Zeitschriften-Rundschau mit Arthur Eloesser
Genau ein Jahr lang unterzog sich Arthur Eloesser der Aufgabe, für „Die neue Rundschau“ des S. Fischer Verlags andere Zeitschriften zu sichten und daraus ausgewählte Inhalte vorzustellen, die ihm selbst interessant waren, aber auch auf vermutete Interessen der Leser gezielt spekulierten. Die Monatsschrift hieß in diesem Zeitraum noch „Neue Deutsche Rundschau“. Sie trug damit auch schon den dritten Namen seit ihrer Begründung als „Freie Bühne für modernes Leben“ im Jahre 1890. Ob es im Hause S. Fischer selbst oder in den Vorstellungen des leitenden Redakteurs Oskar Bie (9. Februar 1864 – 21. April 1938) etwas wie eine Philosophie der Zeitschriften-Rundschau gab, ist unbekannt. Es scheint aber entweder keine gegeben zu haben oder aber eine mit einer sehr großen Basis-Toleranz. Wie weit der 1897/1898 noch recht unerfahrene Autor Eloesser in seiner Auswahl für die jeweilige Ausgabe auch ging, es scheint ihn niemand behindert zu haben. Das Ergebnis, besser, ein Ergebnis am Ende: er schrieb in seiner Zeitschriften-Rundschau auch über Gegenstände und Themen, die gar nicht dem einen oder anderen Druckwerk entnommen waren, sondern eigener Erfahrung, einmal wenigstens sogar eigener Augen- und Ohrenzeugenschaft.
Das ist dann für jeden, der sich mit dem bis heute alles andere als erschöpfend bekannten Leben Eloessers beschäftigt, eine erfreuliche Zusatzquelle, ein Mosaiksteinchen zu einem Bild, zu dem bis jetzt mehr zu fehlen scheint, als gesichert ist. In der September-Ausgabe 1898 verrät er, dass er Augenzeuge, weil Besucher, einer Kunstausstellung in Paris war, die mit einer Plastik Skandal machte. Heute ist sie im Musée Rodin in Paris zu besichtigen (wenn nicht gerade die Mitarbeiter streiken, was öfter vorkommt). Damals im Salon Champ des Mars löste dieser „Balzac“ Erregungen aus, die, wie die Mehrzahl aller Skandale der Neuzeit hauptsächlich ein Medienskandal war, der die übergroße Mehrheit der Franzosen gar nicht berührte. Camille Mauclair (29. Dezember 1872 – 23. April 1945), für Eloesser der „wohl der geistvollste Kritiker der jüngeren Generation“, schrieb nun in der „Revue des Revues“ über Auguste Rodin und dessen provozierende Balzac-Plastik. Und noch einmal erlaubt der Rundschau-Autor in derselben Ausgabe einen Leserzugriff auf ein weiteres Biographie-Detail. „An dem stillsten Sonntag Nachmittag, den Paris kennt, da alle Welt zu Fuß und Roß und Wagen nach Longcramps zum Grand prix hinausgeströmt war“, lesen wir leicht neugierig.
Und können schon jetzt festhalten, dass die renommierte Monatsschrift des renommierten Hauses S. Fischer verblüffend oft mit falschen Namensschreibungen aufwartete: bei Namen von Personen besonders ärgerlich, wenn man heute nachforschen will, wer sie denn waren, bei Namen von Orten kaum weniger ärgerlich, wenn es um Umstände und Zeiten geht. Der genannte Grand prix war damals und ist heute noch ein Pferderennen für Dreijährige, jetzt über die Distanz von 2400 Metern, und findet im Hippodrome de Longchamps statt, gelegen im Bois de Boulonge. Damals war das eines der sehr wenigen Rennen, an dem auch Ausländer teilnehmen durften. Vor allem aber war es 1898 ein Rennen mit der Nebenwirkung, dass Jules Lemaitre (27. Februar 1853 – 5. August 1914, Wikipedia Frankreich nennt alternativ den 27. April als Geburtsdatum) für seinen Auftritt gegen das herkömmliche französische Schulsystem kaum Zuhörer an der Sorbonne fand. Einer unter den wenigen muss Arthur Eloesser gewesen zu sein. Dass das Rennen von einem Pferd aus dem Stall des Barons Alphonse de Rothschild gewonnen wurde und den Namen Le Roi Soleil trug, wissen wir, die Anwesenheit des Kritikers am 5. Juni in der Sorbonne dürfen wir leider nur vermuten.
