Wilhelm Heinrich Wackenroder 250

Wer Tieck sagt, muss auch Wackenroder sagen? Es wäre die alphabetische Logik. Doch deutlich eher und mehr muss der Tieck sagen, der Wackenroder gesagt hat. Denn wohl ist der andere ohne den einen ganz gut vorstellbar, der eine ohne den anderen aber überhaupt nicht. Während Tieck seinen 80. Geburtstag nur um einen Monat verfehlte, war sein Freund Wackenroder schon volle 55 Jahre tot, ohne seinen 25. Geburtstag erreicht zu haben. Wir lesen von Nervenfieber, das ihn dahinraffte, auch das Wort Faulfieber ist mir unterwegs begegnet und ich kann mir unter dem einen nicht mehr als unter dem anderen vorstellen. Oder nicht weniger. Immerhin finde ich, dass das Faulfieber, später eher Fleckfieber genannt, durch lebende Läuse übertragen wird, aber auch durch Läusekadaver und Läuse-Exkremente. Das klingt, für mich jedenfalls, weniger mitleiderregend als Nervenfieber. Denn an eine solche Diagnose lässt sich die Vermutung knüpfen, wie sie später ein gewisser Marcel Reich-Ranicki auf eine gewisse Christa T. bezog (von Christa Wolf): sie sei an Leukämie gestorben, gelitten aber habe sie an der DDR. Viel DDR war zu Wackenroders Zeiten noch nicht vorhanden, das Berlin, in dem er geboren wurde, war noch weit davon entfernt, zur Hauptstadt der DDR zu werden mit der zweitlängsten Mauer nach den bekannten chinesischen.

Auch das Nervenfieber lässt sich nur schwerlich in politische Denkansätze einbauen, es wird in den einschlägigen Auskunfteien heute schlicht Typhus genannt, verursacht durch Salmonellen, von denen wir wiederum alle schon einmal gehört haben. Wilhelm Heinrich Wackenroder starb, es lässt sich nicht beschönigen, so oder so an einer Infektionskrankheit, gegen die 1798 noch kein Kraut gewachsen war. Man kann nur hoffen, dass er nicht noch viele Kontaktpersonen ansteckte. Sein akademischer Kurzzeit-Lehrer Karl Philipp Moritz war fünf Jahre vor ihm gestorben, zu lesen ist von einem Lungenödem als Folge einer nicht genannten Krankheit, mit der er seine ihn pflegende zweite Gattin ansteckte, die bald darauf ebenfalls starb. Wackenroder war, der Begriff geistert durch fast alle Literatur, die ich zu ihm las, der Verfasser eines Manifests. Bei ihm ging es jedoch nicht um ein Gespenst, welches in Europa umging, sondern um Kunst, vor allem um Malerei, aber auch Musik. Seltsamerweise nicht ansatzweise um Literatur, obwohl alle den jungen Mann aus Berlin immer einen Dichter nennen oder auch, was ja noch eine Prise edler klingt, einen Poeten. Das Manifest trägt den Titel „Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders“ und ist 1797 anonym erschienen. Seine ersten Rezensenten wussten keineswegs, wen sie da rezensierten.

