Wolfgang Schadewaldts Schiller-Reden

Der Altphilologe Wolfgang Schadewaldt, Jahrgangsgefährte von, um nur einige zu nennen, Bruno Apitz, Erich Fromm, Hermann Kesten, Werner Krauss, Leo Löwenthal, Anna Seghers, Franz Carl Weiskopf, starb im Alter von 74 Jahren genau an Schillers 215. Geburtstag. Er starb in Tübingen und hat auf dem dortigen Bergfriedhof seine letzte Ruhestätte. Was liegt näher, als den Zufall des Datums zu nutzen, seines vierzigsten Todestages damit zu gedenken, ein paar Blicke in jene beiden Reden zu werfen, die er Friedrich Schiller widmete, die erste 1955, die zweite 1959. Denn Schadewaldt war, auch wenn sein wissenschaftliches und publizistisches Hauptaugenmerk der griechischen Antike, dabei an allererster Stelle Homer galt, ebenso ein profunder Kenner der deutschen klassischen Literatur. Sein jahrelanger Umgang mit Goethe schlug sich in seinen „Goethe-Studien. Natur und Altertum“ aus dem Jahr 1963 nieder, bekannter noch ist das „Goethe-Wörterbuch“, das seit 1966 erscheint und sich seiner Initiative verdankt. Zwei Bände umfasst eine Sammlung seiner kleineren Arbeiten zur Antike, sie erschien aus Anlass seines sechzigsten Geburstages 1960, trägt den Titel „Hellas und Hesperien“ und wird in Antiquariaten aktuell zwischen zweihundert und zweihundertfünfzig Euro gehandelt.

Mein ältestes Schadewaldt-Buch ist „Von Homers Welt und Werk“, es trägt den Besitzstempel meiner Mutter noch mit ihrem Mädchennamen und ist 1944 bei Koehler & Amelang in Leipzig erschienen. Man wagt es kaum mit Samthandschuhen anzufassen, denn weder Rücken noch Einband noch Papier weisen die Qualitäten auf, die man normalerweise von einem Buch erwartet, das man benutzen und nicht nur besitzen möchte. „Aufsätze und Auslegungen zur homerischen Frage“ ist der Untertitel, den zu erwähnen insofern Sinn macht, als die erste Schiller-Rede Schadewaldts, gehalten am 9. Mai 1955 im großen Sendesaal des Frankfurter Funkhauses, den Titel trug „Zur Tragik Schillers“, die zweite, „Schillers Griechentum“ zuerst am 13. Oktober 1959 in Hannover in der Goethe-Gesellschaft vorgetragen, schon im Titel in die Antike deutet. Die Bestimmung des Tragischen bei Aristoteles und Schiller, die Etappen seiner Hinwendung und des Verstehens der griechischen Antike sind Kerngehalte dieser Reden, der Altphilologe war dazu natürlich weit berufener als jeder andere zu gleicher Thematik. Zumal Wolfgang Schadewaldt, das sei vorausgeschickt, sich rühmen durfte, eine entscheidende Neudeutung zu Aristoteles als erster vorgetragen zu haben, worauf er mit berechtigtem Wissenschaftlerstolz bei passender Gelegenheit gern zurückgekommen ist.

Als mit heftiger Verspätung die Beiträge zu einem Kolloquium zum hundertsten Geburtstag Schadewaldts 2005 im Hildesheimer Olms-Verlag erschienen, kümmerten sich Rezensenten von „Wolfgang Schadewaldt und die Gräzistik des 20. Jahrhunderts“ weniger um die wissenschaftliche Leistung des schon mehr als dreißig Jahre toten Jubilars, als um seine angeblichen oder wirklichen Lebensumstände. Die Leser der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG wie auch der NEUEN ZÜRCHER bekamen Kenntnis von Richtigstellungen in Sachen Rektoratszeit von Martin Heidegger 1933/34, die bis dahin von offenbaren Neidern falsch dargestellt worden war und sie erfuhren vom unwiderruflichen Zerbrechen einer Freundschaft, der mit Eduard Fraenkel (der 1888 geborene Altphilologe musste nach seiner Amtsenthebung 1934 emigrieren und nahm sich am 5. Februar 1970 nach dem Tod seiner Frau das Leben). Obwohl selbst Aussagen zur Personalität Homers (schrieb einer oder schrieben mehrere Autoren Ilias und Odyssee) sicher bedeutsamer gewesen wären, nicht zu reden eben von der Interpretation des Tragischen auf der Bühne seit der griechischen Antike. Schadewaldt selbst nutzte die Gelegenheit seiner Schiller-Reden, sehr klar seine eigenen Verdienste herauszustellen und blieb dennoch merkbar uneitel. Unter der leicht irritierenden Überschrift „Zur Tragik Schillers“ verwies er gleich eingangs auf seine Schrift „Furcht und Mitleid“, 1955 im zweiten Heft der Zeitschrift HERMES erschienen.

