Clara Viebig: Das Miseräbelchen und andere Erzählungen

Der Walter-Verlag Olten und Freiburg im Breisgau gab vor Jahren eine Reihe heraus mit dem Titel „Walter Literarium“, kleinformatige, gediegene Bücher, die nicht gleich Luxus atmeten, aber auch nicht die Anmutung hatten: Zum alsbaldigen Wegwurf bestimmt. Als Herausgeber fungierte Bernd Jentzsch, der sich seine ersten Herausgeber-Sporen in der DDR verdient hatte, wo sich ihm die Lyrik-Reihe „Poesiealbum“ verdankte, bis er eines Tages die DDR verließ und zwar in Richtung Schweiz. Den zu Hause gebliebenen waren in jener Zeit Abgänge vertraut, man ging freilich weit eher nach Hamburg oder West-Berlin, manchmal auch nach Obernzell, aber die Schweiz, das verblüffte. Jentzsch war auch selbst mit Gedichten hervorgetreten, gehörte zum Jahrgang 1940, der für mich einmal Stoff für ein Buch hätte werden können, wenn sich das Land, dessen Jahrgang da gemeint war, nicht selbst abgängig gemacht hätte.

Clara Viebig muss Bernd Jentzsch immerhin so beeindruckt haben, dass er die Autorin seinem Verlag wirksam ans Herz legen konnte, weshalb vier Erzählungen aus verschiedenen Jahren als Band 10 neu aufgelegt wurden. Als Nachwort-Autor stellte sich Norbert Oellers zur Verfügung, sonst und später eher mit Weimarer Klassik befasst, ein angenehmer Schiller-Experte mit angenehmen Schreibqualitäten. Und weil ich vor reichlicher Jahresfrist zum 60. Todestag von Clara Viebig am 31. Juli 2012 (siehe „Um von Clara Viebig zusprechen“ in meiner Rubrik JAHRESTAGE) zu ihren Erzählsachen kaum kam, will ich jetzt ein wenig Bringeschuld einlösen, die ich mir damals selbst auferlegte. Und ich beginne mit einem einzelnen Wort. Es heißt „abgehofft“. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich dieses Wort nie vorher las, erst in der Erzählung „Die Wasserratte“, Fassung von 1923, mit der das Bändchen bei „Walter Literarium“ endet.

Der, der abgehofft hat, heißt Gustav Schmedecke, er ist Wirt einer Ausflugsgaststätte in der Nähe von Potsdam. Er hat vor Jahren seine Frau Lenchen verloren und das Kind. Seine Ausflugsgaststätte hat ihre besten Zeiten lange hinter sich. In Potsdam bekommt Schmedecke schon keinen Kredit mehr, weshalb er die Sachen, die er braucht, um auf das Pfingstgeschäft vorbereitet zu sein, aus Berlin holen muss. Er muss den letzten Dampfer erwischen und dann muss er „Hol über!“ rufen, wie es seine Gäste tun müssen, wenn sie bei ihm einkehren wollen. Nur die Magd Berta ist da, die den Ruf hört oder nicht hört, und Bertra vertraut er nicht annähernd so, wie er seinem Lenchen vertraut hat, die nie eine Bestellung vergaß und auch zu den Familien  freundlich war, die in ihrer Küche nur den Kaffee für die Familie kochen wollten. Das gab es früher, es gab noch keinen Platzverweis, wenn einer sein eigenes Brot auspackte zum gastronomischen Mineralwasser.

Gustav Schmedecke hat die Entwicklung verschlafen. Bei ihm stehen Bänke ohne Lehne draußen, drinnen nur ein einziges verschlissenes Sofa, die junge Kundschaft will längst anderes. Auch der Name seines Etablissements am Wasser der Havel, eben „Die Wasserratte“, hätte Potential zur Veränderung. Heutige Restauranttester würden ihn zur Schnecke machen vor laufenden Kameras. Er aber hat gelernt, dass man die Hofffnung nie aufgeben soll. Er richtet sie auf das Wetter, weil das sagenhafte Pfingstgeschäft eben sehr vom Wetter abhängt und alle Jahre zuvor immer schlechtes Wetter war. Als er dann abgehofft hat, ist ihm klar, dass er sich Luftschlösser baute. Die Vorfreude auf den Umsatz des Jahres hat ihn sogar vergessen lassen, dass man essen muss. Der sintflutartige Gewitterregen, der sogar seine Keller überschwemmt, bringt das Ende. Am Strick, von dem er gegen seinen Hunger sich den dicksten Schinken schnitt, hängt er, als Berta vom Schwoof in Potsdam nach Hause kommt. Clara Viebig erzählt das so, dass man nicht überrascht ist und trotzdem überrascht. Die Birken stehen bei ihr wie weinende Frauen und dann, als ob sie tanzen wollten.

