Theodore Dreiser: Konvention

Sein Platz wäre der zwischen Kurt Drawert und Ingeborg Drewitz. Beide können nichts dafür, dass dieser Platz leer blieb im „Literatur Lexikon Autoren und Begriffe in sechs Bänden“, im Verlag J. B. Metzler erschienen und unter der Flagge DIE ZEIT segelnd. Theodore Dreiser, am 27. August 1871 geboren, am 28. Dezember 1945 gestorben, war ein amerikanischer Schriftsteller, der an Bedeutung seine beiden potentiellen Lexikon-Nachbarn weit überragt, was der noch lebende Drawert vielleicht anders sehen wird, aber kaum zu seinen Gunsten spräche, was die nicht mehr lebende Drewitz mit Sicherheit gern bestätigt und als für sie keineswegs ehrenrührig angesehen hätte. Wir finden uns in der gar nicht sonderlich überraschenden Situation, erklären zu müssen, was sich von selbst erklärt. Theodore Dreiser ist gegen Ende seines Lebens Kommunist mit Parteibuch geworden, Theodore Dreiser wurde in der DDR als „fortschrittlicher“ Amerikaner „an der Seite der Arbeiterklasse“ gesehen und gefeiert, wobei mehr Wunsch als Realität im Spiel war, doch das wäre ein anderes Thema. Denn wohl schrieb Max Schroeder im Nachwort zum sicher berühmtesten Roman Dreisers, „Eine amerikanische Tragödie“, er sei „der bedeutendste Roman, ja das bedeutendste Werk der amerikanischen Nationalliteratur, die im Vergleich zur Literatur der europäischen Nationen eine eine kurze Geschichte hat.“ Doch stand Schroeder aus Hamburger Sicht auf der falschen Seite.

Schroeder (16. April 1900 – 14. Januar 1958) lebte von 1941 bis 1946 als deutscher Emigrant in den USA, wurde nach seiner Rückkehr Cheflektor des Berliner Aufbau-Verlages und prägte dessen Profil entscheidend mit in den frühen Jahren. Wer sich ein Bild von ihm machen will, kann die noch zu seinen Lebzeiten 1957 in seinem Verlag erschienene Sammlung „Von hier und heute aus. Kritische Publizistik“ zu Rate ziehen, dort ist auch das Nachwort zu Dreiser aufgenommen. Wer, weil er in Hamburg und Umland bis Garmisch-Partenkirchen sozialisiert wurde, Urteile aus der „Zone“ aus Überzeugung nicht ernst nehmen kann, dürfte vielleicht einer Universitätsprofessorin mit Geburtsort Lüneburg eher vertrauen, die bei Gelegenheit einer Neu-Veröffentlichung eines anderen Dreiser-Romans in der FAZ (18. August 2004), gemeint ist „Schwester Carrie“, schrieb: „Ein Hoch auf jeden Verlag, der Klassiker aus der Versenkung holt und Wehgeschrei über jeden, der dies lieb- und achtlos tut.“ Der zweispaltige Rest betrifft den Roman und seinen neuen Verlag in den Details, die hier nicht von Interesse sind; nur dies: Ingeborg Harms sah mit verblüffender Selbstverständlichkeit Dreiser als einen solchen Klassiker. In den USA selbst ist laut Time Magazin „Eine amerikanische Tragödie“ den besten 100 englischsprachigen Romanen, die zwischen 1923 und 2005 erschienen, zugeordnet worden, was viel und wenig bedeuten kann, nicht aber nichts.

Weil aber heute nur der 75. Todestag Dreisers im Kalender steht, die weite Welt inklusive Literaturbetrieb natürlich anderes zu tun und zu lassen hat, als eines seltsamen Spätkommunisten zu gedenken, sei hier eine sehr kleine, ziemlich sicher eher unbedeutende Erzählung aus seinem umfänglichen Werk herausgegriffen, die womöglich sogar noch leicht unglücklich übersetzt ist. Die Überschrift „Konvention“ wie das Wort Konvention innerhalb der keine 25 Seiten langen Erzählung meinen in unserem Verständnis eher das, was man auch mit „öffentliche Meinung“ nicht sonderlich genau bezeichnet, es ist die Fama, das, was „die Leute“ sagen über einen oder eine, die sich in aller Regel eher davon bestimmen lassen als sich zu widersetzen, denn das Widersetzen wird sanktioniert mit Ausschluss aus der jeweiligen Gemeinschaft, es kann den sozialen Tod bedeuten, der nicht selten den physischen nach sich zieht. Das Opfer der Konvention in der vorliegenden Erzählung ist ein Journalist, ein verheirateter Mann mit Kind, der über einen seltsamen Umweg des Seitensprungs überführt wird. Dreiser wählt einen seht einfachen, manchem Leser vielleicht sogar zu einfachen Weg, seine Geschichte vorzutragen, er setzt einen Erzähler ein, der eine Binnenerzählung vorträgt.

