Ludwig Meidner: eine Annäherung

Wenn einer ein ganzes Buch vollschreibt über „Die Kunst des 20. Jahrhunderts“ und in diesem Buch fällt ein bestimmter Name kein einziges Mal, darf man mit Recht annehmen, der Verfasser habe den betreffenden Künstler auf gar keinen Fall gemocht. Es würde meinen Ehrgeiz überfordern, diesem Geheimnis auf die Spur zu kommen, das vielleicht gar kein so großes ist: Warum denn der Expressionist Carl Einstein den Expressionisten Ludwig Meidner in seinem Buch nicht erwähnt, er hätte ihn ja abfällig behandeln dürfen. Aber er hielt vielleicht das Verschweigen für die mögliche Höchststrafe. Der Maler Meidner, der doch immerhin Schöpfer eines Jakob-van-Hoddis-Porträts ist, das selbst Laien bekannt vorkommen dürfte, der Theodor Däubler porträtierte, der sich mit einem geschriebenen Porträt revanchierte und der auch Max Herrmann-Neiße in Öl auf die Leinwand brachte, die beiden waren befreundet seit frühen Vorkriegsjahren, fehlt bei Carl Einstein. Wer sich auch nur ein wenig umtut, findet weitere Porträts: von Paul Zech, von Johannes R. Becher. Er stößt auf Reihen von Biographien, in denen Ludwig Meidner eine Rolle spielte. Die zunächst größte Überraschung für mich war der Name Arnold Zweig, ein schlesischer Zusammenhang.

Ludwig Meidner wurde am 18. April 1884 in Bernstadt, (Kreis Oels/Schlesien) geboren, als Kind jüdischer Eltern, der Vater betrieb ein Textilgeschäft. Bernstadt an der Weide, seit 1945 Bierutów, hatte eine jüdische Gemeinde. Die größte bekannte Zahl jüdischer Einwohner ist mit 245 für 1871 überliefert, 1924 waren 80 verblieben, 21 1937, 1941 nur noch einer. Auch in Bernstadt brannte 1938 die Synagoge. Arnold Zweig war gut dreieinhalb Jahre jünger als Meidner und Wilhelm von Sternburg schreibt über die Schulzeit an der Kattowitzer Oberrealschule, die sich bei aller Kritikwürdigkeit sehr positiv abhob von der Volksschule in Glogau, die Zweig zuerst besuchen musste: „Erste Lebensfreundschaften werden in diesen Jahren geschlossen, mit dem späteren Maler Ludwig Meidner, dem kommenden Dichter Arnold Ulitz, dem Philologen Rudolf Clemens.“ Zweig ist Gründer der Zeitschrift „Die Gäste“, die auf eine Freundesgruppe zurückgeht mit dem ganz unbescheidenen Namen „Genie-Club“. Insgesamt erschienen sechs Hefte in hektographierter Form, vier 1909, zwei 1910, alle Beiträge anonym, ohne Honorar, zwei komplette Jahrgänge sind überliefert: in der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main, im Arnold-Zweig-Archiv Berlin.

Arnold Zweig schrieb rückblickend: „Wir waren eine ganze Gruppe junger Menschen voller Erwartungen, wir kritisierten einander, wir liebten, litten, arbeiteten.“ „... die Kerntruppe einer Zeitschrift, die wir, schon Studenten, alle zwei Monate in Kattowitz erscheinen ließen und um die sich mehrere junge Begabungen philosophischer und wissenschaftlicher Art verdient machten. Unser geistiges Rendezvous fand statt in der kleinen Buchhandlung unseres Freundes Georg Hirsch.“ In Zweigs „Notiz über die Malerin Beatrice Zweig“ lesen wir: „Der erste wirkliche Maler, der ihr Lehrer wurde, war Ludwig Meidner, damals noch ein ringender, wenig bekannter Stürmer und Dränger.“ In seiner „Bilanz der deutschen Judenheit“ erwähnt Zweig den Jugendfreund nur knapp und fast beiläufig. Sowohl Zweig als auch Meidner erregten noch vor dem Ersten Weltkrieg Aufmerksamkeit, errangen erste Erfolge. Meidner erlebte in seiner zweiten Berliner Zeit zunächst ausgesprochene Hungerjahre. In seiner ersten wohnte er in der Charlottenburger Schillerstraße 100, 1919 dann noch einmal in der Schillerstraße 2. Die Gegend ist mir seit Jahren mehr als vertraut, die Hausnummern (ohne Hinweis) nun aber nicht mehr so anonym wie bisher.

