Herman Melville: Der Geiger

Natürlich steht der Name Herman Melville für „Moby Dick“. Er steht auch für „Taipi“, für „Omu“, für „Redburn“, „Weißjacke“, „Billy Budd“, mit gutem Willen noch für „Israel Potter“ und, da wird es schon enger, für „Bartleby“, für „Benito Cereno“ und, tatsächlich, sogar für „Pierre“. Alles Romane oder so lange Erzählungen, dass auch der pingeligste Verleger heute keine Nanosekunde zögern würde, sie allein schon wegen der Verkaufsaussichten Roman zu nennen. Heute heißt alles Roman, was nicht bei Drei auf den Bäumen sitzt, schon wegen der Theaterleute, die das Ansinnen, doch einmal eine Short Story auf die Bühne zu bringen, wenn es schon keine Dramen sein dürfen, voller Entrüstung von sich weisen würden. Dann noch lieber die „Apotheken Umschau“, die sich mehr als neun Millionen mal verkauft, was auch Romane nur sehr selten schaffen. Bei den Romanen Melvilles ist viel Meer dabei, viel Schiff, auf den Schiffen wenig Frauen, dafür aber in „Moby Dick“ eben Moby Dick, der zu allem auch noch weiße Wal. Man müsste ihn auf der Bühne auf alle Fälle von einem schwarzen Wal spielen lassen, Blauwale sind einfach zu lang und zu selten. Hier aber, am Vorabend von Hermann Melvilles 200. Geburtstag, soll es um „Der Geiger“ gehen.

„Der Geiger“ ist eine geradezu unverschämt kurze Kurzgeschichte, keine acht Druckseiten lang in meiner Ausgabe und aus ihr trieft so viel Selbstironie, dass man sich verwundert die Augen reibt. Dieser Melville, der seitenlange schwer verdauliche Exkurse ins Philosophische in seinen Haupt- und Staatsroman einbaute, an denen auch gutwillige Leser heftig knabbern, falls sie die vollständige Ausgabe zu Hand nahmen, was ihnen zu raten ist, denn alles andere ist Fälschung, soll fähig gewesen sein, sich selbst gnadenlos auf die Schippe zu nehmen? Gemach, selbst wenn wir davon ausgehen, dass der erfolglose Dichter Helmstone, der in „Der Geiger“ als Ich-Erzähler auftritt, etwas mit dem, nun ja, lange sehr erfolglosen Dichter Melville zu tun haben könnte, bedeutet das eine nicht sofort auch das andere. Vom Geschöpf auf den Schöpfer schließen, das schrieb ich doch eben erst, war der Vorwurf des Schwiegersohnes von Hugo von Hofmannsthal an Max Kommerell und dessen Auslegung von „Der Tor und der Tod“: geistiger Rückfall. Eine Nummer kleiner: man tritt Hermann Melville, der in seiner Heimat USA längst als Klassiker aller Klassiker fungiert, nicht zu nahe, wenn man in seiner kleinen Figur Helmstone ein wenig, ein klein wenig, Melville erkennt.

Worum geht es? Genannter Helmstone hat eben eine Kritik gelesen, eine vernichtenden Kritik eines seiner Werke, von dem man zunächst nicht viel erfährt, dann aber um so mehr, was eher für als gegen die Kritik spricht. Originalton Helmstone als Erzähler: „So ist mein Werk abgelehnt und verrissen, und kein unsterblicher Dichterruhm wird mir zuteil! Für alle Zeit muss ich ein Namenloser bleiben. Welch unerträgliches Geschick!“ Nun, es ist das Geschick von 99,99 Periode Prozent aller Menschen auf Gottes Erde. Sehr unerträglich kann es nicht sein, sonst brächen die Äste von allen Bäumen, so viele namenlose Selbstmörder hingen an ihnen. Zum Glück begegnet Helmstone, den ich nach diesem seinen Satz mir sofort wie Don Schnulze aus der Sesamstraße vorstellte, die Stirn auf die Klaviertasten dreschend, weil ihm wieder kein passender Vers einfiel, seinem Freund Standard. Komischer Name, das nebenbei. Standard stellt Helmstone den Mann vor, den er Hautboy nennt. Wieder komischer Name, sehr komischer. Denn Hautboy wird bald so charakterisiert; Originalton des Erzählers, fasziniert: „Ich sah einen zwölfjährigen Jungen in einem Mann von vierzig Jahren, und doch vermochte das meine Achtung nicht im geringsten zu mindern.“

Diese Faszination will er aber weder sich noch dem Freund eingestehen, deshalb redet er vor allem sich selbst die neue Bekanntschaft schlecht. Für Psychologen ein Studienobjekt wie aus dem Lehrbuch für Anfänger. Alle drei besuchen gemeinsam einen Zirkus, in dem ein Clown auftritt, dem gerade ganz New York zujubelt. Was bekanntlich bedeutet, alle, die es sich leisten können. Noch heute heißt, wenn von ganz New York die Rede ist oder ganz Berlin aus dem Munde eines Intellektuellen, das nur: alle Freunde und Bekannten dessen, der es behauptet. Anschließend geht man gemeinsam essen, man trinkt Punsch dazu. Eine Mode, die gänzlich aus der Mode gekommen ist seither, man muss alte angloamerikanische Literatur lesen, um auf Punsch zu stoßen, bisweilen gleich mit Rezeptur. Hautboy verschwindet zu einer Verabredung, kommt dann wieder, weil er sich dort verspätete. Sie gehen gemeinsam in seine Wohnung im fünften Stock eines Hauses, das eher als Speicher zu bezeichnen ist. Erklärt Helmstone. Dort spielt Hautboy auf der Geige und fasziniert den Erzähler erneut, jetzt endgültig und in einer Stärke, die kaum vorstellbar bleibt. Die sehr kurze Geschichte mündet in einen Entschluss, den ich wegen der Spannung verschweigen müsste.