Obwohl es solide Argumente für diese Vermutung gibt: Eloesser wartet mit Zitaten auf, die er nicht nachweist, auch nicht durch Hinweis auf Zeitungen oder Zeitschriften, denen er sie entnommen haben könnte. Er hat, so die Überzeugung dieses Beitrags, Jules Lemaitre selbst gehört und sich natürlich auch um die Reaktionen gekümmert. „Alle Zeitungen mischten sich in den Streit, und die besten Schriftsteller, Psychologen, Pädagogen gaben ihren Meinungen in meist ausgezeichnet geschriebenen, und, was unsere Philologen in Erstaunen setzen wird, in sehr höflich gehaltenen Feuilletons Ausdruck.“ Eloesser scheut hier nicht davor zurück, seine deutschen Leser auch direkt anzusprechen. Dies darf man als einen Grundzug seiner Zeitschriften-Rundschauen ansehen: er will Vergleiche ermöglichen, öfter ohne direkten Hinweis auf seine Absicht. Er vertraut der Intelligenz seiner Leser, angelegentlich aber eben auch auf einen sanften Nasenstüber. Wenn man die insgesamt acht einschlägigen Beiträge zwischen den Heften 11/1897 und 11/1898 anschaut, erkennt man auch ohne Vorkurs das Dominieren des Blicks nach Frankreich und aus Frankreich heraus, auch wenn eine Reihe von Zeitschriften aus Deutschland, Österreich und England ebenso Themen liefern.
Wir wissen nicht, auf welchem Wege Eloesser die Zeitschriften-Rundschau in Redaktion und Druckerei gelangen ließ, ob es Eingriffe seitens des verantwortlichen Redakteurs gab, eventuell einen Briefwechsel zwischen Paris und Berlin. Die Archive, die Auskunft geben könnten, sind verloren. Die spezielle Frankreich-Kompetenz, die zunächst aus dem Studien-Semester in Genf erwachsen war, sich dann dem langen Aufenthalt in Frankreich, vor allem in Paris, verdankte, ist von Beginn an präsent. Wer sich zunächst noch gewundert haben mag (rückblickend, seinerzeit vermutlich niemand), dass ein Mann der Literatur und Geschichte mit dem Maler Edouard Manet debütierte in der S. Fischer-Zeitschrift, der weiß es nach acht Rundschauen besser: Hier schrieb ein Mann auf einer höchst beeindruckenden Wissens-Basis. Er kannte nicht nur die Bekanntesten, sondern eben auch viele Namen, die schon damals kaum jemand nannte, geschweige denn heute. Eindrucksvoller Beleg: als er den Beitrag von Frederic Loliée zur Rolle des Mannes in Romanen von Frauen referiert, hat er natürlich die Vorlage vor Augen, lässt dann aber eine lange Reihe der Namen Revue passieren, die ihm zweifellos etwas bedeuteten, ehe er sie seinen Lesern vorführte.
