Jorge Luis Borges: Nathaniel Hawthorne

Jorge Luis Borges ist ein Einflößer. Erstaunen flößt er ein und Erschrecken, Bewundern, Begeistern, Ehrfurcht, Furcht auch, kein Zittern. Auf einen Denkmalsockel gestellt, könnte er täglich eine Kranzniederlegung überstehen, ohne sich vor der durchschlagenden Wirkungslosigkeit eines Klassikerseins ängstigen zu müssen. Er hat den Nobelpreis nicht bekommen, obwohl er ihn eher verdient gehabt hätte als zirka 43 tatsächliche Preisträger seit Sully-Prudhomme. Borges hatte den Makel aller Makel: er warf keine Romane auf den Markt. Aus diesem Makel folgt folgerichtig ein Sekundärmakel primären Ranges: vor die Wahl gestellt, die Romane oder die Erzählungen eines anderen Autors gut zu finden, neigte er den Erzählungen zu. Dazu kommt, dass er sich in einem Maße auskennt in der Welt des Geschriebenen und Gedruckten, dass man streng genommen nur den oben genannten Einflößungen verfallen kann und dann schweigen. Damit ist er für eine ganze Gilde von Literaturbetrachtern der Alptraum. Er weiß zu viel und er weiß es immer aus guter Quelle. Was meint man zu so einem, wenn man selbst das ausdauernd schreibende Nichtwissen verkörpert und seine eigene Not zur theoretisch hochgemauerten Tugend stilisiert, wenn man doch zugleich allein beim Wort Lateinamerika feuchte Augen und Handflächen bekommt?

Wer sich anschaut, was 2004 zum 200. Geburtstag des Amerikaners Nathaniel Hawthorne gedruckt und 2014 zum 150. Todestag recycelt wurde, stellt, falls er hinreichend ahnungslos ist, erstaunt fest, dass die Romane Hawthornes in den Jubelspalten dominieren und dass unter den genannten Autoritäten, die traditionell herangezogen werden zur Beglaubigung eigenen Meinens, Henry James den Lorbeer in die Stirn hängen hat, was keineswegs unverdient für ihn ist. Aber: Es belegt auf der Außenbahn, was keines Beleges bedarf. Die Stimme eines ausgewiesenen und im Jedermann-Olymp etablierten Romanciers passt einfach besser zum Lobgesang auf Neuübersetzungen längst klassischer Romane der amerikanischen Literatur-Pionierzeit. Henry James entschied sich für „Das Haus mit den sieben Giebeln“ aus 1858, als er 1897 zu Hawthorne sich äußerte und seinen Favoriten küren zu müssen glaubte. James hat hochkluge Sätze zu Hawthorne hinterlassen an dieser und anderen Stellen seines umfangreichen Werkes, die sich keineswegs alle widerspruchsfrei zu einem Gesamtbild fügen wollen. Den Roman „Der scharlachrote Buchstabe“ aus 1850 aber nannte er „das vorzüglichste Prosawerk, das amerikanischem Boden entsprang.“

