Géza von Cziffra: Der Kuhäugige (Ödön von Horvath)

Müsste ich mir, außerhalb jedes Protokolls und unter Ausschluss von Haftung im Missbrauchsfalle, in einem einzigen Wort den Mann Géza von Cziffra charakterisieren, dann wäre dieses Wort rasch bei der Hand: Schmonzetten-Regisseur. Sieht man sich die Filmographie dieses am 19 Dezember 1900 in Arad, damals Ungarn, später Rumänien, geborenen Regisseurs und Drehbuchautors an, er starb am 28. April 1989, hat man den unabweislichen Eindruck eines ratternden Filmfließbandes. Produktivität, das sei hier ausdrücklich sofort vermerkt, ist keineswegs automatisch Hinweis auf mangelnde Qualität, zumal von Cziffra nie einen Hehl daraus gemacht hat, vor allem unterhalten zu wollen. Unterhaltung, man wiederholt sich, wenn man es in Erinnerung ruft, wird zwar auch in Deutschland sehr gern genommen, aber zu Sekt mit Schnittchen leugnet man gern jeden Kontakt mit diesen Niederungen des Eben-noch-Kulturbetriebs. Gern gebe ich zu, dass ich von den 138 Filmen (oder waren es 138 Drehbücher) weniger als zwei wahrgenommen habe und nie im Leben auf die Idee gekommen wäre, mich auch nur eine Minute mit Géza von Cziffra zu befassen, wenn er nicht, ja wenn er nicht auf erstaunliche Freundschaften zurückgeblickt hätte in seinem langen Leben. Nur deshalb kaufte ich mir vor etlichen Jahren sein Buch „Der heilige Trinker“, Untertitel „Erinnerungen an Joseph Roth“. Bei Roth selbst war mir der Name von Cziffra nie aufgefallen.

Marcel Reich-Ranicki, der zu meiner Ausgabe aus dem Jahr 2006 das Vorwort schrieb, meinte: „Cziffras „Heiliger Trinker“, als unscheinbares Taschenbuch veröffentlicht, wurde prompt von der gesamten deutschen Kritik ignoriert. Sehr zu Unrecht. Denn es ist ein amüsantes und keineswegs überflüssiges Opus.“ Man muss das einordnen und ergänzen, es sei, man nehme vorübergehend und zu Gunsten von Reich-Ranicki an, er habe 1983 nicht zur deutschen Kritik gehört. Wenn aber, und das wissen natürlich selbst Leute, die sonst gar nichts wissen, dann hat auch er das Buch ignoriert und zwar keineswegs, weil es in einer unscheinbaren Taschenbuch-Ausgabe erschien, sondern weil es in genau dem Verlag erschien, in dem es erschien: Bastei-Lübbe. Die feine Großkritik nimmt, wenn ich in den letzten 30 Jahren nichts übersehen habe, Bücher von Bastei-Lübbe nicht einmal mit spitzen Fingern in die Hand, sie mögen amüsant sein oder schlimmsten Falles sogar gut. Die nächste Taschenbuch-Ausgabe folgte bei Ullstein, auch sie wurde prompt von der gesamten Kritik ignoriert. Erst die Berenberg-Ausgabe, der Reich-Ranicki seine huldvolle Aufmerksamkeit und, natürlich gegen entsprechendes Honorar, sein Vorwort widmete, traf es etwas besser, aber nicht wegen Cziffra, sondern wegen Joseph Roth. Ich hätte, hätte ich von ihrer Existenz gewusst, auch die Bastei-Lübbe-Ausgabe gekauft: wegen Joseph Roth. Ich habe alles von und zu ihm gekauft.

