Katherine Mansfield: Rosabels Müdigkeit

Ganz verkehrt ist es nie, mit dem Anfang anzufangen. Katherine Mansfields literarischer Anfang aus dem Jahr 1908 ist eben „Rosabels Müdigkeit“, Briefe und Tagebücher dabei natürlich ausgeklammert. 1908 war Mansfield 20 Jahre alt, sie hieß Beauchamp, war die dritte von insgesamt fünf Töchtern der Eltern Harold und Anne Dryden Beauchamp. Wenn sie nicht sie gewesen wäre, hätte sie in Neuseeland eben als Tochter des Direktors der größten Bank des Landes wohl ein Leben wie im Bilderbuch führen können, vielleicht ein Leben für die Illustrierten. Sie aber hatte, nachdem sie mit ihren beiden älteren Schwester 1903 nach London zur Schule geschickt und 1906 zurück nach Wellington beordert worden war, kein höheres Bestreben, als in London zu leben. 1908 kam sie wieder in die damalige Welthauptstadt der British Empire und sie nahm auf sich, was immer kam, um dort zu bleiben und auf eigenen Füßen zu stehen.

Im ältesten Mansfield-Zeitungsausschnitt meines Archivs, es ist eine Besprechung der Mansfield-Biographie von Claire Tomalin, geschrieben von Katharina Rutschky, ist von Ehrgeiz die Rede und behauptet wird: „Viele haarsträubende Abenteuer und Katastrophen aus ihren ersten Jahren in Europa verdanken sich Katherine Mansfields Entschluß, um jeden Preis Erfahrungen zu machen, damit ihr als Schriftstellerin der Stoff nicht ausgeht. Es sind also nicht Leichtsinn, Lebenslust und Leidenschaft, die sie auf rätselhafte Reisen, in Flirts und Liebesgeschichten trieben ... sondern die Absicht, literarische Feldforschung zu betreiben.“ (DIE ZEIT, 19. Oktober 1990, S. 85) Überliefert ist, wie geizig der reiche Vater mit seiner Tochter war, als sie das Queens College besuchte und dass er ihr, der an Tuberkulose schwer Erkrankten, die Arztkosten nicht bezahlen wollte. In die Bresche sprang, wo immer es ging, die College-Freundin Ida Baker, die erst 55 Jahre nach Katherine Mansfield starb und ihre Erinnerungen an sie spät in Buchform brachte.

„Rosabels Müdigkeit“ umfasst nur wenige Seiten. Es geht um die Verkäuferin Rosabel, die so arm ist, dass ein paar gekaufte Blumen schon den Ausfall einer Mahlzeit nach sich ziehen. Sie verkauft Hüte und sie muss damit leben, dass reiche Frauen oder Frauen mit reichen Gönnern ihr extravagante Wünsche offerieren, manchmal nur, um sie in Verlegenheit zu bringen. Einige probieren endlos Hüte auf und gehen dann. Zwanzig Jahre nach Katherine Mansfield spielt eine solche Verkaufssituation in Hans Falladas Welterfolg „Kleiner Mann – was nun?“ eine entscheidende Rolle, der Verkäufer Johannes Pinneberg landet auf der Straße. So dramatisch geht es bei Rosabel nicht zu, eher im Gegenteil. Sie wird den verrücktesten Hut aus der Kollektion nicht nur los, sie wird auch aufgefordert, ihn sich selbst probehalber aufzusetzen, damit die künftige Trägerin ihn besser begutachten kann. Und der Mann, der dann des edle Stück bezahlt, fragte sie, ob sie sich schon einmal hat malen lassen.

Was für eine dumme, snobistische Frage, möchte man meinen, zumal das anschließende Kompliment des attraktiven Autolenkers durchaus auch plump genannt werden darf: „Sie haben so ein verflucht feines Figürchen.“ Es folgt keine Geschichte von der Verführung eines Ladenmädchen, es folgt auch keine Geschichte wie die mit dem Pelz bei Irmgard Keun. Rosabel begibt sich nach ihrem späten Feierabend auf den Heimweg in die Richmond Road 26, sie wohnt vier Treppen hoch und findet es schlimm, dass man überhaupt so hoch wohnen muss und dann auch noch ohne Fahrstuhl oder Rolltreppe. Für die zweibändige DDR-Ausgabe mit ausgewählten Werken Katherine Mansfields (Insel-Verlag 1981) hat Herausgeber Wolfgang Wicht seinerzeit nicht nur ein leider arg uninspiriertes Vorwort geschrieben, er hat auch die genannten geographischen Orte der Story für den Anmerkungsteil mit der Londoner Realität verglichen und gefunden, dass es diese Straße da gar nicht gibt, wo sie sein soll und dass auch der genannte Bus dorthin gar nicht fährt. Wohl dem, der das wichtig findet.