Ich habe nirgends die Behauptung gelesen, Ludwig Tieck habe diese Publikation mit seinem Gymnasial- und Studienkumpel Wackenroder vorher abgesprochen. Wohl aber, dass er auch redigiert habe. Dass vier der achtzehn Text-Brocken von Tieck seien und die so genannte Rahmen-Handlung auch, die den Klosterbruder des Titels als Erzähler fingiert. Im Druck haben sich die Macher meiner Leipziger Reclam-Ausgabe darauf geeinigt, den Tieck-Anteil kursiv setzen zu lassen, es gibt auch kaum Streit über die Zuordnung, während die Detaileingriffe mangels Manuskript-Vorlagen nicht mehr zu rekonstruieren sind. An der Abwesenheit von einst, gar fast bis zum Ende des II. Weltkrieges, noch vorhandenen Handschriften, scheitert wohl für immer eine historisch-kritische Gesamtausgabe, die gern einmal gefordert, deren Fehlen fast eben so gern beklagt wird. O Freunde, nicht diese Töne! So möchte ich leicht übergriffig die von Beethoven auf Hermann Hesse gekommene Aufforderung benutzen: Wem fehlt denn eine historisch-kritische Ausgabe wirklich? Den Bibliotheken, damit die zugreifenden Germanisten sich das Geld einer eigenen Anschaffung sparen können? Wir leben in einer Zeit, da die historisch-kritischen Ausgaben auf die Rote Liste der aussterbenden Arten zu setzen sind. Und das mit sehr guten Gründen.

Gerda Heinrich, Jahrgang 1939, die ihre wissenschaftliche Karriere in der DDR am Zentralinstitut für Literaturgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR absolvierte, 30 Jahre von 1961 – 1991 verblieb sie dort, publizierte 1984 im Union-Verlag Berlin eine so genannte Leseausgabe. Der überaus schlichte Titel: „Dichtung, Schriften, Briefe“. Leseausgabe erinnert an Frauen, die sich Schuhe zum Laufen kaufen, was die Frage nahelegt, welche sonstigen Dienste von Schuhen da erwartet werden. Sollte es doch Bücher geben, die nicht für Leser gedacht sind? 1984 erschien unter dem Titel „Werke und Briefe“ eine Ausgabe im Carl Hanser Verlag, die ich nur von einem Foto her kenne und von der allerdings hochgradig merkwürdigen Angabe im Lexikon „Mann für Mann“ von Bernd-Ulrich Hergemöller, der als Herausgeber einen Gerhard Heinrich nennt. Der Zufall wäre allzu groß, wenn in einem Jahr zwei verschiedene Wackenroder-Ausgaben erschienen wären, sauber verteilt auf beide deutschen Staaten, und eine von Gerhard, die andere von Gerda Heinrich. Als einziger unter vielen weiß Hergemöller auch, dass der Roman „Franz Sternbalds Wanderungen“ von Wackenroder nicht vollendet wurde und dass er es nicht wagte, seine „Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders“ unter seinem Namen zu veröffentlichen. Das weckt Vertrauen.

Um dem Hamburger Professor nicht ausschließlich Unrecht zu tun, sei immerhin dieser Satz von ihm ohne Widerspruch zitiert, er gilt den Freunden Tieck und Wackenroder: „Im folgenden Jahr führte sie eine gemeinsame Fahrt nach Braunschweig, Wolfenbüttel und Hamburg, wo sie Klopstock aufsuchten.“ Davon las ich vorher nichts, es wird meine Neugier wach halten. Gerda Heinrich aber hat ihrer Leseausgabe als Sahnehäubchen noch ein lesbares Nachwort mitgegeben. Lesbar und informativ, was bei anderen Autoren bisweilen weit auseinander fallen kann. Wobei mir am wichtigsten scheint, dass sie bei ihren Deutungen und Folgerungen den 1938 erstmals vollständig edierten Reisebriefen Wackenroders an seine Eltern eine eigene Bedeutung innerhalb des Nachlasses zugestand und vorführte, dass eben diese Briefe das Bild Wackenroders, das sonst ausschließlich an den „Herzensergießungen“ und den „Phantasien über Kunst“ entfaltet wird, mehr als nur marginal korrigieren. In diesen Reisebriefen - sie füllen im Union Verlag immerhin 120 Seiten, während die „Herzensergießungen“ in der Leipziger Reclam-Ausgabe auf gerade 100 Seiten kommen, die „Phantasien“ bei Reclam Stuttgart, den umfänglichen Anhang herausgerechnet, auch nur auf 100 Seiten - geht es um Reales, um Fassliches, Soziales, Historisches, kurz: Handfestes.