So bin ich nunmehr in der Lage, zu sagen: Ich besitze ein zweites Buch von Géza von Cziffra und das erschien, auf dem Cover als Originalausgabe gekennzeichnet, ebenfalls bei Bastei-Lübbe und zwar 1985, also zwei Jahre nach dem allseits ignorierten. Es ist unter meinen, gröberer Schätzung zufolge, 12.000 Büchern das einzige Bastei-Lübbe-Buch, es trägt den Titel „Im Wartesaal des Ruhms“, enthält auch ein Kapitelchen mit dem Titel „Der heilige Trinker“ über Joseph Roth, von dem eine abschließende Fußnote verrät, es handle sich um Auszüge aus dem gleichnamigen Buch. Man müsste die Texte also nicht unbedingt vergleichen. Es ging mir um die Erinnerung des Mannes aus der Unterhaltungsfilmgeschichte an berühmte Persönlichkeiten. Das Inhaltsverzeichnis, Verlagsgeschick sieht anders aus, enthält die Überschriften der insgesamt 14 Kapitel und keine dieser Überschriften verrät dem Neugierigen, der nicht schon ein wenig Experte ist, von wem in diesem Kapitel die Rede sein könnte. „Der Dichterfürst“ heißt das erste Kapitel – und es ist nicht Goethe gemeint. Im Kapitel „Adolf“ ist tatsächlich Adolf gemeint, im Kapitel „Milena“ tatsächlich die tschechische Freundin Franz Kafkas. Wer aber ist „Der Kuhäugige“? Es ist Ödön von Horvath. Und weil das so ist, nehme ich den runden Geburtstag heute zum Vorwand, um über diesen Freund des Regisseurs, wie er in der Erinnerung von Cziffras erscheint, ein paar Zeilen zu schreiben.

Vorab noch ein Blick auf Traugott Krischke, der wie im Märchen vom Hasen und vom Igel immer schon am Ende der Furche sitzt, in der man als Hase zu Ödön von Horvath rast und dort die bekannte Formel spricht: „Ik bün allhier!“ Krischke kennt natürlich die Erinnerungen des Film-Mannes an Horvath, er zitiert sie in seiner bei Heyne erschienenen Biographie mehrfach und ist großzügig genug, im Zitat den dümmsten Fehler der zitierten Quelle stillschweigend zu korrigieren, sprich: wie einen Druckfehler zu behandeln. Géza von Cziffra lässt nämlich in seinem Kapitel Ödön von Horvath auf der Budapester Margarethen-Insel davon berichten, wie er am 12. Mai 1933 Zeuge der Bücherverbrennung auf dem Berliner Opernplatz war. Das Datum ist bekanntlich falsch. Wenn Horvath es tatsächlich falsch gesagt hätte, hätte von Cziffra ihn korrigieren müssen. Vermutlich wusste er es aber selbst nicht so genau und im Verlag Bastei-Lübbe wusste es auch niemand in Lektorat oder Korrektorat, falls diese Abteilungen mit dem Buch denn zu tun hatten. Schlimmer aber sind die Aussagen zur Bücherverbrennung selbst: Sie können gar nicht stimmen, denn da von Thomas Mann nichts verbrannt wurde, nur von seinem Bruder Heinrich und von seinem Sohn Klaus, konnte der berüchtigte Germanistik-Professor Alfred Baeumler kaum „Brenne, Thomas Mann, brenne!“ gerufen haben. Er hat wahrscheinlich gar nichts zu niemandem gerufen damals.