In „Der Käse“ kommen Italiener in die Eifel, um eine Bahnlinie zu bauen. Sie hießen damals noch nicht Gastarbeiter, dafür konnten nur wenige von ihnen lesen und schreiben. Es ist eine Geschichte vom Fremdsein und von der Neugier. In der ein Käse Heimat ist, ein Ziegenkäse von 3,66 Kilogramm Gewicht, den man verzollen muss. Der Käse kommt über Ala, das heute zur Region Trentino gehört, zwischen 1866 und 1919 aber der Grenzübergang zwischen Italien und Österreich war. Es hilft, das zu wissen, aber es ist nicht nötig, denn die Geschichte nimmt nicht Geschichte wichtig, sondern Menschen, denen das Leben widerfährt, weil sie keine Chancen haben, das Leben anders zu erfahren. Schon einer, der schreiben und lesen kann, Lippo, erhebt sich über einen, der nur seine dicke Frau liebt und seine vielen schmutzigen Kinder zu Hause. Der alles Geld dorthin  schickt und nicht einmal an den Gebühren spart, weil er eben jede Woche etwas schicken möchte. Es gibt eine Postmeisterstochter Kathrin, die sich auf seltsame Weise zu diesem Luigi hingezogen fühlt. Am Ende stirbt Luigi mit dem Kopf im Schoß von Kathrin. Lippo hat ihm das Messer in die Brust gerammt. Man kennt das, möchte man meinen. Nein, man kennt es nicht.

Auf „Das Miseräbelchen“ habe ich schon vor einem Jahr hingewiesen, die Geschichte vom stillen Sterben eines Kindes, dem alle den Tod wünschen, weil es nur leidet. Es gibt dem nichts hinzuzufügen. Es wäre vielleicht über Katzen zu reden, die eine Rolle spielen bei Clara Viebig. Über den Kater Peter in dieser Geschichte. Über die Katze, deren sieben Junge im Flüsschen Lieser landen nahe der Burg Manderscheid in „Die Zigarrenarbeiterin“, die aber nicht in diesem Büchlein zu finden ist. Ich habe von der Ruine herab auf das Flüsschen gesehen, ohne zu ahnen, dass ich einen literarischen Schauplatz erlebe, es ist mehr als zwanzig Jahre her. Nun sehe ich ertränkte Kätzchen dazu. In ihrem Einakter „Eine Zuflucht“ hat Clara Fiebig einer Stadträtin in den Mund gelegt: „Man muß den Menschen auch gegen seinen Willen glücklich machen!“ Die Stadträtin gehört zu einem Wohltätigkeitsverein, man ahnt, welcher Partei sie heute zum hundertprozentigen Sozial-Image verhelfen wollen würde. Vielleicht war es immer besser, nicht gleich vom Glück zu reden. Die Christine Müller des Spiels jedenfalls sagt nur: „Jebt unsren Eltern Brot, wenn wir noch klein sind, daß sie uns lieben können und nich hassen brauchen.“ 

„Das Miseräbelchen“ von 1897 ist die älteste Erzählung des Bandes, von 1901 ist „Jendrok und Michalina“, „Der Käse“ von 1910.  „Die Wasserratte“ findet sich auch in dem Band „Berliner Novellen“, den der Verlag Das Neue Berlin herausbrachte 1952. Dort steht im Nachwort: „Clara Viebigs Größe liegt nicht nur in dem kühnen Realismus der von ihr dargestellten Zustände und Menschen, sondern auch in den hervorragenden Landschaftsschilderungen, die immer nur möglich sind, wenn ein Schriftsteller sich in die Natur hineinlebt – und mit ihr zusammenlebt.“ Was an Zuständen kühn realistisch sein kann, erschließt sich mir nicht gleich. Falls nur dargestellte Zustände realistisch sein können, wäre die Frage nach nicht dargestellten Zuständen nahe liegend. Lassen wir auch Norbert Oellers wenigstens einmal zu Wort kommen: „Besonders die Eifel hat sie durch Aufmerksamkeit und Hingabe geehrt und recht eigentlich in den Rang einer Literaturregion erhoben.“ Was der Eifel selbst weitgehend gleichgültig blieb, ihren Bewohnern aber keineswegs.


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