Der Büchner-Wein gärt noch im Fass

„Dieser Büchner war ein toller Hund. Nach kaum dreiundzwanzig oder vierundzwanzig Jahren verzichtete er auf weitere Existenz und starb. Es scheint, die Sache war ihm zu dumm. Das war damals eine Epoche finsterster und dumpfester Reaktion, in die er hineingeboren wurde.“ So schrieb, zwischen Weihnachten und Neujahr 1921, ein gewisser Alfred Döblin, der sich ein paar Honorare mit Theaterfeuilletons zu verdienen suchte, was für eine Weile ganz gut klappte. Georg Büchner, so darf dennoch vermutet werden, wäre nicht der dummen Sache wegen freiwillig aus dem Leben geschieden, wenn dieses ihm ein weiter gehendes Angebot unterbreitet hätte. So aber starb er und hinterließ ein derart schmales Werk, dass noch jeder des Lesens Kundige es in einer Woche bequem vollständig lesen kann.

Der Vorteil so schmaler Werke so jung gestorbener Autoren ist immens wie der Nachteil. Man kann hinter jedem zweiten Semikolon eine dräuende Idee vermuten, die leider nicht mehr durchbrechen konnte, aber, wenn sie durchgebrochen wäre, vollkommen revolutionäre oder ähnlich ultimative Konsequenzen nach sich gezogen hätte. Man kann von drei Werken abwechselnd je eines zur Ausnahme, die beiden anderen zur Regel erklären. Es bleibt eine immer noch extrem überschaubare Menge von Varianten. Am ehesten neigen die Tiefsinnbohrer der Literaturgeologie dazu, „Leonce und Lena“ mit dem schlecht klebenden Etikett zu versehen, was die praktischen Theatermacher aber keineswegs davon abhält, es wieder und wieder auf die Bühnen zu stellen. Der Zuschauer, dieses unfassbar seltsame Wesen, wird davon weniger verstört, als wenn wieder ein Regisseur den Wozzeck/Woyzeck zu Ende gedenkelt hat, mit Fragmentenkleber arbeitend und sieben Diskurse unterlaufend, bis es quietscht.

Es leben Menschen, die weckt man nachts um halb drei, indem man ihnen den Finger in die linke Nierengegend bohrt und flüstert: Büchner. Dann richten sich diese Menschen leuchtenden Auges auf und sagen: Den 20. Jänner ging Lenz durch Gebirg. Es gab einen Film, da erklomm zu diesem Satz einer einen Stahlbrückenbogen wegen der Symbolik vermutlich oder weil es einen Darsteller juckte, der schon immer einmal da hinauf klettern wollte, ohne ein Double in Anspruch zu nehmen,  oder es war ein Stuntman, der einfach nicht ewig nur vom Pferd fallen wollte oder durch eine Glasscheibe hüpfen. Georg Büchner lebte am Ende in der Schweiz, nachdem er vorher im Elsass eine Zeit verbracht hatte. Er befasste sich als Hesse mit den Nerven von Fischen und vielleicht wäre er sogar als der große Fisch-Büchner in die Weltgeschichte der Wissenschaft eingegangen und hätte das Schreiben an den Nagel gehängt, der für sehr vieles Schreiben ohnehin der beste Platz ist. Aber er starb einfach.

Im kommenden Jahr 2013 wird vermutlich eine wilde Geburtstags-Welle Büchner über uns alle rollen, weshalb der heutige 175. Todestag einfach zu früh kommt. Der neue Büchner-Wein gärt noch im Fass, die neuen Büchner-Biographien werden zur Frankfurter Buchmesse im Oktober vielleicht noch in Blindbänden im Regal stehen. Tucholsky, der vor dann 100 Jahren anderthalb Seiten füllte, weil Büchners 100. Geburtstag einige Gemüter bewegte, schrieb: „Hundert Jahre – man sollte meinen, er würde nun auf den Schulen gelesen. Als Klassiker.“ Und: „Hundert Jahre sind eine lange Zeit, und wenn einer so lange gewartet hat, dann will er sich im Grab auch einmal auf die andre Seite drehen.“ Gibt es einenen besseren Tag für eine so schöne alte Mahnung als diesen Todestag? „Die Rezeption Georg Büchners durch das deutsche Theater“ von Ingeborg Strudthoff können wir dann immer noch nachlesen. Hans Mayers Büchner-Buch sowieso. Und Jan-Christoph Hauschild, antiquarisch gut erhalten, bekommt ebenso seine dritte Chance.


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