Wolfgang Hildesheimer: Das Ende kommt nie

Wolfgang Hildesheimers allererstes Hörspiel, am 17. Juni 1952 vom Nordwestdeutschen Rundfunk uraufgeführt, Regie Gert Westphal, hinterlässt heute ein seltsames Empfinden. Es scheint zu zeigen, dass es wenige Jahre nach dem Krieg noch ein völlig anderes Baurecht gab als heute oder dass der Autor sich die Freiheit nahm, das geltende Recht und seine Umsetzungspraxis zielstrebig zu ignorieren. Wer mit kommunalen Abläufen vertraut ist, weiß zwar, dass Bürger immer noch von allem überrascht werden und sich gar nicht beschämt zeigen, wenn ihnen die Behörden den schlüssigen Beweis vorführen, dass sie gar nicht überrascht sein dürften, dennoch sollte es heute verbindlicher Konsens sein, dass ein „Räumungsbefehl“ ohne alle Vorinformation, nicht zu reden von einem ganzen Katalog von begleitenden Maßnahmen und Aktivitäten, undenkbar ist. So gnadenlos überholt also der Konflikt des Hörspiels scheint, zugleich bleibt ein gar nicht sehr vages Gefühl zurück, einem zeitlosen Ablauf gelauscht zu haben, gefolgt zu sein. Denn es geht natürlich nicht um Auslegungs- und Anhörungspflichten, um Einspruchs-und Klagemöglichkeiten, zumal ja offenbar die öffentliche Hand ein Projekt verfolgt, das mit Mieterinteressen kollidiert.

Worum aber geht es dann? Wolfgang Hildesheimer führt vier Parteien eines Hauses vor, die alle zeitgleich erfahren, dass sie möglichst bald ihre Wohnung räumen sollen. Der Behördentext, in dem das steht, ist ein ganz normaler Behördentext, wohl im üblichen Amtsdeutsch verfasst, aber kaum unverständlich. Dennoch gebärden sich wenigstens zwei Mieter, der Herr Martin Roehrich und die Frau Edna von Goliath so, als wäre ihnen noch nie ein derartiges Schreiben vor Augen gekommen. Das hilft ihnen vielleicht, das eigene Überraschtsein zu distanzieren, praktisch aber ist es wenig hilfreich, sich auf diese Weise dumm zu stellen. Immerhin spielt Frau von Goliath, die Hildesheimer mit einem überreichen Fundus an Klischee-Charakteristika umgeben hat, mit dem Gedanken, einen Minister anzurufen, von dem sie sich Hilfe erhofft, weil sie offenbar irgendwann in einem im Hörspiel nicht eingehender vorgestellten Verhältnis zu ihm stand. Sie verschiebt ihren Anruf immerhin erst einmal auf den kommenden Morgen und rechtfertigt das vor sich selbst mit der Fülle an Aufgaben, die des Ministers Zeit knapp machen. Der Leser/Hörer aber weiß: so eng kann das Verhältnis zum Minister aktuell nicht sein, sonst hätte sie sofort zum Telefonhörer gegriffen.

Es fallen Sätze im Dialog, die Kämpferherzen höher schlagen lassen könnten, die aktivistisch klingen und am Ende doch noch nicht einmal das bekannte Pfeifen im dunklen Keller sind. Man beruhigt sich rasch an sich und mit sich selbst. Man beschränkt sich auf unverbindliche Miniatur-Empörung, die wir nun freilich reichlich sechzig Jahre später noch immer sehr gut kennen. Mit unbelehrbarer Regelmäßigkeit reihern die üblichen Verdächtigen vor Kamera und Mikrophon den Satzanfang daher „Es kann doch nicht sein, dass … „. Der Rest ist beliebig auffüllbar, der Witz immer gleich: Natürlich kann es nicht nur sein, es ist schon. Es ist Tatsache und Tatsachen haben bekanntlich die penetrante Eigenschaft, sich einfach nicht für ihr Dasein zu schämen. So steht es im Text: „Vielleicht sollte man sich doch nicht alles gefallen lassen?“ Oder: „Aber lieber Herr Roehrich, wohin geht es denn mit uns, wenn wir uns gegen solcherlei Angriffe auf unser Privatleben nicht wehren können?“ Oder: „Man muss zu kämpfen verstehen, sonst geht man unter.“ Mit solchen Sätzen schafft man es in deutschen Vereinszimmern, sofort in den Vorstand einer frischen Bürgerinitiative gewählt zu werden, sei es auch nur als Schriftführer oder zweiter Kassenwart.

Als Wolfgang Hildesheimer sich mit einer kleinen Rede für den Hörspielpreis der Kriegsblinden bedankte, er war nach Erwin Wickert, Günter Eich und Heinz Oskar Wuttig erst der vierte Träger des 1950 gestifteten Preises, sagte er unter anderem: „Denn eine ethische Forderung lässt sich sehr wohl an Figuren demonstrieren, deren eklatanter Mangel an Ethos diese Forderung erst deutlich macht. Das bedeutet aber nicht etwa, dass es dem Autor fehlt.“ Den Preis bekam er für „Prinzessin Turandot“, sein fünftes Hörspiel, Ursendung im Süddeutschen Rundfunk am 10. Oktober 1954, Regie Otto Kurth, seine Rede fußte demnach auf bereits mehrjähriger Erfahrung mit dem Medium. Deshalb scheute sich der Redner auch nicht, eine Maxime wie diese vorzutragen: „ Es ergibt sich also, dass ein Hörspiel von seinem Autor eiserne Überzeugung erfordert, eine Überzeugung, die sich in jedem Wort offenbaren, in jeder akustischen „Geste“ widerspiegeln muss.“ Es liegt zweifelsfrei auf der Hand, dass „Das Ende kommt nie“ solche demonstrierenden Mangel-Figuren sprechen lässt, denn keine von ihnen zeigt während des Spieles auch nur den geringsten Ansatz, der eigenen Rhetorik praktisches Handeln folgen zu lassen, alle warten und beugen vor.