Die folgende Aussage von Henry James hätte Jorge Luis Borges ganz sicher unbedenklich unterschrieben: „Zu Hause hatte er den Moder der Vergangenheit aufgerührt, doch im Ausland schien er sich nach der heimatlichen Frische zu sehnen. Für viele ist sein großes, sein bewegendstes Merkmal wahrhaftig seine Reserviertheit, wo immer er ist. Er ist außerhalb von allem und überall ein Fremdling. Er ist ein ästhetischer Einzelgänger.“ Bei Borges findet sich, auf Hawthornes Geburtsstadt Salem bezogen, in der ein Vorfahre des Autors Richter in den berühmt-berüchtigen Hexenprozesen von Salem war, dies: „Er hing an ihr mit jener wehmütigen Liebe, wie sie uns Leute, die uns nicht mögen, Fehlschläge, Krankheiten und Sehnsüchte einflößen. Wir machen uns keiner Unwahrheit schuldig, wenn wir sagen, daß er sich im Grund nie aus ihr entfernt hat.“ Sind die hier aufgezählten Gegenstände wehmütiger Liebe in ihrer natürlich bewussten Reihung nicht allein schon die pure Provokation zu abschweifenden Erörterungen? Dergleichen durchsetzt den Hawthorne-Essay von Borges (und andere seiner Essays natürlich auch) und die Lektüre lustvoll. Dabei ist es freilich hilfreich, wenn man wenigsten die überwiegende Zahl der aufgeführten Namen nicht zum allersten Male hört. Borges protzt nicht mit diesen Namen und seinem Wissen über sie, er hat das und kann es nicht verleugnen, was peinlich wäre. Am ehesten wäre noch auf die Intimkenntnis argentinischer Literatur zu verzichten, wenn auch die Verweise dahin, die sich der Argentinier Borges selbstverständlich nicht verkneift, immerhin soldide Neugier wecken.

„Hawthorne war groß gewachsen, schön, schmächtig, brünett. Er hatte den wiegenden Gang eines Seemanns. Damals gab es (sicher zum Wohl der Kinder) noch keine Kinderbücher.“ Man hätte den Umstand, dass Hawthorne als Kind zuerst John Bunyans „The Pilgrims Progress“ las, auch anders einführen können (mir ist Bunyan zum erstenmal näher gerückt, als ich mir für meine Dissertation die Geschichte des Fortschrittsgedankens in eine Chronologie zu bringen hatte). Welch tückische Einklammerung nimmt der Argentinier denn hier vor? Borges verteidigt die Allegorie mit der launischen Gegenüberstellung von Benedetto Croce und Gilbert Keith Chesterton, das ist der mit dem Pater Brown, der eine Gegner, der anderen Freund der literarischen Allegorie, um dann knapp festzuhalten: „So ungesellig und weiträumig ist die Literatur!“ Auch darauf muss einer erst einmal kommen. Und es geht weiter, er stellt Hawthorne dem Spanier José Ortega y Gasset gegenüber: „Ortega hat wohl oder übel die Gabe vernunftmäßigen Denkens, dagegen keine Einbildungskraft; während Hawthorne ständig befangen ist in seinem eigenartigen Phantasiedenken, das sich dem vernunftmäßigen Denken gewissermaßen widersetzt.“

Für Jorge Luis Borges führt dieser Widerspruch zu bedauerlichen Folgen: „Der puritanische Wunsch, aus jeder Phantasievorstellung eine Fabel zu machen, verleitete ihn dazu, sie mit moralischen Anhängen zu versehen und sie manchmal zu verfälschen und zu entstellen.“ Das wäre in Romanen und Erzählungen Hawthornes so leicht nachzuvollziehen, dass keine eigene Beweisführung vonnöten ist. Für Borges aber leitet sich daraus keine Herabsetzung des Amerikaners ab. Auf Cervantes bezogen zwar, aber natürlich auch auf Hawthorne gemünzt, sagt Borges (es handelt sich um eine Vorlesung, die er im März 1949 im Colegio Libre de Estudios Superiores gehalten hat): „Wenn wir an den Glauben des Romanciers glauben können, fallen alle Nachlässigkeiten und Fehler kaum ins Gewicht.“ Kaum heißt nicht gar nicht: „Hawthorne dagegen ersann zunächst eine Situation oder eine Reihe von Situationen und begab sich erst dann an die Ausarbeitung  der Figuren, die sein Plan erforderte.“ Das Verfahren birgt laut Borges eine gar nicht kleine Gefahr, denn eine einzige schlecht erfundene Figur kann alle anderen mit ihrer Unwirklichkeit anstecken.

