Ernst Weiß: Franta Zlin

Ein sehr berühmtes Gedicht von Goethe trägt den Titel „Alles geben die Götter“ und es sind nur vier Zeilen, die es umfasst: „Alles geben die Götter, die unendlichen, / Ihren Lieblingen ganz, / Alle Freuden, die unendlichen, / Alle Schmerzen, die unendlichen, ganz.“ Marcel-Reich-Ranicki, dessen 100. Geburtstag wir eben erst begangen haben, schrieb dazu für die von ihm angeregte und bis zu seinem Tod beförderte „Frankfurter Anthologie“. Doch weder um ihn noch um das Gedicht von Goethe soll es weiterhin gehen, sondern um den Mann, dessen Name den Titel dieser Erzählung von Ernst Weiß bildet. Denn Franta Zlin, nach zwanzig Druckseiten weiß man es bis zur tiefsten Erschütterung en gros und en detail, gehörte nicht zu den Lieblingen der Götter. Denn ihm gaben sie zwischen 1914 und 1916, der Zeit seines Lebens, von der erzählt wird, allein alle Schmerzen, nichts als alle denkbaren und gleich auch noch alle undenkbaren Schmerzen als Zugabe, ganz. Am Ende ist er tot, sehr lakonisch der Schluss der Erzählung: „Der Russe floh nach dem Morde über die Schweizer Grenze. Franta Zlin wurde am 30. Juli 1916, zwei Jahre nach Beginn des Weltkrieges, in Sankt Anton im Vorarlberg als Unbekannter, von Unbekannten ermordet, begraben.“ Einfach tot.

Für Joseph Roth, man darf sich leise gemischten Gefühls auf ihn berufen, war „Franta Zlin“ etwas Besonderes. Roth schrieb am 7. März 1929 an Pierre Bertaux: „Ernst Weiß, von dem Sie schreiben, ist eher eine Erscheinung typique, wenn Sie Prag und die Juden aus dem alten Österreich besser kennen würden. Er ist ein Mensch aus dem Ghetto. Ein Mann, der als Marinearzt die Küsten fremder Länder berührt hat, ohne seinen Fuß an Land zu setzen und in seiner Kabine geblieben ist, um zu schreiben. Ein Verstand, der sich schämt, Verstand zu sein, ohne es zu wissen, eine „folie“ spielt. Es scheint mir, dass dieser Mensch unfähig ist, gelähmt und kindisch, aus der Pubertät nicht heraus und mit Wonne darin verharrend. Lesen Sie sein Buch „Nahar“ und „Tiere in Ketten“. Sie werden sehen, dass dieser hochbegabte Schriftsteller die expressionistische Mode ohne Not mitgemacht hat und nur aus Scham vor der „Normalität“. Er hat nie „courage“ gehabt. Courage ist ein Bruder der Vernunft und Ernst Weiß hielt sich an die „Folie“. Er war ein deutscher Dichter. Sein bestes ist die Novelle „Franta Zlin“. Das gemischte Gefühl hier kommt nur daher, dass Roth nicht erkennen lässt, was er außer den beiden genannten frühen Büchern noch von Weiß kennt.

Dass Roth dennoch ganz sicher keinen billigen Superlativ hinschreiben wollte, erhellt aus einer weiteren Aussage, die der verdienstvolle Weiß-Herausgeber Peter Engel zitiert, der in diesem Jahr seinen 80. Geburtstag feiern kann, leider ohne eine Quelle anzugeben: „Vielleicht ist trotz Barbusse und Frank in keiner der vielen Antikriegsgeschichten die Bestialität der vaterländischen Mörderei eindringlicher in menschliches Bewusstsein gehämmert worden als in „Franta Zlin“.“ Auch von Ludwig Winder zitiert Engel ohne Quellenangabe, „Franta Zlin“ sei die „erschütterndste Anklage, die nach Kriege erhoben wurde“. Und so bleibt offen, ob hier ein Druckfehler vorliegt oder tatsächlich so geschrieben wurde. Wie auch immer, innerhalb des vergleichsweise schmalen Bestandes an Erzählungen im Werk von Ernst Weiß, gemessen an den Romanen, darf dieser einen zweifelsfrei besonderes Gewicht beigemessen werden. Nicht umsonst haben die Herausgeber der Stuttgarter Reclam-Anthologie „Prager deutsche Erzählungen“ (UB 8771), Dieter Sudhoff und Michael M. Schardt, genau diese ausgewählt. Sie stand 1919 zuerst in „Genius. Zeitschrift für werdende und alte Kunst“, München, 1928 dann in der Erzählungssammlung „Dämonenzug“.