Anlässlich einer „Nachlese“ von Wolfgang Hildesheimer hat Reinhard Baumgart 1987 gewarnt: „Wir sollten ja nicht zu schnell schlau werden aus ihm.“ Das ist ein sehr schöner Satz, wenn auch nicht so schön wie der ganz kurze, den Baumgart zuvor von Hildesheimer zitiert: „Ich niese ganz gern.“ Für ihn war das Niesen so etwas wie eine lokale Katharsis, ich läse solche Bekenntnisse deutlich lieber auf den bunten Seiten der Regionalpresse in den dortigen Randspalten als jene Banalitäten von Kaminer oder bisweilen Cornelia Funke, wenn es nur gilt, ein neues Buch zu promoten und jedes Mittel ist dafür recht. Also sollten wir auch mit „Das Ende kommt nie“ nicht zu schnell schlau sein, denn das Finale ist doch ziemlich vertrackt. Roehrich sagt zu Franziska, die aus dem Dienst von Frau von Goliath zu ihm unters kaputte Hausdach geflohen ist, dies: „Ich glaube, dass alles bleibt, wie es ist, nur wird es noch mehr so, verstehst du? Keine wirkliche Veränderung kommt plötzlich. Sie kommt allmählich. Wir merken es kaum. Und es scheint, als ob alles so bleibe, wie es ist.“ Dass mir bei solchen Sätzen unausweichlich Günter Kunert einfällt, mag mir verziehen sein. Sein Text trägt den kurzen Titel „Sintflut“, steht in „Der Mittelpunkt der Erde“.

„Die Bevölkerung, die sich bereits in die oberen Stockwerke der Häuser zurückgezogen hat, wird von Booten aus versorgt und gewöhnt sich langsam an den Zustand, denn es gehört zu den vornehmsten Aufgaben einer Bevölkerung, sich an Zustände zu gewöhnen.“ Kunert endet tröstlich: „Für eine weitere Sintflut würde man nun viel besser vorbereitet sein, wenn man nicht schon bei der ersten untergegangen wäre.“ Ich nehme mir die Freiheit zu behaupten, dass Wolfgang Hildesheimer gegen den ersten als potentiell finalen Untergang anschrieb. Was für eine Formulierung ist dann, ich wiederhole sie voller Absicht, diese: „Ich glaube, dass alles bleibt, wie es ist, nur wird es noch mehr so, verstehst du?“ Es wird mehr so, wie es ist. Mehr und mehr. Bis. Roehrich sagt auch: „Vielleicht kommt das Ende nie und man wartet vergeblich?“ Sollte nur das persönliche, sollte nur das Weltende gemeint sein, jenes, bei dem nach Jakob van Hoddis dem Bürger der Hut vom spitzen Kopf fliegt? Ins Haus der vier Mietparteien kommen übrigens zwischendurch Männer, die prüfen wollen, was vom Verbleibenden weiter verwendet werden kann. Die Prüfung beginnt auf dem Dach und die zu Prüfzwecken gelockerten Ziegel werden nicht wieder ordnungsgemäß befestigt.

Hildesheimer arbeitet auch mit bisweilen tückischem Doppelsinn. Jener Herr Vogler, der sich fürchterlich aufregen wollte und es dann nicht tut, steht nicht an, jene Franziska auf der Treppe anzubaggern, sie weist ihn zurück, er sagt: „Aber wissen Sie, ich sage mir, in Situationen wie dieser lernt man sich erst richtig kennen, was?“ Nun, man kennt Menschen, die vom Neid auf andere zerfressen werden und deshalb andere ständig des Neides bezichtigen, man kennt Ideendiebe, die andere des Abschreibens bezichtigen und immer merken sie nicht, dass sie sich selbst meinen. Herr Vogler ist es, den nicht einmal seine Frau wirklich ernst nimmt, der sich dem dubiosen Doktor Brun andient, der sich selbst meint, ohne es zu merken. Es ist ja nicht einmal Maulheldentum, dem der Hörspielautor zu Leibe rückt, das wäre platt. Es ist eine, es ist die Selbstverständlichkeit täglichen Verhaltens unter dem Vorbehalt, dass das Ende vielleicht nie kommt. Dagegen ließe sich eine Aussage von Hildesheimer setzen, die späteren Datums ist: „Nichts im Leben wäre schön und wichtig gewesen, nichts wesentlich, wenn es den Tod nicht gäbe. Erst wenn man ihn vor Augen hat, wird das Leben lebenswert.“ Wolfgang Hildesheimer starb am 21. August 1991 in Poschiavo.


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