Spott von Heine, Lob von Kafka

Was passiert, wenn man roten Trollinger und weißen Riesling kreuzt? Der Züchter August Herold hat es 1929 probiert und was heraus kam, nannte man zunächst weißen Herold. Später bekam die neue Rebsorte den Namen Kerner. Und seither ist dieser wohl die einzige weltweit, die ihre Bezeichnung nach einem Dichter erhielt. Nach Justinus Kerner, der die längste Zeit seines Lebens in Weinsberg verbracht hat, dort 1822 sein Haus erbaute, für rund vierzig Jahre eines der gastfreundlichsten Häuser der deutschen Literaturgeschichte, und dort heute vor genau 150 Jahren starb. Weinsberg ist Sitz einer Lehr-und Versuchsanstalt für Wein- und Obstbau. Und Kerner hat, wenigstens überlieferte es sein Sohn Theobald so, selbst täglich mindestens zweieinhalb Liter Wein getrunken, was sich im Laufe seines Lebens zu einer Gesamtmenge addierte, die Vater und Sohn in einer nächtlichen Rechenübung mit 21.000 Litern ermittelten.

Wer heute von Kerner spricht und schreibt, kommt fast umgehend zu zwei Hauptzeugen. Der eine ist Heinrich Heine, der Kerner und die schwäbische Dichterschule, der er zugerechnet wird, ohne dass diese Rechnung ohne Rest wirklich aufgeht, mehrfach mit Spott bedachte, vor allem im „Schwabenspiegel“ von 1838, aber auch im „Atta Troll“. Etwas freundlicher sind die Worte über Kerner in der „Romantischen Schule“. Wer nach dieser vernichtenden Großinstanz Heine sich seinen Kerner schön reden möchte, vor allem, wenn er ihn gar nicht näher kannte vorher, greift auf eine seltsame Überlieferung zurück, der zufolge ein Gedicht Kerners das Lieblingsgedicht Franz Kafkas gewesen sei. Es handelt sich um das auch vertonte Gedicht „Der Wanderer in der Sägmühle“. Das Problem dieser Überlieferung: sie lässt sich schwer verifizieren. Nur ein Brief an Milena vom September 1922 belegt bestenfalls indirekt die immer wieder weiter getragene Behauptung. Die außerdem vielleicht etwas über Kafka, keinesfalls viel über Justinus Kerner besagt.

Als der damals in Weimar ansässige Verlag Gustav Kiepenheuer 1913 Kerners „Reiseschatten“ wieder auflegte, ein Buch, das sicher auch zu den Anregern von Heines „Reisebildern“, insbesondere der „Harzreise“ zu zählen wäre, schrieb einer das Vorwort, der zu einem nicht nur klaren und prägnanten, sondern wohl auch unübertroffenen Urteil kam, Hermann Hesse. „Es ist damals in Schwaben unsäglich viel gedichtet worden, fast noch mehr als heute“, schrieb Hesse, „und wie jene vielen Dichter alle miteinander befreundet waren und sich gegenseitig angebiedert haben, das können wir in Heinrich Heines boshafter Schilderung nachlesen.“ Was so gesagt nicht einmal stimmt, denn Heine hat keinerlei Einzelheiten geschildert. Ein Blick in diverse Briefwechsel aber, beispielsweise von Eduard Mörike, macht vorstellbar, was Hesse meinte, auch wenn der Dichter Mörike 18 Jahre jünger war als Kerner und purer Respekt nicht ausgeklammert werden darf bei der Bewertung. Auch Nikolaus Lenau war 15 Jahre jünger als Kerner und Ludwig Uhland immer noch zwei. Uhland blieb bis zum Schluss Kerners Freund aus Studienzeiten.