Möge sich der Leser vom Mai 2023 selbst prüfen: Juliette Adam, Daniel Lesueur, George de Peyrebrune, Therese Bentzon, Gyp, Jean Bertheroy, Clemence Royer, Lola Dorian, Rachilde. Das sind echte Namen und Pseudonyme; auch Pseudonyme, die einen Mann vortäuschen darunter, wie im berühmtesten Fall: George Sand, der aber hier bei Eloesser nicht vorkommt. Er selbst hat früh und ausdauernd das literarische Schaffen von Frauen verfolgt und beurteilt: immer wieder Ricarda Huch, sehr oft Clara Viebig, auch Hedwig Dohm. Auf die französischen Namen fiel sein Blick vielleicht auch mit einem Gedanken an Übersetzer und Verleger. Und im Wissen, dass deutsche Theatergänger im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts, teilweise schon davor ähnlich intensiv, mit französischen Lustspielen, Komödien, Possen vertraut waren, dass ihnen die Nachbarn, wenn auch oft allein auf diesem Sektor, stets nahe standen. Auch deshalb, so eine These hier, war der Rundschau-Autor bestrebt, deutschen Lesern vorzuführen, dass in Frankreich nicht nur neue Zeitschriften gegründet wurden, die keinen Hass gegen Deutschland schürten und verbreiteten, sondern nicht wenige Blätter dabei ein getreues Bild Deutschlands aktiv zu vermitteln suchten.
Nach dem Krieg 1870/71 war das nicht irgendetwas, letztlich bereitete es Zukunft vor mitten in Europa: Frieden oder Revanche, Austausch oder Abschottung. Eloesser führte den Rundschau-Lesern nicht wenige Facetten des Grundproblems vor: Solidarität mit Unwetteropfern im Elsass, die nicht funktionieren wollte; die Eindrücke eines Franzosen, der sich in Deutschland deutsche Theaterinszenierungen anschaut, speziell Gerhart Hauptmann und Henrik Ibsen; die Institution des Mannes Remy de Gourmont (4. April 1858 – 27. September 1915), der zu aktuellen Ereignissen schreibt. Seine Beiträge „haben einen satirischen Zug von fast monumentaler Größe. … die Dinge erscheinen ihm an sich so dumm, daß man sie nur zu erzählen braucht, um ihre ganze Lächerlichkeit zu enthüllen. (Sie) werden einst eine historische Bedeutung für die Zeitgeschichte beanspruchen können.“ Fast genüsslich zitiert Eloesser hier ein Beispiel. Auf den Journalisten und Übersetzer Henri Albert (1869 – 1921) weist er aus einem zusätzlichen Grunde hin: der ist selbst Autor der Rundschau, hat dort nicht weniger als zwölf Beiträge publiziert, sie hießen etwa „Paris 1896“, „Paris 1897“ und „Paris 1898“ oder „Pariser Brief“, sie mussten nicht übersetzt werden.
„Der unserer Zeitschrift wohlbekannte Henri Albert hat die dauernde Besprechung der deutschen Litteratur und der Zeitschriften übernommen. (Er) muss ohne Zweifel als der beste Kenner unserer modernen Literatur und überhaupt unserer Lebensverhältnisse, bis zu den allerintimsten, bezeichnet werden. (Er ist) einer von den wenigen Franzosen, die die deutsche Sprache vollständig beherrschen, er ist der geborene Vermittler in dem geistigen Leben beider Völker.“ Diese Sätze Eloessers sprechen für sich: Vermittlung im geistigen Leben will er befördern, indem er dem Beispiel Raum gibt. Und Beispiele findet er. Eine neue Zeitschrift, die eigentlich nur unter neuem Namen erscheint, stellt er so vor: „Sie folgt ihrer Tradition, die darin besteht, untraditionelle Gedanken zu fördern und allen neuen, fruchtbaren Anregungen Gehör zu geben.“ Und lobt an ihr eine „umsichtig geleitete Zeitschriftenrundschau“, was uns heute verrät: er schaute sich genau um, wie andere das machten, was er nun für seine Zeitschrift betrieb. In drei Fortsetzungen beobachtete er die „Revue de Paris“, die den Briefwechsel des Chemikers Marcelin Berthelot (25. Oktober 1827 - 18. März 1907) mit Ernest Renan (Philosoph, 28. Februar 1823 – 2. Oktober 1892) vorstellte.