Man kann stattdessen auch an die Geruchswahrnehmung der Heldin im Atlas-Bus anknüpfen: „In der Luft hing ein widerlicher Geruch nach warmer Menschheit – jedermann im Bus schien diesen Gestank auszuströmen.“ Das liest sich anders, wenn man eine Passage aus der dicken Heyne-Biographie daneben stellt, die Jürgen Klein über Virginia Woolf verfasst hat: „Katherine besuchte die Woolfs in Asheham wie in Richmond. Virginia behauptete, der erste Eindruck von Katherine sei der, daß sie stinke wie ein Tibetkatze. Zugleich war sie aber von der Intelligenz wie von der literarischen Begabung Katherine Mansfields fasziniert.“ Virginia Woolf pflegte eine, wie bezeugt ist, durchaus spannungsreiche, nicht zuletzt von Autorinnen-Neid partiell unterwanderte Beziehung zu Katherine Mansfield und besuchte sie in deren Londoner Wohnung noch Anfang der 20er Jahre, sobald sich eine Gelegenheit ergab. Mansfield ihrerseits hatte in Buchkritiken, von denen sie rund 100 verfasste in ihrem kurzen Leben, auch Woolf nicht geschont, was zusätzlich Zündstoff in das Verhältnis trug.

Meine Kenntnisse über den Geruch von Tibetkatzen sind leider nicht der Rede wert, weshalb ich mir ein Abtauchen in die Abgründe nasaler Wahrnehmungen erspare. Wobei ich seit Jahren der Meinung bin, dass eine literarische Großstudie des Titels „Maupassants Nase“ wahrscheinlich mehr lesenswerten Stoff ergäbe als eine Buchhandlung voller diskursanalytischer Text-Zerbröselungen aus der Feder der üblichen französischen Verdächtigen und ihrer hiesigen Hagiographen und Follower in Geist und Buchstaben. Katharina Rutschky beispielsweise hat in der schon zitierten Biographie-Kritik einen Satz geschrieben, den man auch als Kritik an deutschen Zuständen lesen kann mit einer leichten Grundfreundlichkeit: „Wo das Verhältnis von Text und Autor hierarchisch geregelt ist, wird die Biographik immer ein bloßes Hilfsmittel im Vorfeld strenger Analyse bleiben, aber niemals als eine genuine Methode der Auseinandersetzung mit Literatur akzeptiert werden.“ Wer aber will eigentlich eine strenge Analyse und warum haben sich mittlerweile ganze Biographie-Fließbänder etabliert für den deutschen Buchmarkt? Es wollen wohl nur die Strengen die Strenge.

Rosabel also, deren Nase ihr den Mief der fahrenden Menschheit zutrug, zieht sich in ihrer hoch gelegenen Wohnung aus, beginnt einen Tagtraum, der sich in einem Nachttraum fortsetzt und als die paar Seiten zu Ende sind, wird der Leser mit diesem Satz entlassen: „Und weil dieser unselige Optimismus, der allzu oft die einzige Erbschaft der Jugend darstellt, ihr Erbteil war, lächelte sie  noch ganz schlaftrunken, ein kleines nervöses Zucken um den Mund.“ Zum Leidwesen von Wolfgang Wicht und seiner verehrten DDR-Kollegen, die ihre eigene Strenge vertraten, solange dies nötig schien, eilt Rosabel nicht am nächsten Morgen wild entschlossen, dem Leben tatsächlich neue Züge bringen zu helfen, in die nächstbeste Gewerkschafts- oder gar Parteiversammlung der englischen kommunistischen Partei, sondern vermutlich wieder hinter ihren Ladentisch. Vielleicht kommt sie mal zu einem besseren Tee, ohne auf Blumen verzichten zu müssen, vielleicht auch nicht. Wäre dies Katherine Mansfield anzulasten? Weil sie am 14. Oktober 1888 geboren ist, stelle ich diese Zeilen für sie am 14. Oktober 2013 ins Netz. Und gestehe gern, das mir erst der vorjährige Frankfurter Buchmesse-Schwerpunkt Neuseeland ihre Herkunft wirklich nahe gebracht hat.


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