Es beginnt alles damit, dass Franta Zlin, der ein Offiziersbursche in der österreichischen Armee ist, bei Rawaruska, so schreibt es Weiß, in der Kriegsgeschichte Rawa Ruska in getrennter Schreibung, Zeuge wird, wie sich sein General in den Kopf schießt, unmittelbar danach auch noch der Adjutant des Generals. Die Schlacht gegen die zaristische russische Armee, die mit diesem Namen negativ verbunden ist, ging für die Österreicher nicht einfach nur verloren, sie verloren damit auch ganz Galizien und Lemberg. Was Ernst Weiß nicht erzählt, nicht einmal gesondert erwähnt. Es gibt seiner Geschichte nur eben einen realhistorischen Hintergrund, den es nicht unbedingt gebraucht hätte, der aber auch keinesfalls schadet. Franta Zlin flieht panisch vom Ort des Geschehens, bespritzt mit Blut und Hirn. Für dergleichen Details, es kann hier nicht näher erläutert werden, ist der promovierte Mediziner mit chirurgischer Ausbildung berühmt wie auch ein wenig berüchtigt, vor allem sein Roman „Mensch gegen Mensch“ wird hier regelmäßig genannt, im Rahmen der 16-bändigen Ausgabe „Gesammelte Werke“ des Suhrkamp-Verlags von 1982 als Band 3 problemlos antiquarisch erhältlich, die vermeintliche Weiß-Renaissance zum 100. Geburtstag ist lange vorbei.

Franta Zlin flieht, landet zunächst in Krakau, hungert, gräbt mit einem Korporal Kartoffeln aus. Sie töten eine frei laufende Kuh, die aber keineswegs herrenlos ist. Weiß betont mehrfach die Sanftheit seines Helden und lässt ihn dennoch erst die junge dicke Jüdin vergewaltigen, die er weinend neben dem Kadaver der Kuh findet, später schlägt er in einem wilden Gewaltausbruch eine Prostituierte mit dem Kopf mehrfach gegen die Wand, bis sie sich nicht mehr rührt. Zwischendurch geschieht, was alles bis zum Ende erklärt: bei einer Schleichpatrouille wird er verwundet: „Sein Geschlecht war durch einen Schrapnellzünder ganz zerfetzt und der linke Knochen des Beckens zersplittert.“ Der Erzähler: „Die Ärzte waren gut, sie wiesen stets beim Verbinden die Rote-Kreuz-Schwester hinaus, die sich neugierig vorgedrängt hatte.“ Und Franta: „Er schämte sich, nun infolge der Verwundung seine Notdurft wie ein Weib verrichten zu müssen“. Die Verletzung, die hier ein Leben aus der Bahn wirft, werden manche Leser oder Theaterbesucher von Ernst Toller her kennen: Sein Stück „Hinkemann“ bringt auf die Bühne, was Weiß in einer Erzählung belässt. Dazu von mir: http://www.eckhard-ullrich.de/theatergaenge/3778-ernst-toller-hinkemann-meininger-staatstheater.

Jene Details, die scheinbar überraschend, spekulativ im Text erscheinen, vor der Vergewaltigung erlebt Franta eine Erschöpfung, als hätte er sechsmal hintereinander seine Mascha geliebt, gewinnen von hinten her gesehen vor allem dramaturgische Funktion: sie müssen beweisen, warum ihn seine Verwundung derart trifft. Denn später, als er nach seiner Entlassung aus der Armee nach Hause kommt, seine Frau holt ihn ab, verheimlicht er vor ihr die Art seiner Verwundung. Wie ihm das gelingt, ist heute nur schwer vorstellbar. Denn Mascha nähert sich ihm offenbar durchaus liebevoll: „Sie kam auf ihren Mann zu, streichelte ihn lange, rief ihn süß an, gab ihm die Hand unter das Kreuz, damit er weicher liege und dachte so tief an ihn, dass ein Toter hätte erwachen müssen in seiner ersten toten Nacht“. Das ist, nebenbei bemerkt, eine jener Stellen, an denen man zwanglos zeigen kann, was große Literatur von kleiner unterscheidet: in kleiner begänne genau hier der Kitsch zu triefen. Ich nenne, wenn ich einmal dabei bin, eine Stelle aus einer anderen Erzählung, die mit „Fragment der Kindheit“ überschrieben ist. „…der Großvater erhielt zum Abschied ein neues Opernglas, da er sich alles zum Lebensgebrauch Notwendige als Geschenk verbeten hatte. Übrigens war er nie im Theater gewesen“. Kleine Literatur erfindet das nicht, es bleibt größerer vorbehalten.