Mit seinem klaren Bekenntnis zu den Erzählungen hält sich Borges nicht lange auf, geht sofort über zu „Wakefield“ aus dem allerersten Erzählband, den „Twice-Told Tales“, wo ein Mann seine Frau verlässt, um unerkannt an die zwanzig Jahre ein paar Häuser weiter von ihr zu wohnen, ehe er unvermittelt wieder zu ihr zurückkehrt. Für Borges hat Hawthorne 1835, da entstand die Geschichte, die Welt Franz Kafkas betreten. Beide Autoren verbindet „die bodenlose Mittelmäßigkeit des Helden, die mit der Größe seines Verderbens kontrastiert.“ Ich räume rasch zwischendurch meine Verführbarkeit ein: bodenlose Mittelmäßigkeit ist wunderbar gesagt. Es kommt aber noch viel, viel besser: „Es besteht eine gegenseitige Abhängigkeit; ein großer Schriftsteller erschafft seine Vorläufer.“ Noch ehe die Verblüffung über diese scheinbare Verkehrung aller Abhängigkeiten Raum gegriffen hat, legt Borges nach: „Was wäre beispielsweise Marlowe ohne Shakespeare?“ Die Tücke hier: Marlowe war gleichaltig, das schafft Probleme in der Branche der Vorläuferei. Wir haben Borges' Satz über den Glauben an den Romancier auf ihn selbst anzuwenden, Nachlässigkeiten fallen nicht ins Gewicht.

Von Interesse ist aber, zehn Jahre nach dem 200. Geburtstag am 4. Juli 2004, ein paar Wochen nach dem 150. Todestag am 18. Mai 2014, das unbeeindruckte Fortleben von Sichtweisen. Andreas Isenschmid ergeht sich in der ZEIT vom 15. Mai 2014 auf drei langen Spalten wie ein schreibender Schwarmgeist über „Der scharlachrote Buchstabe“ und „Das Haus mit den sieben Giebeln“, man spürt fast von Satz zu Satz, wie ihm Demi Moore als Hester Prynne, Gary Oldman als Reverend Dimmesdale und Robert Duvall als Roger Prynne vor Augen standen, nur ein Jahr später war Demi Moore in „Striptease“ die Spottgestalt aller feineren Filmkritiker. Ganze 160 Druckzeilen Isenschmid sind Henry-James-basiert, es folgen, fast wie ein Alibi des Informiertseins immerhin 13 Zeilen mit Borges-Bezug. Borges als Variante eines James-Spiels, beschreibt es Isenschmid selbst und dann offenbart er, schuldlos sicher, aber eben in der immer noch so typischen Ignoranz, die nicht aus Böswilligkeit, sehr wohl aber aus erschreckender Uninformiertheit resultiert, seine pure West-Fixierung. DDR-Leser und ihr Literaturbetrieb sind vollkommen außerhalb des Horizontes. Im Klartext: Naturlich lassen sich im Antiquariatsbuchhandel nicht nur vergriffene Sammelbände  von Winkler und Manesse finden mit Hawthorne-Erzählungen, sondern solide Ausgaben des Leipziger Insel-Verlages, des Leipziger Reclam-Verlages, des Leipziger Gustav-Kiepenheuer-Verlages. Es ist einfach nur ärgerlich, ja fast widerlich. Drei Seiten „ZEIT im Osten“ allein machen es eben doch nicht, zumal die längst nur noch pro forma östlich aufgeputzt sind.