Das stört, wenn es ausschließlich und auf hoher Ebene um die Philosophie der Frühromantik gehen soll, um Wechselbeziehungen zwischen Religion und Kunst (Literatur immer außen vor, was wohl absichtlich übersehen wird). Was ebenfalls stört, ist der Umstand, dass berufliche Wackenroder-Leser offenbar sämtliche Signale, noch die deutlichsten, gern übersehen, die auf des Dichters homosexuelle Ambitionen deuten. Was reine Privatsache wäre, wenn es nicht auch bestimmte Konstellationen im Gefühlsleben erklärlicher macht als es andere Lebensfakten vermöchten. Eine als Hypersensibilität zu sehende Konstitution macht eben auch gegen Dinge quasi allergisch, die sonst selten bis nie zu ernsten Störungen eines Lebenslaufes führen. Die scheinbar unüberwindliche Abneigung gegen den Juristenberuf mit der aus heutiger Sicht abenteuerlich wirkenden Begleit- und Rechtfertigungsargumentation, es komme auch zu Ungerechtigkeiten und Fehlurteilen, ist nur schwer nachvollziehbar. Die schlichte Annahme, Fragen des eigenen Lebensunterhaltes als nicht vorhanden zu betrachten, stattdessen Eremiten-Phantasien zu entfalten und sogar bezüglich der Kunst den reinen Genuss der eigenen Kunstausübung vorzuziehen, fußt ebenfalls auf subjektiven Sonderkonditionen. Andere Frühromantiker übten Berufe aus und starben keineswegs darüber.

Erwähnt sei kurz und mit dem Ausdruck großer Verwunderung eine fast kurios zu nennende Fehlleistung des Kritikers und Literaturhistorikers Arthur Eloesser, der sich freilich nie als Kenner Wackenroders profilierte. „Die Stadt der frommen Dichter, wie Ramler sie besang, war immer noch knapp an produktiven dichterischen Größen, bevor sie sich als ungeheures Paradox die romantische Zwillingsgeburt von Tieck und Wackenroder erlaubte.“ Das klingt noch gut und originell und ist nebenher einer von vielen, vielen Belegen für das stets sprungbereite Interesse des Kritikers an berlingeschichtlichen Fakten, dann aber ernennt er die „Herzensergießungen“ zu einem Roman und wandelt den Titel ohne Not in „Ergießungen“, sie „wurden erst Tieck zugeschrieben. Wackenroder war ein zarterer, ins Jungfräuliche gereinigter Heinse und eine Art Vorversuch des genialeren Novalis. Wilhelm Schlegel lobte an seinem Roman die Vermählung der Kunst mit der Religion, aus der die moderne Dichtung hervorgehen sollte, und Friedrich entschied, dass Tieck etwas so Einfaches und Musikalisches gar nicht hätte machen können.“ Als Wilhelm, gemeint ist August Wilhelm Schlegel, den Roman lobte, der keiner war, kannte er seinen Verfasser nicht. Was er schrieb, kann man nachlesen, was Eloesser offenbar nicht, jedenfalls nicht genau, getan hatte.

Und so blieb er weiter dabei: „Dieser Roman eines zarten Musikers, dessen Seele unter dem leichtesten Anhauch des Göttlichen ins Vibrieren und Tönen kommt, führte die unbenennbaren Kräfte des Glaubens, Schauens, Ahnens gegen die bewussten Positionen des Verstandes und aller erdachten Systeme; der Roman schloss für die Romantik auch das alte Deutschland Albrecht Dürers auf, in dem alle Künste noch fromm, dienend, einig waren als in einem gemeinsamen Gebet.“ Zu vermuten ist, dass Eloesser nicht die „Herzensergießungen“ in ihren 18 einzelnen Texten insgesamt meinte, sondern nur „Das merkwürdige musikalische Leben des Tonkünstlers Joseph Berglinger. In zwei Hauptstücken“. Dafür ist in der Tat gelegentlich die Bezeichnung romanhaft gefallen, was aber immer noch nicht Roman bedeutet, schon allein die nur 16 Druckseiten sind ein Argument gegen das Etikett. Klaus Günzel nannte die „Herzensergießungen“ in seinem Personenlexikon „Die deutschen Romantiker“ sehr schlicht „eine Sammlung von rhapsodischen Prosastücken“, schrieb auch von „dithyrambischen Parabeln, Evokationen und Meditationen“, was kaum leserfreundlich genannt werden kann, aber eins klar macht: von Roman ist weit und breit nichts zu sehen. Man könnte einen Roman wohl als Manifest lesen, ein Manifest dagegen kaum als einen Roman.