Es darf milde bezweifelt werden, ob Ödön von Horvath an jenem Maitag überhaupt in Berlin war, denn gemeldet war er laut Traugott Krischke vom 18. April bis 3. Juni 1933 ununterbrochen im Hotel „Bristol“ am Kärntner Ring neben der Wiener Staatsoper. Das war nicht unbedingt ein Haus, in dem die Armen Wiens und ihre Gäste logierten, es könnte aber gewesen sein, dass Horvath, als ungarischer Staatsbürger hatte er mit und in Deutschland zunächst einmal gar keine Probleme, mal eben rasch nach Berlin fuhr, um dort etwas zu sehen und zu hören, was gar nicht passierte. Um ein Sahnehäubchen auf die falsche Erinnerung zu setzen, kolportiert von Cziffra noch, Horvaths Bruder habe ihm später davon erzählt, dass in München Horvath-Schriften verbrannt worden seien. Auch die ausführlichsten Dokumentationen der Bücherverbrennungen in Deutschland nennen den Namen Ödön von Horvath nie. Offenbar gab es später, also auf alle Fälle nach 1945, gar nicht so selten das Bedürfnis, verbrannt worden zu sein, weil es nun etwas von einem Adelstitel hatte. Nach 1990 gab es dann in Deutschland nicht wenige, die ganz enttäuscht waren, dass sich über sie keine Stasi-Akte fand, wo sie doch immer so tapfer politische Witze über Ulbricht und Honecker erzählt hatten. So ganz ändern sich Zeiten dann doch nicht, trotz gegenteiliger Meldungen aus ihrem Hauptquartier. Im Kern aber will Géza von Cziffra vor allem von Horvaths Liebes- und Sexleben plauschen.

Die Sittenpolizei hätte, was der Regisseur repetiert, HWG genannt, angeblich das Amtskürzel für „Häufig wechselnden Geschlechtsverkehr“, munkelt es. Letztlich ist es einerseits sehr passend zum Verlag, der es für würdig hält, derartigen Boulevard-Klatsch zum Buch zu binden, andererseits fällt es auf den Autor zurück, der hauchdünn überm Stammtisch schwebt mit seinen Anekdoten. Es wäre erneut nach der Glaubwürdigkeit dessen zu fragen, was von Cziffra erinnert. Ist es denkbar, dass einer nicht mehr weiß, an welchem Film er seinerzeit gerade arbeitete, obwohl das auf alle Fälle einer der ersten, wenn nicht gar überhaupt der erste seiner Filme gewesen sein muss, gleichzeitig aber ganze Dialog-Passagen wortwörtlich wiedergibt und somit quasi anekdotisch-aphoristisch Appetithäppchen fabriziert, die definitiv nicht überprüfbar sind? Es ist denkbar, wenn einer ein ganz speziell funktionierendes Gedächtnis hat. Mein eben schon geäußerter Zweifel bekommt kräftige Nahrung aus dem Kapitel des Cziffra-Buches, das dem über den „Kuhäugigen“ vorausgeht, dort geht es ein bisschen um Franz Molnar und ein bisschen mehr über Erich Kästner. Der war übrigens tatsächlich Augenzeuge der Bücherverbrennung auf dem Opernplatz am 10. Mai und hätte beeiden können, dass von Thomas Mann dort keinerlei Rede war. Dennoch behauptet von Cziffra dies auch schon in diesem Kapitel. Und lässt gravierende weitere Falschbehauptungen vom Stapel.

Manchmal ist es erhellend, dem Phänomen des Gedächtnisses indirekt auf die Spuren zu kommen, indem man überprüft, was behauptet wird. Cziffra behauptet im Kapitel über Erich Kästner, Egon Erwin Kisch habe diesen an die Witwe von Siegfried Jacobsohn vermittelt, die die „Weltbühne“ nach dessen Tod herausgab und dort sei ein Gedicht Kästners erschienen, zufällig in einer Ausgabe, in der Cziffra selbst unter seinem Pseudonym Fritz Pirat eine Glosse über den ungarischen Reichsverweser Horthy veröffentlicht habe. Hier stimmt fast gar nichts. Bis Jahrgang 1926 prangte Jacobsohns Name als Herausgeber auf dem Titel, nach seinem Tod am 3. Dezember 1926 nicht mehr. Vom Jahrgang 1927 an stand dort: „Begründet von Siegfried Jacobsohn. Unter Mitarbeit von Kurt Tucholsky geleitet von Carl v. Ossietzky“. Von der Witwe in Verantwortung ist nirgends die Rede. Alle drei von Fritz Pirat je verfassten Texte für die Weltbühne erschienen im ersten Halbjahr 1926, als Jacobsohn noch lebte, sie sind sehr kurz, kaum mehr als zehn Druckzeilen, mit Horthy beschäftigt sich keiner. Alle drei zeichnen sich kaum durch irgendetwas aus, was Kästner ein Lob hätte abnötigen können. In keinem der drei Hefte mit den Pirat-Texten aber findet sich ein Gedicht Kästners. Die Geschichte, die Cziffra erzählt, ist frei erfunden oder in jeder Hinsicht falsch erinnert. Auf den Wert aller anderen Erinnerungen wirft das natürlich alles andere als ein günstiges Licht.