Schadewaldt ersetzt in der Darlegung zum Wesen des Tragischen, wie sie von Aristoteles entfaltet wurde, die Übertragungen „Furcht“ und „Mitleid“ (phobos und eleos), die er auf eine eigensinnige Auslegung Lessings zurückführt (eigensinnig bezogen auf dessen eigene aufklärerische Tragödien-Theorie), durch „Schauder“ und „Jammer“. Die berühmte „Katharsis“, in der Literatur oft gar nicht mehr übersetzt, ist ihm „erleichternde Befreiung“, weniger die gern verwendete „Läuterung“. Für Schiller nun macht Schadewaldt geltend, er habe die Auffassung des Aristoteles zunächst instinktiv begriffen und schon in Theaterpraxis verwandelt, eher er auch theoretisch bis zum tiefsten Verständnis vorgedrungen sei. Mit der erstaunlich handlichen und handhabbaren Begriffsbildung „theatralisches Moment“ dringt Schadewaldt in die innere Struktur der Schillersschen Bühnenwerke vor. Schillers primär wirkungsästhetische Orientierung förderte Missverständnisse seiner Dramaturgien auch bei Goethe. Eine Schillersche Handlung ist für Wolfgang Schadewaldt „nicht so sehr ein organisches als ein physikalisches System von theatralischen Kraftfeldern, die einander überschneiden, durchdringen, zu Kraftzentren steigern, so daß schließlich alles auf einen einzigen höchsten Kraftpunkt hinzielt, den prägnanten theatralischen Moment.“ Mit dieser Eigenart ist ihm Schiller höchst modern, imponierend, „um nicht zu sagen großartig.“

Natürlich kennt jeder halbwegs informierte Schiller-Freund wenigstens dem Titel nach die Schrift „Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen“ (1792). Dass hier eben nicht nur die tragischen Gegenstände, sondern auch das Vergnügen an ihnen schon im Titel herausgehoben erscheinen, ist eine gar nicht so triviale Feststellung, wie es scheint. Denn unabhängig von Schiller und auch sehr weit ab von ihm könnte man als Zeuge des Heute nicht unbegründet vermuten, dass die Freude an tragischen Gegenständen gar nicht so sehr ein Kunsterlebens-Phänomen ist, sondern eine allgemeine Disposition, die von den Massenmedien auch seriöseren Zuschnitts benutzt wird, um einen universellen Katastrophen-Voyerismus zu begründen. Ein Informationsinteresse wird hier unterstellt, in ein Informationsrecht transformiert und für die Medien selbst als Informationspflicht umgedeutet. In der Summe entsteht, längst Debattengegenstand geworden, aber wie in diesen spezielen Fällen immer, vollkommen folgenlos, ein deprimierendes, Zukunftsangst bis Panik auslösendes Weltbild, welchem die tatsächliche Welt zum Glück nicht entspricht. Von Schiller behauptet Schadewaldt: „Er weiß mit unbeirrbar sicherem Kunstverstand, der doch vielleicht mehr als lediglich Kunstverstand ist, daß die Lust am Schauder und am Schrecklichen nicht eine gemeine, niederziehende Wollust sein darf.“

Laut Wolfgang Schadewaldt besaß Schiller eine Eigenschaft von größter Seltenheit: „Und so beschränkt er mit der Kraft, in großartiger Weise über sich selbst zu stehen, auch wieder die eigenen starken Möglichkeiten...“. Man muss also nicht jedem, der öffentlich mit seinen eigenen Skrupeln kokettiert, ehe er den blanken Horror ins Netz stellt oder ins Spätprogramm sämtlicher Sender, moralisches Verantwortungsbewusstsein unterstellen oder gar – Größe. Die fast in der gesamten Theater- und Bühnengeschichte geltende stille Übereinkunft, ab einem bestimmten Punkt von Unzumutbarkeit, der natürlich immer historischen Einflussfaktoren unterliegt, den Botenbericht oder die so genannte Mauerschau einzusetzen, ist im zwanzigsten Jahrhundert von einer mit Eifer gepflegten Blut-und-Sägemehl-Dramatik, umgesetzt in einer ebenfalls mit Eifer gepflegten Kotz-Pinkel-und-Kack-Spielpraxis, weitgehend in eine Gestrigkeitsecke gestellt worden. Schillers Tragikauffassung wurzelt nicht im Glauben an Göttlich-Dämonisches, sondern baut auf der von ihm gesehenen Dualität des Idealen und des Realen auf. „In seinen Tragödien hat er diese Tragik des Enthusiastisch-Idealen in den Verklammerungen der Realität in immer neuen Spielarten neu gestaltet.“ „Dem idealen Aufschwung hält in dem Dramatiker Schiller ein furchtbar desillusionierender Scharfblick die Waage. Schiller besitzt eine nüchtern eindringende Kenntnis des Bösen wie sonst nur wenige Deutsche neben ihm.“ „In der Tragik Schillers aber ist das Leiden nicht ausweglos: es ist sich selbst der Ausweg.“