Hermann Hesse gab sich über die Mode neuen Interesses an der Romantik verwundert, obwohl er als zeitweiliger Teilnehmer jener Neostil-Mode Neuromantik sicher eine solide Aktie daran hatte und schrieb dann: „Die „Herzensergießungen“ haben für uns neben der überaus anmutenden persönlichen Eigenart Wackenroders ihren Hauptreiz und Wert als Dokumente des romantisch-modernen Geistes im Gegensatz zu dem des 18. Jahrhunderts. An die Stelle der Vernunft tritt das persönliche Gefühl, an Stelle der antiquarisch-philologischen Kunstschreiberei die Begeisterung eines liebevollen Anschauens. Dazu tritt als wichtiges Moment die Neigung zur Musik als zur absolutesten, universalsten, also romantischsten Kunst“. Einzelnen Aussagen Wackenroders zu Künstlern und Werken wollte Hesse keine Bedeutung mehr zuerkennen, „Aber das Gefühl, das persönliche Sichversenken in ältere Kunstwerke, die Überzeugung, dass der Kunstgenuss nicht ein verstandesmäßiges Erkennen, sondern ein Erleben und Mitschaffen bedeute, das ist durchaus modern.“ Das Gegenteil wird auch heute kaum jemand behaupten wollen. 1922 hat sich Hesse noch einmal zu den „Herzensergießungen“ geäußert, jetzt zu einer schönen Ausgabe im Insel-Verlag, von Oskar Walzel eingeleitet, den er nicht einmal erwähnt, also vermutlich auch nicht gelesen hat.

„Das liebe, zart duftende kleine Buch Wackenroders stammt aus einer guten lichten Zeit der deutschen Dichtung, brüderlich steht es neben Novalis und Tieck. Für uns sieht schon das wie ein fernes Paradies aus: jene Zeit der Begeisterung, Träumerei und innigen Hingabe, jene enthusiastische Geistigkeit der jungen Romantik. Und doch weist sie viel weiter zurück, ist selber nur ein Abglanz, und wer ihrem bangen Rufe folgt, wird aus unsrer ganzen schwindelhaften Literatur zurückgeführt zu den geistigen Strömen des Mittelalters. Dort finden wir alles, was uns heute fehlt: Glaube, Moral, Ordnung, Seelenkultur. Und dort, nirgends anders müssen wir anknüpfen, um das Neue zu erreichen, das wir suchen.“ Warum Hesse 1922 gerade so schreibt, wäre eigener Betrachtung wert. Letztlich liefert ihm Wackenroder nur einen Vorwand für eigene programmatische Auslassungen von beschränktem Zeitwert. Zehn Jahre früher klang es noch so: „Wackenroders liebes Büchlein bleibt unvergesslich in seiner schönen Jugendlichkeit und Wärme, kein anderes Zeugnis lässt uns so rein mitfühlen, wie jene romantische Zeit die alte Kunst, zumal die deutsche, erlebte.“ 1932 hebt er aus dem Buch „Schöpferische Freundschaft“ mit fünf Aufsätzen zu fünf Freundespaaren einen heraus: „Den über Tieck und Wackenroder schätze ich besonders.“

