Börne, begraben in Paris

Das ist tatsächlich schon wieder fast zehn Jahre her: Wir machten uns von unserem Hotel am Boulevard Brune auf den Weg zu Le Père Lachaise und unser Primärziel hieß, das soll nicht verschwiegen werden, nicht Ludwig Börne. Es ist noch schlimmer: Als wir vom Monument der Opfer von Ravensbrück zu Edith Piaf gelangten, bei Amedeo Modigliani stoppten, um uns schließlich Jim Morrison zu nähern, dessen Grab von einer farbigen Polizistin bewacht wurde, die offenbar die Zigarettenopfer-Rituale in Grenzen zu halten hatte, dachten wir nicht eine Sekunde an Börne. Obwohl Heinrich Heine am Montmartre sehr wohl noch in unseren Köpfen war, wir gar das komplette Programm des Rundgangs mit Führer ignoriert hatten, um bei Heine gestanden zu haben.

Erst jetzt, beim Blättern in Peter Stephans immer wieder lesenswertem, eben auch zum Nachschlagen hervorragend geeigneten „Des Lebens Dernier Cri. Ein Lauf- und Lesebuch über Pariser Friedhöfe“ (Reclam Leipzig) der Satz: „Ludwig Börne selbst ist, nur wenige Schritte entfernt, in der 19. Division begraben.“ Griff nach der Karte mit unseren Suchkreuzen, Blick auf die Legende: Wo ist die 19. Division? Die lange schmale Division, begrenzt von 18, 20, 26, 27, 29 und 30, der Logik muss man sich erst kreiselnd nähern, hätte damals an unserem Weg gelegen, Benjamin Constant liegt fast neben Börne, Constant freilich nur ein Name und ein bis heute ungelesenes schmales Büchlein, seinen Roman „Adolphe“ enthaltend. Dagegen Börne: Ganz fern, ganz verschüttet das Bild einer ernsten Bemühung, die in einen nicht gedruckten Artikel zu seinem 150. Todestag und in eine gedruckte Besprechung eines Sammelbandes mit seinen Schriften zur deutschen Literatur mündete. Also vergessen. Es helfen keine Erklärungen. Börne war vergessen 2002 und blieb vergessen bis 2006. Da aber sprang er wie das Teufelchen aus der Schachtel in mein Blickfeld, weil er und das ist nun wirklich sein Schicksal, fast nur noch in seinem Bezug auf den Mann fortlebt, den wir eben nicht vergaßen, auf Heinrich Heine.

Es hat einen tiefen symbolischen Sinn, dass die beiden größten deutschsprachigen Zeitkritiker jener Epoche auch in Paris, dem Ort ihres Exils und Todes, noch mit ihren Gräbern maximale Distanz voneinander halten. Es hat vielen Kommentatoren, vielen Freunden beider Autoren immer wieder große Mühe bereitet, die Neigung zu einem der beiden nicht mit einer Abneigung gegen den anderen auszutarieren. Heines brachiale Ungerechtigkeit gegen Börne machte selbst souveräne Kenner mädchenhaft verlegen, als wären Größe und Ungerechtigkeit unvereinbare Größen, als dürften, auch das sei nicht verschwiegen, zwei konvertierte deutsche Juden nicht mehr Kraft auf den Kampf gegeneinander verwendet haben als auf den Kampf gegen alle Antisemiten der Welt und ihrer Zeit. Sie durften. Nur Holzköpfe verschließen noch angesichts der wirklichsten Wirklichkeit sich den naheliegendsten Fragen aus Überzeugung.