„Diese Geschichte wurde mir von einem sehr begabten Zeitungsillustrator erzählt, und da sie die stark hemmende und oft vollständig verwandelnde Macht der Konvention ziemlich gut verdeutlicht, habe ich sie als eine Art amerikanischen Gesellschaftsdokuments niedergeschrieben. Aus seinem Mund klang sie ungefähr folgendermaßen:“. Alles nach diesem Doppelpunkt ist die in Ich-Form wiedergegebene Rede des Illustrators, der keinen Namen bekommt. Als er endet, endet auch die Erzählung, der Rahmenerzähler tritt nicht noch einmal in Erscheinung. „Und genauso kühl und bedauernd denke ich auch heute über alle derartigen Karikaturen von Liebe und Seligkeit.“ Man darf sich des Hinweises von Max Schroeder durchaus erinnern, die amerikanische Nationalliteratur sei eine sehr junge, sie lernte in Europa, zuerst natürlich bei den sprachlich verwandten Briten, dann aber auch über diesen Sprachraum hinaus. Die Amerikaner selber kamen ja, wenn man von den Ureinwohnern als den eigentlichen Amerikanern absieht, die heute auf den Namen „indigene Völker“ hören sollen, aus europäischen Herkunftsländern, hatten allesamt Migrationshintergrund. Und noch die in dieser Hinsicht gern arrogante Theaterkritik der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg verwies triumphierend auf die Wurzeln aller erfolgreichen US-Importe: bei Tschechow oder Ibsen.

Dreiser selbst stammte aus einer deutschstämmigen Familie, der Vater kam aus Mayen in der Eifel, die Mutter gehörte der evangelisch-freikirchlichen Bewegung der Mennoniten an, die selten nur geduldet, oft regelrecht verfolgt wurden. Und er hat lange als Journalist gelebt und gearbeitet. So liefert er dann wie nebenher Einblicke in dieses sehr spezielle Dasein. Mit einem heute vermutlich weithin ausgestorbenen Job als Sonntagsredakteur, der darüber bestimmte, was an diesem Tag, der seit je die größte Lesezeit innerhalb der Woche mit sich bringt, den Lesern serviert wird. Reize will er liefern, heißt es an einer Stelle, vielleicht auch ein wenig Empörung schüren oder milde Distanz erzeugen zu anderen Menschen, die pures Vergnügen, kombiniert mit Stadtflucht, suchen auf Ausflugsschiffen, die auf dem Fluss, an dem die ungenannte Stadt im Mittelwesten liegt, kleinere Kreuzfahrten anbieten. Der Reporter Wallace Steele soll solche Kreuzfahrt mit all ihrem Treiben auf den so genannten Flirt-Decks beschreiben, der namenlose Illustrator soll dazu charakteristische Szenen zeichnen, die Zeitungsseite könnte sich damit durchaus zu zwei Dritteln füllen. Der fast novellistische Witz an allem: die reizvollste Szene liefert Steele selbst, der Illustrator merkt es spät. Es interessiert ihn, es macht in sogar neidisch, weil sein eigenes Glück bei Frauen eher mäßig ist.

Auffällig ist, dass der Binnenerzähler, wenn er seinen schreibenden Kollegen charakterisiert, dessen Fähigkeiten als deutlich begrenzt sieht, wenn er sich auch vorsichtig kollegial ausdrückt dabei: „Er schien beliebt bei seinen Vorgesetzten, und er konnte recht gute Sonntagsartikel schreiben, von denen keiner, meiner Meinung nach, irgendetwas Packendes, Farbiges oder wahrhaft Dichterisches an sich hatte.“ Und: „Es fehlte ihm, meiner Meinung nach, das künstlerische und dichterische Auge. Trotzdem standen wir, wie gesagt, ganz gut miteinander. Ich nahm ihn hin, wie jeder Journalist einen anderen von derselben Zeitung hinnimmt, der gut angeschrieben ist.“ Da gut angeschrieben etwas anderes ist als gut, ist das eine mehrdeutige Aussage, ebenfalls der Konvention geschuldet. Der erzählende Illustrator, klärt sich so, unterliegt selbst natürlich den gleichen Gesetzen und Regeln, die er in ihren Wirkungen auf den Kollegen als amerikanisches Gesellschaftsdokument gesehen haben möchte, was im Sinne des Erzählaufbaus eher an das 18. Jahrhundert in Europa erinnert, wo häufig die Moral einer Geschichte nicht als Fazit aus ihr am Ende erschien, sondern ebenso oft gleich an den Anfang gestellt wurde. Erzählt wurde so von Beginn an der Beispielfall, das Exemplarische, das Typische, später von seinen Theoretikern gern auch Realismus genannt.