Zweimal signalisiert Franta seiner Mascha, sie möge sich umbringen, sie jedenfalls deutet es so und tut es schließlich auch. Sie schießt auf sich mit einem Revolver, den er eigens dazu besorgt hat mit dem Geld, das ihre Mutter ihr gab, die selbst wenig hatte. Mascha hatte zuvor bei einer Herrschaft, für die sie arbeitete, Bettwäsche gestohlen und sie anschließend bei einem Pfandleiher versetzt. Hier wäre auf die Rolle des Jüdischen in dieser Geschichte zu deuten: Franta vergewaltigt eine junge dicke Jüdin. Ihm kommen auf einem Wagen vor den Kriegswirren fliehende Juden entgegen, die Frau auf dem Wagen ist es vermutlich, die Goldstücke und Perlen verliert, die Franta zufällig findet und sogar zurückgegeben hätte, wenn der Wagen nicht schon zu weit weg gewesen wäre. Später trifft er gerade auf diese Juden mit dem Wagen und den dürren Pferden erneut. Den heimlichen Reichtum verbirgt Fanta vor Mascha, nicht verbergen kann er ihn aber vor seinem schließlichen Mörder, dem russischen Kriegsgefangenen. Und Mascha arbeitete zuverlässig für ihre Herrschaft, sie sagte, „sie hätte drei Monate Dienst bei der Herrschaft gemacht und ihr treu gedient, obwohl es Juden waren, aber im ganzen nicht mehr als siebzehn Kronen Lohn bekommen.“ Viel zu wenig.

Die Mehrzahl der kurzen Erzähltexte hat Ernst Weiß in jüngeren Jahren geschrieben, in späteren Jahren lag der Schwerpunkt zweifellos bei den Romanen. In seiner Exilzeit lebte er bis zum Tod seiner Mutter am 15. Januar 1934 in Prag. Er pflegte sie dort nach seiner Flucht aus Deutschland, ging dann nach Paris. Ohne finanzielle Unterstützung hätte er ein Leben auch notdürftig kaum führen können, Geldgeber waren vor allem Thomas Mann und Stefan Zweig. In Paris traf er auch Anna Seghers, die sich an ihn später nicht nur erinnerte, sondern einem Studenten, der zu Weiß arbeitete, auch Details mitteilte. Was ihr entfallen war, was sie vielleicht aber auch für zu privat hielt, hat Géza von Cziffra in einem Originalbeitrag für den Sammelband „Ernst Weiß“ zu Papier gebracht, den er in erweiterten Fassung später in sein Buch „Im Wartesaal des Ruhms“ einfügte. Demnach waren er selbst und Ernst Weiß in die bildschöne Netty Radványi verliebt, Gattin des Leiters der Marxistischen Abendschule MASCH, der sich Johann Schmidt nannte, aber tatsächlich László Radványi hieß. Anna Seghers soll von diesen Verliebtheiten nichts mitbekommen haben. In ihrem Roman „Transit“ gilt der Schriftsteller Weidel als ein literarisches Bild von Ernst Weiß.

Hermann Kesten zitierte in seinem Weiß-Porträt für sein Buch „Meine Freunde die Poeten“ aus jenen berühmten Tagebüchern, die Weiß selbst als sein Hauptwerk sah, die aber verschollen sind: „Die Aufgabe des Romans: Unvergessliche Menschen zu schaffen.“ Ohne Einschränkung darf man das auch auf eine Erzählung wie „Franta Zlin“ übertragen. Kesten hat sich das Vergnügen gemacht, Roman-Anfänge von Weiß zu zitieren, um seine These zu stützen, die da lautet: „Es ist wahr; man erkennt die guten Prosaisten schon auf der erste Seite – auch die schlechten!“ Kesten ist auch unter denen, die zur Legendenbildung um das tragische Ende des Dichters in Paris beitrugen: „Am selben Tag im Juni 1940, da Hitlers Armee in Paris einmarschierte, ertränkte sich Ernst Weiß in der Badewanne seines düstern Zimmers im Hotel Trianon Palace im lateinische Viertel von Paris.“ Tatsache ist, dass er noch lebend gefunden wurde und erst im Hospital starb, was freilich nicht mehr erheblich ist angesichts der unheilbaren Hoffnungslosigkeit, die keinen anderen Ausweg wusste. „Er starb mit keinem anderen Besitz in der Welt als seinem Ruhm unter den zweihundert besten deutschen Lesern.“ So Kesten. Der Gedanke, sich diesen Lesern an die Seite zu stellen, verlockt.


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