Marcel Reich-Ranicki, den man nicht lieben muss, aber achten sollte, hat in seinen fünfbändigen Essay-Kanon der deutschen Literatur von Martin Luther (Jahrgang 1483) bis Durs Grünbein (Jahrgang 1962) Ludwig Börne mit drei Texten in den ersten Band aufgenommen: „Hamlet. Von Shakespeare“, „Der Jude Shylock im Kaufmann von Venedig“ und „Über den Charakter des Wilhelm Tell in Schillers Drama“. Reich-Ranicki hat keinen der „Briefe aus Paris“ aufgenommen, keinen Abschnitt aus „Menzel, der Franzosenfresser“, wohl hauptsächlich, weil es um abgeschlossene Texte ging, nicht um Auszüge, selbst wenn sie es eher verdient hätten. Dies ist das gute Recht eines jeglichen Herausgebers und es ist die billigste Kritik an Sammelbänden, ihnen vorzuwerfen, was sie nicht enthalten und was sie enthalten hätten, wenn sie stattdessen der wissende Kritiker zusammengestellt hätte. Hat er aber nicht.

Hans Magnus Enzensberger, der alt gewordene Lausbubengesichtsträger, hat für sein Großprojekt „Die andere Bibliothek“ 1986, als es den 200. Geburtstag Börnes zu begehen galt, ein mustergültiges Buch in die Welt gesetzt: „Ludwig Börne und Heinrich Heine, Ein deutsches Zerwürfnis“, das den mangels Staat aus einem DDR-Bürger in einen Bundesbürger verwandelten Ost-Leser anno 1991  erreichte und ihm zusätzlich die Lehre vermittelte, dass ein Buch, das zwei Jahre früher noch drei Ostmark gekostet hätte, jetzt 14 Westmark kostete. Dafür aber eben auch zu haben war und keine Ölsardinenlieferung an eine Buchhändlerin zur Voraussetzung hatte. Enzensberger, der heute allweil in dem SPIEGEL schreibt, den er fünfzig Jahre früher medienkritisch in den Boden gestampft hätte, wenn der Boden weich genug gewesen wäre, hat das Zerwürfnis wunderbar ausführlich dokumentiert, mit Materialien ergänzt und sich selbst jeglichen intellektuell priesterherrschaftlichen Draufblick verboten. Heines berühmt-berüchtigte „Denkschrift“ ist in Fettsatz gedruckt wie auch die Hauptschläge, die Börne gegen Heine führte. Man findet auch im Material Überraschungen.

So klingt Franz Mehring aus dem Jahr 1911 verdächtig aktuell: „Es gibt im öffentlichen Leben nicht leicht ärgere Jesuiten als die bornierten Radikalen, die, mit ihrer Tugendhaftigkeit protzend, vor den ärgsten Verleumdungen nicht zurückzuschrecken pflegen. Entschuldigt ist Börne dadurch, daß es ihm nicht gegeben war, Heine überhaupt zu verstehen.“ Diese Meinung muss man nicht teilen, freilich sollte man sie auch nicht beiseite wischen mit dem Hinweis, dass sie von Franz Mehring stammt. Ein anderer Autor aus längst vergangenen Zeiten, dessen Name, wenn überhaupt, dann nicht als der eines nennenswerten Vertreters der schreibenden Zunft, überliefert ist, Gustav Landauer, hat in dem Frankfurter Ghetto-Juden Börne, der als Juda Löw Baruch geboren wurde, einen frühen Vorläufer für den eigenen Anarchismus entdecken zu können geglaubt. Fast genüsslich zitierte der 1919 im Gefängnis als einer der Köpfe der Münchner Räterepublik (neben Kurst Eisner und Erich Mühsam) ermordete Landauer dies von Börne: „Nicht darauf kommt es an, daß die Macht in dieser oder jener Hand sich befinde: die Macht selbst muß vermindert werden, in welcher Hand sie sich auch befinde.“ Landauer zitierte allerdings auch von Börne: „... wir müssen immer der Möglichkeit eignen Irrens eingedenk bleiben und müssen uns die Empfänglichkeit für jede bessere Belehrung bewahren...“. Träger solcher Überzeugungen werden einfach zu gern ermordet.

Weil heute Ludwig Börnes 175. Todestag ist, verspreche ich mir, noch in diesem Jahr auf ihn zurückzukommen. Schon wegen Ludwig Marcuses angeblich bester Monographie, die ihm galt und, weil ich 25 Jahre zurückblicken möchte, in eigener Börne-Sache.


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