Später macht eine Erzählung die Runde, derzufolge die unansehnliche Gattin von Wallace Steele einem Giftanschlag zum Opfer fiel, sie habe von vergiftetem Konfekt gegessen, das ihr per Post zugegangen sei. Die erkennbare Handschrift des Absenders aber ließ den Schluss zu, dass just jene junge und sehr attraktive Frau die Täterin war, mit der der Illustrator seinen Kollegen auf dem Schiff gesehen hatte, die leicht verfremdete Szene war sogar in die Sonntagsbeilage der Zeitung geraten, ohne dass den Porträtierten es auffiel. Da die Binnenerzählung konsequent der Perspektive des Illustrators folgt, kann der natürlich nur weitererzählen, was an die Öffentlichkeit drang nach dem Anschlag, den Frau Steele glücklich überlebte. Mrs. Davis leugnet äußerst standhaft, spätere Ermittlungen zur Herkunft des Giftes, des Konfekts, führen auf die Spur des Opfers selbst: Sie hat versucht, sich selbst umzubringen und die Schuld der Konkurrentin in die Schuhe zu schieben. Die Idee dazu gewann sie aus einem Zeitungsbericht. Und der Erzähler beschreibt ohne eigene wertende Kommentare den Wechsel der Meinungen und Sympathien. Zunächst ist alles Wohlwollen, sind alle Sympathien bei der vermeintlichen Mörderin aus Leidenschaft. Dann aber bei der Selbstmörderin.

Dreiser formuliert es so: „Aber trotz des traurigen Berichts seiner Frau war Mrs. Davis für die Zeitungen interessanter. Sie war jung, schön, sie hatte ein blutiges Opfer auf dem Altar der Liebe dargebracht oder doch darbringen wollen. Was brauchte eines Tageszeitung mehr?“ Und er führt eine spezielle Art des Journalismus vor, nur knapp skizziert: „Infolgedessen wurde sie von einem Schwarm weiblicher Reporter überfallen, die man schon damals als „Tränendrüsenschwestern“ bezeichnete“. „Ich habe gesagt, dass der Ton der Zeitungen zugunsten Mrs. Steeles umgeschlagen war. Das war auch richtig. Das gleiche galt von den Tränendrüsenschwestern, jenen wahren Stimmungsbarometern.“ Kürzlich gab es einen Fernsehkrimi, in dem vorgeführt wurde, wie im Lokalen ein Internetportal, installiert von ehemaligen Print-Journalisten gegen die heute gern so genannte „Lügen-Presse“, Klickzahlen und Posts manipuliert: zwei sehr junge und sehr naive Mädchen sitzen an zwei Firmen-Laptops und fabrizieren in Serie Stimmen aus der Stadt. Sie sind nicht anders als die Tränendrüsenschwestern der digitalen Welt, die so zum wiederholten Male vorführt, wie wenig neu ist in ihr, nur gern als neu verkauft oder gepriesen wird. Das finale Opfer der Konvention wird Wallace Steele, der Mann, der der veröffentlichen Meinung zum Munde redet.

Steele ist es, der Mrs. Davis und ihren Liebesbekundungen widerspricht. Steele ist es, der bekundet, er habe sich nie von seiner Frau trennen wollen. „Er wollte seine Frau nicht, aber er wollte auch keinen Ärger. Und jetzt, da seine Schuld offenbar geworden war, zitterte er.“ Zwei Reporter verabschieden sich nach eine Befragung von ihm, „überzeugt, dass Steele, ob er nun an seiner Frau hing oder nicht, ob an Mrs. Davis oder nicht, so vollkommen unter dem Terror der Konvention stand, dass er krampfhaft nach einer Entschuldigung suchte.“ Steele ist in seiner Stadt erledigt: „Damit war Steele als Lump abgestempelt. Er wurde nie mehr bei irgendeiner Zeitung der Stadt angestellt.“ Der erzählende Illustrator trifft ihn sieben Jahre später noch einmal in New York als nunmehr zweifachen Vater, verheiratet noch immer mit der Frau, die er einst betrog. Sie ist noch unansehnlicher geworden als damals. Steele lädt den einstigen Kollegen zu sich nach Hause, der aber kann dieser Einladung nicht folgen. Immerhin gedenkt er seines Neides damals auf dem Schiff und er formuliert den schon zitierten Schluss. Theodore Dreiser ahnte nicht, dass viele Jahre später seine Figur namens Ernita aus einer Erzählungssammlung von 1929 in der DDR zu höchsten Ehren gelangen würde, weil sie in die Sowjetunion ging und dort beim Aufbau des Sozialismus half.


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