T. S. Eliot: Mord im Dom

Zweimal stand ich an der Stelle, an der Thomas Becket gestorben sein soll. Beim ersten Mal fast vollkommen ahnungslos, das war 1993, beim zweiten Mal eingestimmt, das war 2001. Nun lese ich, weil der 26. September der 125. Geburtstag von Thomas Stearns Eliot ist, sein frühes Auftragswerk „Mord im Dom“, wie der Titel der deutschen Fassung von Rudolf Alexander Schröder lautet. Die Suche nach Zeugnissen von Bühnenaufführungen hat nicht sonderlich weit geführt, zu allen anderen dramatischen Werken des 1948er Literatur-Nobelpreisträgers gibt es deutlich mehr Material und mir bleibt zunächst die Vorratsspeicherung des Begriffs „homo religiosus“ für den Mann, der aus den USA ins Vereinigte Königreich übersiedelte und bei der Gelegenheit gleich zum Anglo-Katholiken konvertierte. Die Literatur zu Eliot verweist alles andere als überraschend darauf, dass er nicht die Absicht hatte, ein historisches Drama zu verfassen. Und selbst wenn er die Absicht gehabt hätte, würde dies bekanntlich keineswegs automatisch bedeuten, dass ein solches auch am Ende entstand.

Interessanter ist schon der Aspekt des religiösen Übertritts. Denn wenn es stimmt, was Eliot bescheinigt wird, der Text lässt diese Deutung tatsächlich zwanglos zu, nämlich, es habe ihn vor allem die Problematik des Märtyrertums interessiert, dann befinden wir uns in einem weiten Feld nahe- und nächstliegender Aktualitätslagen und Aktualisierungsmöglichkeiten. Einer, der einer neuen, für ihn neuen, Weltanschauung beitritt, neigt offenbar nicht nur im einzelnen Einzelfall, die scheinbare Dopplung sei erlaubt, dazu, sofort an die Fundamente zu gehen, um anderen und vor allem sich selbst eigene Ernsthaftigkeit zu bescheinigen und sogleich autotherapeutisch zu erproben. Der Vergleich scheint rasend weither geholt, ist es aber nicht: Die intellektuellen Konvertiten zum Kommunismus, wie sie aus dem bildungs- und sonstig bürgerlichen Lager an der Seite des Proletariats überlaut die Hacken zusammen schlugen, machten es, Brecht sei Beispiel, nicht unter einer „Maßnahme“, Becher hatte in der „Linkskurve“ immer Innenbahn und zwei Runden Vorsprung. Der Konvertit zum Katholizismus im England der anglikanischen Kirche, deren königlicher Stifter nicht nur Frauen und Gattinnen verschliss, sondern auch Heilige aus den Kirchen werfen ließ, der geht, wie Eliot, zuerst ans Einfühlen in die Blutzeugenschaft.

Heute sind wir in der etwas angeschrägten Situation, bei Märtyrern immer zuerst an Männer zu denken, die Flugzeuge in Zwillingstürme lenken oder mit sprengstoffgefüllten Fahrzeugen andere Selbstmordattentate ausführen. Denen winkt, wir lesen es in unseren Feuilletons, neben allen anderen himmlischen Wohltaten angeblich auch eine erkleckliche Zahl von Jungfrauen zu letztlich eher unkeuscher Benutzung. Als jener Erzbischof Thomas Becket, am 21. Dezember 1118 in London geboren, schließlich in der Kathedrale von Canterbury, denn von dieser reden wir, am 29. Dezember 1170 sein Leben verlor, soll es nach dem Willen von T. S. Eliot und seiner dramatischen Darstellung eben nicht ein Tod gewesen sein, der im übertragenen Sinne nach den Jungfrauen schielte. Es soll der Überlieferung nach um höheres, um höchstes Wissen gegangen sein. Eliot hat alle Arten von Vorahnung in seinen Chor, in seine Priester, in den aus dem Exil heimkehrenden Thomas gesenkt.

Als ihn die Schwerter dann treffen, geht es weniger symbolisch als brutal blutig zu. Die Glasmalereien wie auch die mittelalterlichen Darstellungen klammern natürlich aus, dass dem Mordopfer die obere Schädelhälfte weggeschlagen wurde mit solcher Wucht, dass die dafür benutzte Schwertspitze wegbrach. Noch der Verfasser des DDR-Nachwortes zu einer Sammelausgabe von Eliot-Dramatik zeichnet das Bild einer fast rituellen Tötung nach, die vom Dramentext übrigens nicht gestützt wird. Der tatsächliche Tod, wie ihn Augenzeuge Edward Grim erlebte, wäre selbstredend in keine sinnvolle Regieanweisung aufzunehmen gewesen, sogar das Blut- und Sägespäne-Theater der neueren Neuzeit hätte hier Verzicht üben müssen. T. S. Eliot aber hat „Mord im Dom“ weder als Adept des „Theaters der Grausamkeit“ noch als Mitläufer der absurden Bühne verfasst. Grim nahm übrigens eine eigene schwere Verletzung in Kauf, als er den vier Mördern in den Arm fallen wollte.

