einer klaren, gewinnenden, zur guten Sentenz geneigten Sprache“. Thomas Mann empfiehlt die Kapitel zu Jakob Böhme und Georg Christoph Lichtenberg als Proben aufs Exempel.

Und sieht selbst diese Kapitel nicht, ohne einen Einwand zu formulieren: „Statt Lichtenberg, dessen verteufelt modernes Charakterbild freilich besonders gelungen ist, hätte ich wohl richtiger Leibniz genannt; denn in diesen beiden gegensätzlichen und großen Figuren, Leibniz und Böhme, sieht Eloesser die Herren und Meister des deutschen Barock.“ Ganz nebenbei hat Thomas Mann mit der Bezeichnung „Charakterbild“ auch eine Brücke zum bereits genannten Erich Schmidt geschlagen, der daraus sogar den Titel für zwei seiner Bücher, eben die „Charakterbilder“, gemacht hatte. „Das ist groß und frei und bedeutend gesehen, und es tut wohl, wieder als nationale Fülle empfinden zu lernen, was der Kulturparteienstreit des Tages polemisch auseinanderreißt.“ Dass Eloesser seine Literaturgeschichte speziell der Jugend zugedacht hat, findet Thomas Mann ausdrücklich lobenswert. Und auch dies hebt er heraus: „Die Anschauung geschichtlicher – richtiger gesagt: mythischer – Wiederkehr ist es auch, die das krankhafte Pathos der Einmaligkeit zerstört; sie beruhigt, sie tröstet.“ Und will es dabei bewenden lassen: „Der zweite Band, der durch das neunzehnte ins zwanzigste Jahrhundert führt, soll nächstes Jahr folgen. Die Leser des ersten werden sich mit mir drauf freuen.“ Dem zweiten Band widmet er sich verspätet, gerade noch rechtzeitig.

Denn als die „Neue Rundschau“ 1933 mit ihrem Heft 1 erscheint, hat Hindenburg Hitler zum Reichskanzler gemacht, bis zum Brand des Reichstages bleiben wenige Wochen, auch an den Listen von Büchern und Autoren, die verbannt und verbrannt werden sollen, wird wohl schon gearbeitet. Die neue Obrigkeit wird es Juden nicht mehr gestatten, geistige Kulturgeschichten der Deutschen zu schreiben und Deutschen wird sie es nicht nachsehen, wenn sie derartige Bücher von Juden loben. Noch aber bekundet Thomas Mann „Freude über das Vollständigwerden dieses Standardwerkes leidenschaftlicher Belesenheit und disziplinierter Darstellungskunst“. Paul Wieglers zwei Bände von 1930 bezieht er ausdrücklich ein in seine Betrachtung, nennt die vier voluminösen Bücher „Monstrelesebücher der Bildung“ und setzt fort: „Bildung, sie bleibt ein deutscher Hochbegriff, möge das Wort auch heute veraltet klingen.“ Für beide Autoren fragt Thomas Mann: „Zeigt das aber nicht, dass man entweder ein Gelehrter oder ein Künstler, am besten aber beides auf einmal, sein muss, um in Deutschland zu zählen, - fast hätte ich gesagt: um als Deutscher zu zählen?“ Und sagt voraus, dass diese Literaturgeschichten „eine Weile, vielleicht ein Menschenalter lang, kritische Gültigkeit bewahren“ werden. Die folgenden zwölf Jahre verhinderten das leider erfolgreich.