Bei Stefana Sabin in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG vom 3. Juli 2004 kam Jorge Luis Borges klar besser weg mit seinem Blick auf Hawthorne, wobei unklar bleibt, warum die Autorin die amerikanischen Titel mal deutsch, mal englisch nennt ohne erkennbares System. Erkennbar ist dagegen auch bei ihr das Signal-Wort Kafka. Danach geht es zügig zu den Romanen, „The Marble Faun or The Romance of Monte Beni“ firmiert unter der arg irritierenden Bezeichnung „Italian Romance“, was sehr informierte Leser voraussetzt, denn das ist nicht einmal der Untertitel von „Der Marmorfaun“, wie der deutsche Buchtitel lautet. Immerhin geht der Geburtstagsartikel aus der Schweiz über die üblichen Nennungen der Freunde Thoreau, Longfellow, über die unvermeidliche Erwähnung der Widmung Herman Melvilles hinaus in dessen „Moby Dick“. Stefana Sabrin bringt auch die Namen von William Faulkner, Toni Morrison, vor allem aber von John Updike ins Spiel, von dem drei Romane als „Scarlett Letter Trilogy“ bezeichnet sind, sie tragen die deutschen Titel „Der Sonntagsmonat“, „Das Gottesprogramm“ und „S.“. Das muss man nicht unbedingt wissen, es schadet aber auch nichts, diesen Bezug zu kennen.

Über „Doktor Heideggers Experiment“ hat Borges kein Wort verloren. Ich müsste mir also eine Überleitung basteln wie ein Fernsehmoderator. Wähle stattdessen aber die peinlichere Variante, das Selbstzitat, mein TAGEBUCH vom 18. Mai 2014: „Einen ersten Anlauf gab es 1985 mit fünf Büchern, einen zweiten 2004 mit acht Büchern in Folge. Und heute, zum 150. Todestag, wäre endlich ein Text zu Nathaniel Hawthorne fällig gewesen. Ich mag diesen alten Amerikaner, brauche auch keine Neuübersetzungen, die der Markt offenbar jetzt immer braucht. Kurios, dass zum Todestag genau die Neuübersetzung des Manesse-Verlages hervorgezaubert wird im Feuilleton, die schon vor zehn Jahren zum 200. Geburtstag herhalten musste. Auch zu W. G. Sebald komme ich nur auf Umwegen, wenn überhaupt. Dafür hatten wir einen sehr schönen Tag am Stausee, ein weniger schönes Pokalfinale und einen Relegationssieger ohne Sieg. „Doktor Heideggers Experiment“ empfehle ich dennoch besten Gewissens, schon damit es einmal nicht um den Namensvetter Martin geht, dessen schwarze Hefte über etliche Wochen und Monate alles in Atem und Schreibwut hielt, was meinte, meinen zu müssen. Unser Heidegger eben.“

Der Doktor Heidegger macht sich ein leicht okkultes Späßchen mit drei alten Herren und der Witwe Wycherly. Sie bekommen die Chance, mittels eines Wunderwassers, das angeblich aus dem Süden Floridas stammt und wirkt wie ein Jungbrunnen, sich selbst zu verjüngen. Das klappt so rasant überzeugend, dass die drei Herren bald einander an die Kehle fahren wollen im Hahnenkampf um die ebenfalls verjüngte Witwe, mit der alle drei einst ein Verhältnis hatten. Das Tückische am Wunderwasser ist: seine Wirkung hält nicht vor, der Rest wird außerdem ein Opfer des Balzgefechtes. Doktor Heidegger selbst hat eine gute Begründung, warum er auf die Anwendung verzichtet: „Was mich betrifft – da ich viel Mühe damit hatte, alt zu werden, habe ich es nicht eilig, wieder jung zu werden.“ Auch eine Art von Altersweisheit, die man nicht vin der Bettkante schubsen sollte. Nicht unerwähnt soll der Traumprojekt des verjüngten Mr. Medbourne bleiben. Er möchte Ostindien mit Eis versorgen, indem er ein Walfischgespann vor die Eisberge des Nordpols schirrt. Bleibt ein abschließendes Zitat aus Jorge Luis Borges, mit dem er den Romanen, die er auf Platz zwei hinter die Erzählungen setzte, doch noch Absolution erteilt: „Wenn in einem Autor etwas steckt, kann keine Absicht, mag sie noch so albern oder irrig sein, dem Werk einen Schaden unheilbarer Art zufügen.“ Das ist es doch, genau das.


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