Am 7. Juli 1928 druckte das Berliner Tageblatt ein Feuilleton mit dem Titel „Malerbrief aus Badenweiler“ ab. Maler Ludwig Meidner beschreibt zunächst mit kräftiger Selbstironie, dass er lieber zu Hause in Berlin-Halensee geblieben wäre: „Kunstmaler gehören in ihre Werkstatt, und wie das Huhn immer wieder in seinen Stall zurück will, auch wenn es gern im Freien Körner pickt, so seufzt unsereiner beklommen nach dem Schatten der vier Ellen seiner Malstube.“ Er folge nur dem Nachahmungstrieb, verrät er, denn: „... sie haben keine Phantasie, die Leute, und müssen drum in die Ferne schweifen, während ich selber als Porträtist es gar nicht nötig hätte, in die freie Landschaft zu eilen – denn was soll ich dort?“ Immerhin: „In Badenweiler, gen Süden, hügelwärts, am blauen Hang, liegt die Künstlerkolonie, inmitten hübscher Gärten, drei kleine Häuser; das größte und schönste gehört dem René Schickele, und der hat auch den größten Garten und einen Stall, in dem noch voriges Jahr ein Esel und eine Milchkuh standen – wer da gemolken haben mag, das weiß der Himmel, aber nebenan wohnt Annette Kolb, die hat keine Kuh, weil sie keinen Stall hat, und das dritte, das kleinste Häuschen, gehört einem Malkünstler aus Berlin …“.

Der Maler, dessen Namen Ludwig Meidner hier verschwieg, hieß Emil Brischle, wie Meidner Jahrgang 1884, wie Meidner 1966 gestorben. Schickele und Kolb und Brischle hatten eine Genossenschaft gegründet, die auf billigem Baugrund der Stadt, in der 1904 Anton Tschechow starb, ihre Häuser errichtete. Brischle war für Meidner der, „der immer ganz fürchterlich sich ereifern tat, wenn ich anfing, von Religion, Mystik oder dergleichen zu reden, denn er hat eine bessere Geschichte, die er oft und umständlich zum Besten gibt: wie er einmal ein Ferkel sich gekauft hat, es mästete und am Ende verspeiste.“ Die Pointe dieser Erzählung versteht man, wenn man weiß, dass Meidner sich ab 1924 wieder jüdischer Praxis zuwandte, den Schulchan Aruch als Ritual- und Rechtskodex der jüdischen Orthodoxie sich zur Lebensgrundlage machte. Für Schweinefleisch ist da kein Platz, Geschichten davon haben ungewollt und noch stärker gewollt einen antijüdischen Affront. Der Esel, von dem Meidner schreibt, muss ein neuer gewesen sein, denn seinen ersten verkaufte Schickele mitten in der Inflationszeit am 26. Januar 1923 für 750.000 Mark. Allein 300.000 Mark hatten siebzig Zentner Heu gekostet am selben Tage.