Joseph von Eichendorff, selbst noch Romantiker, wenn auch kein früher, hat in seiner „Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands“ Wackenroder als gefährlich angesehen, er könne „manche schwachen Gemüter verwirren.“ Es scheint, als habe bei ihm eher der Katholik als der Dichter gesprochen, als habe er vor allem sein ungutes Gefühl zum Ausdruck bringen wollen, das ihn bei Konversionen und Konvertiten befiel, die von Farben, Ritualen und Zeremonien bewegt, zur katholischen Kirche zu neigen begannen oder auch förmlich übertraten. Wer heute zu Wackenroder liest, weiß, dass ihn das wirkliche Nürnberg, das wirkliche Bamberg, die deutschen wie die italienischen Maler weit weniger interessierten als sein eigenes Bild von ihnen, als die Wirkungen auf sich, die er ihnen zuschrieb. Der fröhliche Kurzschluss, eine Zeit, die große und größte Kunst hervorbringt, müsse eine große oder die größte Zeit gewesen sein, sein Kurzschluss, wird von der tatsächlichen Geschichte, der großen wie der individuellen der Persönlichkeiten, über die er schrieb, widerlegt. Es scheint sogar eher so, dass die „goldenen Zeiten“ der Geschichte, die immer gern nach hinten verlegt werden, gerade nicht die goldenen Zeiten von Kunst und Literatur waren, die sich an etwas reiben wollen, weshalb die beste aller Welten realiter eher Alptraum als Traum zu sein pflegt.

Schauen wir zu Ricarda Huch, die gern zitiert wird, wenn es um Ricarda Huch geht, weniger gern als die große Historikerin, die sie war, auch die Historikerin der Romantik. Sie schrieb: „Die schönste Verherrlichung der „dunklen Gefühle“ muss man bei Wackenroder, dem lieblichsten, dem verträumtesten Romantiker suchen. Seine Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders sind eine schwärmerische Verkündigung des Glaubens, dass Kunst nichts Erlernbares, sondern göttliche Eingebung, Offenbarung sei. Das Buch ist wie eins, das lange, lange Jahre in einer Kirche gelegen hat, ein Psalterium mit goldenen und flammenden Ornamenten zwischen den mystischen Gesängen und durch und durch süß von dem Weihrauch, der es beständig umwölkt hat. Ihn ängstigte das Licht, weil er nie völlig aus dem Schlafe erwacht war; sein ganzes Leben war wie das Aufschrecken eines müden Schläfers, der blinzelnd ins Morgenlicht sieht, aus den umschlingenden Blumenranken seines Traumes sich nicht losreißen kann und sich willig von ihnen in den Schlummer zurücklocken lässt.“ Was wie großes Lob klingt, fast selbst wie poetisches Preisen, ist auch als Kritik zu lesen: der Schlummer ist eben nicht die Lebensweise, die der Welt standhaltend begegnet. Und so schaut sie auch auf den Musiker Berglinger, den die Realität zutiefst ängstigt.

„Schlichter als Tieck, aber kindlich rührender erzählt Wackenroder, wie sein Jakob Berglinger an dieser Misshelligkeit zugrunde geht; wie es ihn anwidert, die Leute auf der Straße schwatzen und lachen zu sehen, wenn er in übersinnlichem Enthusiasmus aus dem Konzerte kommt, und wie er sich dann vor sich selber schämt, wenn er es sich beim Essen, im Kreise alltäglicher Bekannter, wohlschmecken lässt. Ein unaufhörlicher Kampf, nur unterbrochen durch erzwungene, äußerliche Versöhnungen.“ Jeder halbwegs sensible Theaterbesucher kennt dieses Gefühl: wenn auf dem Weg zur S-Bahn nicht artikulierte Begeisterungen zu vernehmen sind nach einem großen Abend, sondern Kühlschrankinhalte erörtert werden oder die Temperatur des Weines in der großen Pause nach dem dritten Akt. So einer war Wackenroder, der sich in diesem Berglinger spiegelte, ohne mit ihm identisch zu sein natürlich. Dann steht da auch dieser Satz: „Von Frauenliebe scheint er nichts gewusst zu haben“. Und: „Voll Leidenschaft und Sinnlichkeit war er und hätte vielleicht ein wilder und ausschweifender Mensch werden können, wenn nicht in seinem Innern etwas entzwei gewesen wäre; ich meine den Riss in der Scheidewand zwischen dem Bewusstsein und dem Unbewussten.“ Niemand ist perfekt: auch Ricarda Huch nicht: Jakob Berglinger hieß natürlich Joseph Berglinger.