Wer die beiden Originalbände je in seinen Händen hielt, versteht, was Thomas Mann meint: „Lexikonformat, dunkelblau Leinen, bilderlos, zeigen ein Antiquadruckbild von monumentaler Ruhe und Klarheit, sehr wohltuend den Augen, und Seitenüberschriften erleichtern das Sichzurechtfinden in den großen Räumen der Hauptstücke.“ Leserfreundlichkeit auch im Druckbild, das ist bis heute nicht selbstverständlich, Verlage sparen Papier durch Kleinstschrift, auch durch Seitenlayout, bei dem man Bücher fast gewaltsam aufbrechen muss, um an den Innenränder der Seiten lesen zu können. Bruno Cassirer gestattete seinem Autor Ränder, die sogar Notizen der Leser erlauben. Was Thomas Mann nicht eigens erwähnt: beide Bände haben hinten ein zuverlässiges Register, bis heute alles andere als eine Selbstverständlichkeit in solchen Büchern. Das, was Arthur Eloesser in der Vorbemerkung zum ersten Band als „Hauptschwierigkeit jeder geschichtlichen Darstellung“ bezeichnete, sieht Thomas Mann in beiden Bänden „mit vieler Kunst und Feinheit gelöst“: „Das Problem, wie das Verwobene, Ineinanderwirkende, teilweise Gleichzeitige nacheinander zu berichten sei“. Mann hört einen „Sprecher, dessen Stimmklang ein gutes, nüchternes Vertrauen erweckt“. Und meint: „Seine kluge Klarheit mutet zuweilen französisch an“.

Kritik äußert sich am zweiten Band prinzipieller als am ersten: „Ich habe Eloessers Goethekapitel schon gelobt. Was ich beanstande, ist die Kargheit, mit der er Nietzsche behandelt.“ Thomas Mann sieht „etwas Beleidigendes und krass Unverhältnismäßiges“ in einer Behandlung Nietzsches nur im Zusammenhang mit Stefan George. Fast unbeachtet lasse Eloesser die Entwicklung des deutschen Essays: „Der germanistische Kritiker neigt dazu, das, was er selbst kann, seiner Betrachtung für unwert zu erachten“. Das ist eine steile These, dennoch des Überdenkens würdig. Ob man Arthur Eloessers Sicht auf Nietzsche als Spätwirkung aus dem George-Kreis sehen kann, wie Thomas Mann mutmaßt, wäre einer speziellen Untersuchung anzuvertrauen. Auf jeden Fall, und das bleibt zitierenswert, hätte Friedrich Nietzsche „in Eloessers zweitem Bande denselben Raum einnahmen müssen wie Goethe im ersten“. Die traurige Quellenlage erlaubt nicht, den vielfältigen Begegnungen von Thomas Mann und Arthur Eloesser detailreich nachzugehen. Ahnen lässt sich etwas davon, wenn man das Tagebuch vom 11. August 1920 liest: „Zum Thee kamen überraschend Pfitzner und Eloesser, … Eloesser berlinisch-bürgerlich-gemütlich. Gespräche über Harden u. Rathenau.“ Vierzehn Jahre vergehen bis zum nächsten Eintrag im Tagebuch am 27. August 1934.

Dazwischen liegen Jahre, die nicht etwa Beziehungslosigkeit bedeuten, im Gegenteil. Nur hat Thomas Mann die dazwischen liegenden Tagebücher vernichtet aus gar nicht so geheimnisvollen Gründen, die hier nicht zu erörtern sind. Deshalb fehlt uns alles, was ins Umfeld von Eloessers Thomas-Mann-Buch von 1925 gehören würde, vielleicht am schmerzlichsten. Einen Eloesser-Nachlass gibt es nicht, der Archiv-Nachlass des S. Fischer Verlages ist ebenfalls verloren. Und möglicherweise in Privatbesitz befindliche Briefe sind entweder noch gar nicht bekannt oder aber noch nicht erschlossen. So bliebt der Brief zu Eloessers 60. Geburtstag zu zitieren: „Dreißig Jahre lang haben Sie meine Arbeit mit einer Kritik begleitet, deren kluge Gelassenheit so sehr nach meinem Sinne war, wie Ihre Sympathie und Bejahung mir wohltat. Denn ich habe immer mit wahrer Achtung auf Ihr, des Älteren, Wirken geblickt, tief angesprochen von der vernunftvollen und heiteren Wärme Ihres Wesens; und welche Rechtfertigung, Bekräftigung, Erhöhung hat meine Wertschätzung kürzlich erfahren durch das große Werk, zu dessen Errichtung alle Fähigkeiten Ihrer reifen Jahre sich zusammengefunden haben und das keiner ungenannt lassen wird, der jetzt zu Ihren Ehren das Glas erhebt!“ Wie Eloesser Thomas Mann über all die Jahre las, ist ein anderes Kapitel.


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