Wir sind hier allerdings nicht in der Kopplungsgeschäft-Kritik: Anzeige gegen Verriss oder Lob. Die sehr kurze Geschichte mündet in dieses Finale, Originalton Helmstone als Erzähler: „Am nächsten Tag zerriss ich alle meine Manuskripte. Kaufte mir eine Geige und nahm Unterricht bei Hautboy.“ Hautboy hat natürlich auch einen richtigen Namen, den Erzähler und Schöpfer des Erzählers nicht verraten. „Mit Ruhm einst überreich beladen, ist er jetzt heiteren Sinnes ohne ihn. Mit Genie und ohne Ruhm ist er glücklicher als ein König.“ Denn das Genie hat, in dieser sehr kurzen Erzählung, eine wirklich praktische Eigenschaft: „Sein Genie loszuwerden ist für ein Genie ebenso unmöglich, wie es für einen Kranken mit galoppierender Schwindsucht, unmöglich ist, diese loszuwerden.“ Was für ein närrische Gedanke, sein Genie loswerden zu wollen! Das erzählende Anti-Genie Helmstone vergleicht Genie mit Cassius, Genie müsse lang und hager sein, nicht klein und dicklich wie dieser Geiger. Das verrissene Werk galt einem frei erfunden alten Griechen: „Dann wiederholte ich mir im Geiste die herrlichen Verse meines Gedichts, in denen Kleothemes, der Argiver, die Gerechtigkeit des Krieges verteidigt.“ Wer aber nennt denn eigene Verse herrlich?

Wer freut sich eines Gedichtes, in dem einer die Gerechtigkeit des Krieges, nicht etwa eines Krieges, verteidigt? Wir wissen von Melville, dass er mit einem Buch gar mit daran wirkte, dass in den USA die Prügelstrafe in der Marine abgeschafft wurde, was da also mit Kriegen. Wir wissen auch, dass er sich auf seiner vierten großen Reise mit einem Kritiker aussöhnte, der ihm übel mitgespielt hatte. Melville schrieb nie im Leben einen Roman wie Martin Walser, in dem ein Kritiker wie Reich-Ranicki ermordet wird, er schrieb von der wundersamen Wirkung eines genialen Geigers auf einen nicht ganz so genialen Dichter. „Ich musste einen solchen Mann leibhaftig vor mir sehen, um ihn für möglich zu halten.“ Und: „Meine ganze grämliche Seele kapitulierte vor der magischen Geige.“ Es gibt, lautet meine Folgerung, zu wenig geniale Geiger in der Welt, die weniger genialen Dichtern nicht nur zufällig begegnen, sondern ihnen auch bedeuten: wirf deine Manuskripte in den Kamin, wenn du einen hast, lausche meinem Spiel, frag mich, ob ich dich unterrichte, auch wenn ich sicher bin, dass dein Geigenspiel nicht besser sein wird als dein Dichten. Ich gestehe, dass mir die Einordnung von „Der Geiger“ ins Ganze der Weltliteratur schnuppe ist.

DDR-Professor Karl-Heinz Schönfelder (26. April 1923 – 29. Dezember 2018), ein beinahe unsterblicher Vor- und Nachwortschreiber, meinte, als seine Welt noch in Ordnung war: „Melvilles Erzählungen müssen eher Skizzen denn Kurzgeschichten genannt werden.“ Weiterhin meinte er: „Die Menschen in Melvilles kurzen Erzählungen sind einsame und verlorene Stiefkinder des Glücks.“ Und schließlich: „Materieller Bankrott, künstlerischer Misserfolg, im Keime erstickte Hoffnungen, verlorene Illusionen, zerstörter Glauben und Flucht aus der Welt sind immer wiederkehrende Motive. Einige von Melvilles Erzählungen sind bestenfalls zweitrangige Anekdoten, die keinerlei Beachtung verdienen. Andere hingegen sollten der Vergessenheit entrissen werden, weil sich in ihnen sein Mitgefühl für die Entrechteten, Ausgebeuteten und Verstoßenen am klarsten zeigt.“ Auch im Abstand der Jahre ist es schön zu wissen, dass es Menschen gab, die darüber wachten, was wir zu unserem Nutzen lesen, was wir zu unserem Zweit-Nutzen nicht lesen und was wir zu unserem Schaden auf keinen Fall lesen dürfen. Den Begriff der zweitrangigen Anekdote hat die DDR-Amerikanistik nie final definiert. Skizzen dagegen, sie müssen nur von der richtigen Hand stammen, bringen in ersten Auktionshäusern der Welt satte, vielstellige Summen.


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