Und am Ende fällt immer alles auf die Verlage, in denen niemand sitzt, dem etwas auffällt: ob ein Roman, der gar keiner war oder ein Vorname, der einfach falsch ist, ein falsches Geburtsjahr, ein falsches Geburtsdatum im richtigen Geburtsjahr, selbst ein falscher Buchtitel wird übersehen, wenn er so im Manuskript steht. Wackenroder war, einem Brief an Tieck ist es in größter Deutlichkeit zu entnehmen, einer, der der Wirklichkeit böse war, wenn sie sich nicht so verhielt und war, wie er es sich vorstellte. Damit war er ein exemplarischer Fall. Bis heute erfinden Intellektuelle, wenn ihre falschen Prognosen offenbar werden, nicht vorhandene Fakten, um ihre eigene Fehlleistung zu kaschieren, der krasseste Fall der neuen Zeit ist die Fiktion des alten weißen Mannes, die die Wahlsiege der Falschen zu erklären hat. Wackenroder war in Sachen Revolution in Frankreich einer, dem auch die Hinrichtung des Königs nicht die Metapher eines Dammbruchs einpflanzte, die heute im Dutzend billiger gehandelt wird, er nahm die Realität hin. Andere behaupteten das Gegenteil von allem, was sie eben noch behauptet hatten, was heute Zeitenwende genannt wird. „Er beneidete die Priester darum, dass ihr einziges Geschäft Verehrung und Anbetung war“, was nur bedeutet, das Wilhelm Heinrich Wackenroder nicht einmal mit dem Geschäft der Priester wirklich vertraut war.

Wackenroder fragte seinen Freund Tieck in einem Brief des Trennungsjahres, wie es immer genannt wird: „Allein bedenke nur: kannst Du von irgendeinem Menschen Heldenmut und Tapferkeit verlangen, die er nicht hat?“ Wir wissen, dass Heldenmut gerade gern von denen bei anderen gefordert wird, die in der sicheren Gewissheit leben, selbst dazu nicht gefragt zu werden. Ganze Einwohnerschaften untergegangener Kleinstaaten werden an die Wände gedrückt, ihnen demütige Antworten über mangelnden Mut zu entlocken, mangelnden Widerstand. Als ob nicht längst zu den Akten ging, dass Zeiten, die Helden brauchen, armselige Zeiten sind. Die Schmalheit des Werkes von Wilhelm Heinrich Wackenroder kommt nicht nur aus der Kürze seines Lebens, nicht nur aus der unbequemen Heimlichkeit seines Schreibens, sie kommt auch aus der gewonnenen Erkenntnis, Genuss könne ihm selbst mehr sein als Schaffen. Wobei gelegentliche Anfälle von buchstäblich in den Himmel gesteigertem Selbstbewusstsein kein Gegenteil beweisen: „Glücklich bin ich, dass der Himmel mich ausersehen hat, seinen Ruhm durch einen einleuchtenden Beweis seiner unerkannten Wunder auszubreiten: Es ist mir gelungen, einen neuen Altar zur Ehe Gottes aufzubauen.“ Das ist zwar in den Mund des kunstliebenden Klosterbruders gelegt, dort aber liegt es bis heute gut.


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