Das Verblüffende am zweiteiligen Spieltext, dessen Zwischenspiel eine Predigt Thomas Beckets eben zum Thema des bevorstehenden Martyriums ist, war mir zunächst ein Ausruf eines der Versucher, die sich an Thomas wenden, der in seine Kathedrale heimkehrt: „Wir sind das Volk!“ Sollen tatsächlich nicht die Leipziger Heldenstädter diesen Ruf in die Weltgeschichte gesetzt haben, sondern ein neukatholischer Amerikaner in England für ein Werk, das in eben der Kathedrale aufgeführt werden sollte, in der der Mord geschah? Als später, in abruptem Bruch der bisherigen gehobenen Verssprache, die Mörder sich direkt an das Publikum wenden, um Verständnis, gar Beifall für ihre Tat zu erzielen, sagt einer etwas, das nun an ganz andere Horizonte rührt: „Nun, niemand bedauert die Notwendigkeit gewaltsamen Vorgehens aufrichtiger als wir. Aber leider gibt es Zeiten, in denen // Gewalt der einzige Weg ist, auf dem soziale Gerechtigkeit sichergestellt zu werden vermag.“ Menschen, die das sofort unterschreiben würden, könnten uns an jeder dritten Ecke begegnen, stracks ausschreitend und keineswegs nur am Rollator.

Thomas Becket, ganz ohne Geschichte geht es doch nicht, war mit dem König Henry II., der ihn dann töten ließ, sogar befreundet. Er war 15 Jahre älter als der König, er erlebte eine fast unfassbar steile Karriere im weltlichen wie im religiösen Leben, es ging schließlich um die immer ganz einfache Machtfrage in ihren Verästelungen. Der König fand Vollstrecker seines nicht einmal sonderlich präzise formulierten Mordwunsches, vier Ritter, deren Namen überliefert sind und auch bei T. S. Eliot natürlich vorkommen. Sie stehen für die Staatsraison, die nicht gegen die Kirche als Kirche ist, wohl aber gegen die Macht und Eigengesetzlichkeit der Kirche, soweit sie sich dem Thron nicht unterwerfen mag. Am Ende dieser Entwicklung steht Henry VIII., steht 1538 die Plünderung des Grabes in der Kathedrale von Canterbury, die Tilgung des Namens des seit 1173 heiligen Thomas Becket. Vorher aber büßte der ältere König Henry für die Tat, was für das Stück freilich keine Rolle mehr spielt. Es war eine Art englischen Canossa-Ganges für den König und der kleine Ort Sandwich spielte auch eine Rolle. Den ich erst 2001 kennenlernte.

T. S. Eliot,  der 1965 starb und mit „The Waste Land“ eine der berühmtesten und prägendsten Dichtungen des zwanzigsten Jahrhunderts schuf, war sicher nicht der ganz große Dramatiker. In diesem frühen Stück auf keinen Fall. Als Essayist scheint er mir am lebendigsten, das ist aber unweigerlich Ansichtssache. Die Rückkehr des Erzbischos Thomas Becket aus Frankreich auf die Insel, der zunächst triumphale Einzug dort, die Hoffnungen der Menschen, hellsichtig verkörpert im Chor der Frauen von Canterbury, die alles andere als blind in ihrer Zeit leben, das alles hat Eliot in seinen „Mord im Dom“ gepackt. Er spielt an mehr als nur einer Stelle ganz offen auf die Gegenwart der Jahre zwischen dem ersten und dem zweiten Weltkriegan , mancher Satz zum Frieden hatte das Potential für bündnispolitische Anknüpfungen, wie sie die DDR der achtziger Jahre liebte. Ein Italiener namens Ildrebrando Pizzetti nahm sich Eliots Stück für die Musikbühne her. Als Herbert von Karajan 1960 die Wiener Staatsopernpremiere dirigiert hatte, schrieb ein Kritiker von einer „Veroperung des bekannten Weihespiels“. Was für ein schönes Wort: Veroperung. Ich danke natürlich Jonathan Keates.


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