Woran erinnert sich von Cziffra noch neben Amouren und Kaffeehaus-Geständnissen über Frauenreize unter der Gürtellinie? Zunächst einmal behauptet er tapfer, Horvath sei entgegen anders lautenden Gerüchten nie wirklich berühmt gewesen in der Weimarer Republik. Um dann der Reihe nach alle Erfolge Horvaths aufzuzählen und teilweise mäßig informiert zu kommentieren. Wirklich schön ist eine Anekdote zu den „Geschichten aus dem Wienerwald“. Nachdem Alfred Kerr das Stück gelobt hatte, will Cziffra Karl Kraus getroffen und nach der Premiere gefragt haben. Kraus habe geantwortet: „Wie kann mir ein Stück gefallen, das Alfred Kerr gefallen hat?“ Herrlich, wenn es stimmt und immer noch herrlich, wenn es erfunden ist, denn dann wäre es gut erfunden. Manche Aussagen sind nur in ihrer tieferen Bedeutung zu würdigen, wenn man weiß, dass von Cziffra die komplette Nazizeit über unbehelligt und ununterbrochen aktiv war, er war weder Systemkritiker noch gar Widerständler, er hat einfach das geliefert, was der nationalsozialistischen Filmpolitik unter ihrem selbst ernannten Schirmherrn Joseph Goebbels am besten gefiel: möglichst seichte Unterhaltung mit möglichst viel Musik, die in den UFA-Kinos die „Volksgemeinschaft“ von allem ablenkte, später vor allem von Krieg, Bomben, Not und Elend. Wer selbst so lebte, dichtete auch anderen leichter eine wenn auch dezente und vorübergehende Nähe zum Regime an, Horvath etwa.

So soll der sich kurz nach der Machtübernahme, eine genauere Zeitangabe vermeidet von Cziffra, dahingehend geäußert haben, dass er überlege, ob der Kerl, Hitler gemeint, nicht doch recht habe. „Er vergaß meistens, seine Medikamente einzunehmen. Außerdem trank er zuviel Alkohol. Immer in einfachen Lokalen.“ Dann habe er die Nazis in Berlin intelligenter genannt als die ungarischen Filmproduzenten. Was möglicherweise gar nicht falsch war, wenn er nicht so pauschal gesprochen hätte. Detailliert geht von Cziffra auch auf das Ende Horvaths in Paris ein und es bleibt mir immer noch erstaunlich, wie wichtig Menschen die Frage nehmen, von welcher Art Baum der Ast stammte, der ihn erschlug: „... irgendwo in der Nähe schlug der Blitz ein, ein Baum stürzte auf einen anderen Baum, manche sagen, es war eine Platane, andere sagen, es sei ein Kastanienbaum gewesen. Vom zweiten Baum brach ein schwerer Ast ab - dieser Baum wurde eindeutig als Ulme identifiziert – und traf Horvath an der Schädeldecke. Er war sofort tot.“ Ich bin mir nicht sicher, ob ich schon immer wissen wollte, was ich nunmehr auch weiß über den „Kuhäugigen“, den angeblich Else Lasker-Schüler so genannt hatte, zum Beispiel: „Er selbst bevorzugte Hausmannskost, und zwar in jeder Beziehung. Er schwärmte für Stubenmädchen, unberührt vom Lande, und junge Köchinnen.“ Wie das zu den wohlbeleibten Frauen passte, für die er angeblich auch schwärmte: Cziffras Geheimnis.


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