Und weckte dabei stets neu die Neugier seiner deutschen Leser. Aus einem Bericht Renans von einer Italienreise erlaubt er sich ein sehr ausführliches Zitat zu Rom, mit dem er die Rundschau, ohne sich selbst noch einmal zu Wort zu melden, ausklingen lässt. Aus dem „Mercure de France“ stellt er sehr ausführlich Wortmeldungen zu einer Umfrage vor, dabei jenen Stimmen den Vorzug gebend, die sich auf die Seite des Friedens stellten, „und wir haben gerade von diesen Ansichten einige wiedergegeben, weil sie meistens in interessanterer Weise begründet werden als die Kundgebungen nationaler Leidenschaft“. Das ist eine mehr als interessante Feststellung, der hier leider nicht nachgegangen werden kann. Auch nicht dem Satz von Jules Renard (22. Februar 1864 – 22. Mai 1910), den Eloesser zitiert mit: „Ein Gesetz müßte den Drückebergern jede patriotische Kundgebung verbieten.“ Obwohl einem gerade hier die Aktualität fast peinlich ins Augen springt. Im März 1898 gibt Eloesser dem am 16. Dezember 1897 verstorbenen Alphonse Daudet viel Platz im Frankreich-Teil seiner Umschau, der nach dem Blick in deutsche und österreichische Blätter folgte. Dabei zitiert er einige französische Kritiker in ihrer teilweise deutlichen Ungerechtigkeit.
Und stellt die zugespitzte Stimme von Remy de Gourmont dazu: „Wenn er sich zuweilen die Zeit zum Denken genommen hätte, wenn seine Erzählungen von einer Idee befruchtet gewesen wären, so hätten sie alles, um Meisterwerke zu sein“. Vor allem den späten Werken Daudets kann er nichts mehr abgewinnen. Kommt aber auf ein Werk doch ausführlicher zu sprechen: „Unter den Klängen des Trauermarsches seiner von Bizet komponierten L'Arlesienne ist der Dichter begraben worden. Dieses Werk war ein Stück Leidensgeschichte. Im Jahre 1872 fiel es im Vaudevilletheater gänzlich durch, um erst dreizehn Jahre später im Odeon eine ruhmreiche Auferstehung zu feiern.“ Die deutsche Nachwirkung dieser ruhmreichen Auferstehung ermöglichte Arthur Eloesser seine erste Theaterkritik für die Vossische Zeitung in Festanstellung: 1899 war „L'Arlesienne“ der erste Abend, den er zu besprechen hatte, gedruckt am 25. Oktober. Musiktheater besuchte er zu diesem Zwecke nie wieder. Das passt verblüffend zum Auftakt in der „Neuen Rundschau“ mit dem Maler Manet 1897. Mit dem Hinweis auf eine Sammlung von Theaterkritiken Daudets lässt es Eloesser dann bewenden, das nächste Thema ist die Korruption in der französischen Presse anhand einer Umfrage.
Veranstaltet hat sie der Politiker Henry Berenger (22. April 1867 – 18. Mai 1952) in der „Revue bleue“ und was Eloesser von ihm zitiert, ist wenig aufbauend: „Was bedeutet der Zeitungsschreiber für eine Zeitung? Wenn er berühmt ist, eine anständige Reklame und ein Aushängeschild, von dem unsaubere Geschäfte bedeckt werden können; ist er niederen Ranges so zwingt man ihm den Geist der Zeitung auf.“ Und: „Die Presse scheint frei, aber sie ist es nicht. Sie ist unabhängig von Regierung und Polizei, aber abhängig vom Gelde, eine besoldete Sklavin. … Der Redakteur einer großen Zeitung ist der skrupellose Impresario, der für Rechnung einer Spekulantengesellschaft eine Truppe von Journalisten mietet.“ Für heutige Leser verstörend, wie man gut feuilletonistisch sagt, auch diese Sätze von Ernest Renan: „Je unglücklicher unser Vaterland ist, desto weniger dürfen wir es verlassen … Wir können Frankreich nur verlassen, wenn es uns vertreibt, wenn es uns hindert unsere Geisteskräfte frei zu gebrauchen“. Im Juni 1898 macht Eloesser auf einen Anonymus aufmerksam, der sich erstaunlich gut in der deutschen Armee auskennt und darüber in der „Revue bleue“ berichtet. Dieser Revue bescheinigt er wenig später „aufopfernde Vorurteilslosigkeit“.