Von Johannes R. Becher wissen wir, dass er 1919, nach deren zweiten Parteitag, die KPD wieder verließ, der er zunächst angehört hatte. In einer Phase der Neuorientierung, die auch mit der Abwendung vom Expressionismus verbunden war, wandte er sich der Religion zu. „Neue Freunde bestärkten ihn auf diesem Weg“, heißt es bei Alexander Behrens, „so der Schriftsteller Karl Theodor Bluth und, allen voran, der expressionistische Maler Ludwig Meidner, der vom Judentum zum Katholizismus konvertiert war. In einer Zeichnung hielt er das zerfließende, um Festigkeit Ringende in Bechers Gesicht fest.“ Aus kommunistischer Perspektive wirkten die neuen Freunde in die genau falsche Richtung: „Da er ausschließlich mit Menschen wie Bluth und Meidner verkehrte, für die jeder noch so kleine Zweifel an Gott der Häresie gleichkam, geriet Becher immer mehr in die Isolation.“ Der erneute Eintritt Bechers in die KPD im März 1923 beendete die Freundschaft: „Dadurch kam es, praktisch über Nacht, zum Bruch mit Meidner … Becher nannte ihn im Gegenzug einen verlogenen Hanswurst.“ Der Hanswurst war immerhin so wenig nachtragend, dass er seinem Jugendfreund, als dieser im Januar 1954 in Ost-Berlin Kulturminister wurde, Grüße und Glückwünsche sandte: „Nun ist eingetroffen, was Du Dir gewünscht hast.“ Das ist bitter.

Meidner heiratete 1927 die Malerin Else Meyer, die seine Schülerin war (1901 – 1987), eine andere Schülerin, Karola Piotrkowska, wurde später Ernst Blochs Ehefrau. Der 1929 geborene Sohn David hatte das Glück, mit einem der jüdischen Kindertransporte nach England zu gelangen, seine Eltern folgten 1939 und kehrten endgültig erst 1953 nach Deutschland zurück. Im Anhang der 2003 bei Schöffling & Co, Frankfurt am Main, erschienenen Feuilleton-Sammlung „Verteidigung des Rollmopses“, herausgegeben von Michael Assmann, findet sich die tieftraurige und tief komische Geschichte von der Ausstellung in Recklinghausen 1961, als Meidner unerkannt unter den Zuhörern eines Vortrages saß, in dem er erwähnt wurde: „Da erhob sich zögernd inmitten der Zuhörer ein kleiner, rundlicher Greis, hob den Finger, und man hörte, kaum vernehmbar: Hier bin ich – Meidner!“ Diese Geschichte erzählte der SPIEGEL seinen Lesern schon 1964. Man erfährt dort auch, wer sich im Berliner „Café des Westens“ einst nicht porträtieren lassen wollte: Else Lasker-Schüler und Gottfried Benn: „... der Benn war zu eingebildet, um sich porträtieren zu lassen.“ Am 14. Mai 1966 ist Ludwig Meidner in Darmstadt gestorben, dort findet sich auch seine Grabstätte.

Der großen Ludwig-Meidner-Ausstellung 1991 in Darmstadt widmete der SPIEGEL immerhin mehr als zwei komplette anzeigenfreie Seiten. Es ist heutigen Lesern des Magazins sicher kaum noch vorstellbar, dass sich dieser Beitrag in der Ausgabe 42/1991 dort auf den Seiten 284 und folgende fand. Die Ausgaben waren damals mehr als doppelt so dick wie heute und kosteten weniger als die Hälfte, eine stolze Entwicklung. 35 Druckzeilen mussten 2003 für die Feuilleton-Sammlung „Verteidigung des Rollmopses“ ausreichen, den Verlag wird es dennoch gefreut haben, denn 9999 von 10.000 Büchern schaffen es nie in das Hamburger Nachrichten-Magazin. Mein Exemplar hat unten den Stempel „Mängelexemplar“, die Kennzeichnung, mit der sich Verlage die Verramschung tadelloser Bücher genehmigen. Es ist ein Buch mit hohem Genusswert. Wer Sätze gegen modernen Kunstbetrieb sucht, wird fündig. Wer Sätze eines abtrünnigen Expressionisten sucht, wird fündig. Wer Selbstironie aus tiefer Bitternis mag, hier ist ein Fundus. „... wer kann noch ruhigen Gemütes über die letzten Dinge nachsinnen, wo ihm die vorletzten so sauer gemacht werden.“ Solcher Sätze wegen darf man Meidner mögen: am 50. Todestag sowieso.


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