1959 erweiterte Wolfgang Schadewaldt seine Thematik. Nicht zuletzt deshalb durfte er wohl seinen Vortrag nach der Premiere in Hannover noch in Stuttgart, Düsseldorf und Mainz wiederholen. Die Frage richtete sich nun zunächst darauf, was Schillers Zugang zum Griechentum von dem unterschied, den Winckelmann, Goethe und Hölderlin gefunden hatten. „Schiller war durch seine geistige Eigenart, wie auch sein bekanntes Erziehungschicksal, von den Griechen zunächst mehr getrennt als auf sie vorbereitet.“ Und kam dennoch, wenn auch erst recht spät, ab 1788, „zu einer gedankenmächtigen, schöpferischen Anverwandlung des griechischen Geistes und der griechischen Form.“ Ein Hauptort dieses Ankommens in einer für ihn vollkommen neuen und wichtigen Dimension war Rudolstadt, wo er eben nicht nur filmreif und doppelbiographieträchtig zwischen zwei Schwestern tändelte und pendelte, ehe er Charlotte der Karoline vorzog, was zu keinerlei Entzweiung führte. Man kennt die Geschichte mit den Wärmekissen auf Schillers final erkaltenden Füßen, das freilich dann nicht mehr in Rudolstadt, sondern in Weimar, wo man noch heute sich hinter vorgehaltener Hand freuen muss, dass die Krankheit bereits so weit gediehen war, ein Verschwinden gen Berlin für die Familie wie ihn selbst zu verbieten. Mit den Schwestern aber und dem glücklichen Sommer 1788 bleibt für immer verbunden das erste wirkliche Eindringen in die alten Griechen.

Schadewaldt zitiert den Satz (neben weiteren) aus dem Brief Schillers an seinen Freund Körner, der heute den Werbeabteilungen sämtlicher 2000 Verlage der Bundesrepublik Deutschland den Schrecken in die Glieder fahren ließe: „In den nächsten zwei Jahren, habe ich mir vorgenommen, lese ich keine modernen Schriftsteller mehr.“ Vorbereitet war das griechische Sommermärchen schon über den Umgang Schillers mit Wieland und Karl Philipp Moritz in Weimar, Goethes wie auch immer geartetes Griechentum war mit seinem Träger noch nicht aus Italien zurückgekehrt. Schiller verspürte plötzlich die Anziehungskraft wahrer Simplizität. Die dritte und letzte Etappe der Annäherung an die Griechen erkennt der Altphilologe in den ersten Freundschaftsjahren mit Goethe, im Jahrfünft 1795 – 1799: „... die Griechen sind ihm in diesen Jahren zur unmittelbaren Gegenwart geworden.“ Dennoch ist das Griechentum Schillers ein anderes als das Goethes, es hat „den Charakter eines idealischen Modells“. Die Balladen bezeugen das mit ihren Figuren Polykrates, Ibykus, Dionysius, Kassandra, Nestor, Hekuba. „Philosophisch gewann er den Griechen seine Deutungen der Anmut und Würde, des Erhabenen, des „tragischen Vergnügens“, des Naiven und Sentimentalischen ab, durch die er konstitutive Substanzbegriffe des Menschlichen in die Kunstbetrachtung einführte.“

Schillers „Gedankenlyrik“, aus dem Blickwinkel von Goethes „Gelegenheitsgedicht“ gar nicht so selten als uneigentliche Lyrik missdeutet, hat ihre adäquate Form in der Elegie gefunden, einer frühgriechischen Form, wie Schadewaldt in Erinnerung ruft. Nach dem Lesen und Übersetzen griechischer Tragiker wandte sich Schiller der Aufgabe zu, aus diesen Formprinzipien für seine eigenen Dramen zu gewinnen. Die Lektüre des Sophokles treibt Früchte für den „Wallenstein“, für die Formstrenge der „Maria Stuart“. Die Wiedereinsetzung des alten Chores für die moderne Bühne in „Die Braut von Messina“ gehört hierher, auch wenn sie in der Schiller-Literatur auffallend oft wie eine Verirrung behandelt und von Theaterpraktikern als nicht mehr spielbar angesehen wird. Schadewaldt vertieft die Problematik nicht, vertritt seine Meinung aber auch indirekt recht deutlich, wenn er schreibt: „In seinem Ringen um die Verwirklichung der Tragödie ist Schiller, im Umgang mit den Griechen, steigend ein höchster Könner des Theaters geworden.“ Im „Tell“ wie im Fragment gebliebenen „Demetrius“ „gelang es ihm aufs Schönste, die antike Strenge mit moderner Freiheit zu vereinigen.“ Mit seinen beiden Schiller-Reden könnte Wolfgang Schadewaldt auch zum heutigen 255. Schiller-Geburtstag Ehre einlegen, das will viel heißen.


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