Schon diese Formulierung ist fein, noch feiner aber der Grund: die Revue bringt aus der „ganz unmöglichen Schrift von Tolstoi“ einen Auszug, der die so genannten Decadenten betrifft. Tolstois Schrift ist bei uns unter dem Titel „Was ist Kunst?“ bekannt und umfasste bei Reclam Leipzig knapp 100 Druckseiten. Im September 1898 blickt Eloesser nur noch nach Frankreich, wie auch im endgültigen Abschied unter der Überschrift „Französische Zeitschriften“ spielten England, Österreich und Deutschland keine Rolle mehr. Den Blick lenkt er auf eine Zeitung „La Fronde“, die ausschließlich von Frauen gemacht und ebenso ausschließlich von Frauen verteilt wird: „Es ist eine Tageszeitung großen Stils, nicht schlechter als die männlichen, aber frischer, unabhängiger.“ Zwei Franzosen haben sich von unterschiedlichen Gesichtspunkten her der deutschen Sozialdemokratie zugewandt. Der eine hat sie drei Jahre vor Ort vor allem in Leipzig studiert, der andere hat die Akten der Parteikongresse ausgewertet. Beide sehen und wissen für Eloesser Zusammenhänge und Dinge, die selbst in Deutschland wenig bekannt und erforscht sind. Der eine hieß Edgar Milhaud, der andere Henri Lasvignes, der in Frankreich auch einer der ersten Nietzsche-Übersetzer war.
Im Anschluss an seine Behandlung des Vortrags von Lemaitre an der Sorbonne, der, wie heute immer noch gern praktiziert wird, mit früheren Äußerungen konfrontiert, sich wenig beeindruckt zeigte, formuliert Arthur Eloesser zeitlos dies: „Dieses einfache Geständnis muß man entzückend finden. Ein Schriftsteller, der zugiebt, daß er eine Banalität hingeschrieben habe, um ein Feuilleton zu haben, ist eine seltene, höchst erfreuliche Erscheinung, die wohl leider wenig Nachahmung finden wird.“ Das muss nicht kommentiert werden. Dafür soll das Ende nach einem Jahr Rundschau hier stehen: Der letzte Halbsatz vor dem Kürzel A. E. lautet: „… die französischen Bourgeoisie hat sich durch die Geschicklichkeit und Willenskraft der deutschen und englischen auf dem Weltmarkt schlagen lassen.“ Die Blicke nach England wie nach Österreich und Deutschland innerhalb der Zeitschriften-Rundschau haben letztlich also auch damit zu tun, dass es einen Wettbewerb gab, der sich nicht nur nicht auf Kultur und Geistesleben beschränkte, im Gegenteil, der vor allem dem Weltmarkt galt. Wobei der Blick aus Paris nach England für Berlin bisweilen, wie angedeutet, die Zeitschriften beiseite legte und Arnold Toynbee (23. August 1852 – 9. März 1883) ins Visier nahm.