Doch noch einmal die Stimme Hermann Hesses: „... gerade Kerner gehört nicht zu den Dichtern, denen man mit Gesamtausgaben einen Dienst erweist. Es gibt nichts Wunderbareres als die zwei Dutzend ganz schöner Gedichte von ihm, aber es gibt auch nichts Dilettantischeres und Mühsameres zu lesen als eine Gesamtausgabe dieser Gedichte.“ Robert Schumann beeindruckten Kerner-Gedichte so, dass er ihnen früheste Vertonungen widmete, mit denen er sich bei Kapellmeister Gottlob Wiedebein in Braunschweig empfahl. Schumanns Opus 35 umfasst zwölf Kerner-Vertonungen, auch andere Komponisten griffen durchaus angetan zu Vorlagen des Schwaben, der in der alten Residenz Ludwigsburg geboren wurde am 18. September 1786. Kerner hat sehr viel geschrieben, was ihm ebenso negativ angerechnet wird wie bisweilen seine politische Enthaltsamkeit. Kerner sei ein Philister gewesen, wird behauptet und gar seine lange Ehe mit Friederike dafür als Beleg herangezogen. Dabei liefert sie wohl eher Grund, Justinus Kerner zu bewundern, weil er auf dem Grabstein stehen haben wollte: „Friederike Kerner und ihr Justinus“. Goethes Sohn August hat in Rom nahe der Cestius-Pyramide nicht einmal den eigenen Namen auf dem Stein. Friederike aber überzeugte ihren dicken Justinus von sich, indem sie einen von ihm begonnenen Goethevers anstandslos zu Ende zitieren konnte. Es gibt bis heute deutlich dümmere Arten der Eheanbahnung.

Justinus Kerner war, was Dichtern selten schlecht bekommen ist, im Hauptberuf ein Arzt. Er half bisweilen so uneigennützig wie er auch sein gastfreies Haus betrieb, in dem die untere Etage phasenweise der stationären Krankenaufnahme diente. Er hatte fast den Ruf eines Wunder-Heilers, den man heute wohl eher als unkonventionellen Mediziner sehen würde, der andere Mittel erprobte, wenn die Schulmedizin nicht anschlagen wollte. Er nutzte den in der romantischen Naturkunde hochangesehenen Magnetismus, erprobte aber ebenso etwas wie Musiktherapie. Besessenheit faszinierte ihn als Krankheitsbild, ein aus diesem Hang erwachsenes Buch „Die Seherin von Prevorst“ war auch unter Dichtern ein Tipp. Dass dieses Buch um 1830 von den revolutionären Aufgaben der Kunst und der Gesellschaft ablenkte, gehört zu den vielen Kuriosa realsozialistischer Literaturgeschichtsbehauptungen aus DDR-Zeiten. Man nahm Kerner unter anderem übel, dass er sich über den Revolutionär Georg Herwegh lustig machte und auch nicht alles, was man im 19. Jahrhundert „Fortschritt“ nannte, begeistert begrüßte.

Für Joseph von Eichendorff war Kerner „der Ahnherr des späteren Weltschmerzes und jener Zerrissenheit ..., die zuletzt die Romantik selbst zerrissen hat.“ Doch schon Eichendorff machte nachdrücklich auf den Humor bei Kerner aufmerksam, den Kerners Freunde aus der Studienzeit freilich längst sehr genau kannten: „Und in ein solches herzliches Lachen bricht denn auch Kerner in seinen „Reiseschatten“ aus, wo die Wichtigtuerei des kleinen Menschentreibens an dem Ernst der Natur und einer höheren Weltanschauung sich ergötzlich abarbeitet. Eben dieses religiöse Gefühl des Kontrastes aber zwischen dem Diesseits und Jenseits ist die Wurzel alles gesunden Humors und der Kluft, die Kerner von den Zerrissenen scheidet“. Ricarda Huch hat in ihrer wunderbaren Darstellung „Die Romantik“ Kerner liebevolle Zeilen gewidmet, um eine weitere Stimme wenigstens zu erwähnen. Seit dem 200. Geburtstag Kerners 1986 gibt es inzwischen einen Justinus-Kerner-Preis, der aller drei Jahre verliehen wird. 2011 erhielt ihn der Israeli Elazar Benyoëtz, der als  Paul Koppel in Wien geboren wurde und am 24. März seinen 75. Geburtstag feiern wird.


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