Eloesser schildert eine von den Universitäten Oxford und Cambridge ausgehende Bewegung, die bald zur Einrichtung von etwas führt, das den Namen Toynbee Hall bekommt und der späteren deutschen Volkshochschulbewegung sehr ähnelt. Die Ambitionen ähneln ebenso stark der russischen Volkstümler-Bewegung, die auch unters Volk ging, nur eben der unterentwickelten Wirtschaftsform geschuldet, aufs Land und zu den Bauern, während in London Whitechapel das Ziel wurde. Einem von James Annand behaupteten Verfall des Parlamentarismus in England vor allem widerspricht Eloesser mit der These: „Wenn die Rolle des Parlamentariers nicht mehr so glänzend wie früher erscheint, so liegt das jedenfalls an der wachsenden Einsicht in die beherrschende Macht des Klassenkampfes.“ Man merkt hier wie an anderen Stellen, dass der Einfluss des Marxismus auf sein Denken wenigstens zeitweise nicht nur marginal war. Auch deshalb interessierte es ihn, wenn außerhalb deutscher Grenzen diagnostiziert wurde, der Einfluss von Marx innerhalb der Sozialdemokratie schwinde. Auch deshalb liest er genau, was Eduard Bernstein (2/1898) zum Thema schreibt und teilt es den Lesern seiner Zeitschriften-Rundschau mit.
Wer sich fragt, ob der frühe Eloesser in seiner Zeitschriften-Rundschau überhaupt Platz und Zeit fand für schöne Literatur, für Theater, muss keine Enttäuschung verkraften. Der Kritiker, der noch nicht als solcher amtierte, schaute natürlich nach Wien zum Burgtheater, informierte seine Leser zum Streit um den neuen Direktor Paul Schlenther, der wenig später Eloesser an die Vossische Zeitung lancierte, dessen Hauptmann-Biographie in Eloesser einen Fortsetzer und Ergänzer fand, runde 70 Seiten steuerte er nach Schlenthers Tod bei. Er nutzte den 70. Geburtstag von Henrik Ibsen am 20. März 1898, diverse Stimmen zu ihm vorzustellen, die in verschiedenen Journalen laut wurden. Er wies auf Ricarda Huch, Lou Andreas-Salome, Hermann Bahr hin, nutzte sein Medium, Felix Poppenberg und Otto Erich Hartleben zu erwähnen, die seine Freunde waren oder wurden. Und schrieb natürlich auch immer wieder Sätze nieder, die ureigene Ansichten zum Ausdruck brachten. Wie etwa: „Der Dramatiker soll allerdings nicht nur ein kühler Zuschauer des Konfliktes sein, sondern er soll ihn heiß mit durchleben und leidenschaftlich Partei ergreifen. Trotzdem aber soll er den Gegner und Gegenspieler, den er haßt, zugleich verstehen und sogar bewundern.“
Man wagt kaum, sich diesen Satz auf der Zunge zergehen zu lassen, seine Implikationen im Jahr 2023 bringen ganze Zeitenwende-Weltbilder ins Wanken. Verstehen ist fast eine Straftat geworden, wenn im falschen Zusammenhang verstanden wird. Gar noch bewundern: das geht gar nicht, wenn es nach denen geht, die nie merken werden, dass es überhaupt nicht nach ihnen geht. Anlässlich eines Schilleraufsatzes der Österreicherin Therese Schlesinger-Eckstein (6. Juni 1863 – 5. Juni 1940), Frauenrechtlerin, frühe Parlamentarierin, geborene Eckstein, von ihr stammt „Die Frau im 19. Jahrhundert“, schreibt Eloesser mitleidlos: „… und die große Partei der Sozialdemokraten, dieser abstrakten Idealisten, ist eine Partei der Schiller-Epigonen.“ Fürs Album geeignet ist auch: „In Frankreich liebt man die Pädagogen nicht, aber man duldet sie.“ Mit dem neuen Jahr 1899 gab es keine Zeitschriften-Rundschau mehr, sondern nur noch eine „Rundschau“ von unterschiedlicher Länge, die ein komplettes Jahr ohne vollen Namen oder Kürzel ihres Verfassers gedruckt wurde und folglich kaum zugeordnet werden kann. Mit dem Jahr 1900 schließlich kam die Rundschau in der Rundschau mit einem Kürzel, für das Arthur Eloesser als Autor zweifelsfrei nachzuweisen ist.