Iwan Bunin: Nächtliches Gespräch

Ob Iwan Bunin tatsächlich ernsthaft gedachte, auf seine alten Tage in seine alte russische Heimat zurückzukehren, vermag ich mangels belastbarer Belege dafür nicht zu sagen. Sein altes Russland gab es schon lange nicht mehr. Auch als er 1920 aus Odessa nach Frankreich emigrierte, war es nur noch Vergangenheit und es besteht der dringende Verdacht, dass es in der Form nie existierte, wie Bunin es sich immer wieder vor Augen rief und auf seine unnachahmliche Weise beschrieb. 1953 aber wäre kaum ein gutes Jahr gewesen für einen Mann, der 1933 als erster Russe den Nobelpreis für Literatur erhielt und nur deshalb, weil Politik im alltäglichen Sinn niemals seine Sache war, nicht mit heftigem Antisowjetismus aufgefallen war nach seinem eher stillen Abgang aus dem, was Russen Rodina nennen. Am 5. März 1953 starb Stalin, nicht sein System, am 22. Oktober feierte Iwan Alexejewitsch Bunin seinen 83. Geburtstag, der sein letzter wurde, denn am 8. November schon starb er in Paris. Für russische Schriftsteller ist das ein fast sagenhaftes Alter gewesen, denn mit deprimierender Regelmäßigkeit erlagen die männlichen Vertreter der Literatur dem Laster aller russischen Laster, dem Alkohol, wenn nicht frühzeitig nach Duellen, Krankheiten oder Suiziden.

Wer heute nach Bunin-Büchern greift, geblieben sind neben dem autobiographischen Roman „Das Leben Arsenjews“ vor allem seine Erzählungen aus den Jahren 1892 bis 1953, wird womöglich das empfinden, wenigstens gelegentlich, was man immer allzu schnell Langeweile nennt. Gemeint als Abwesenheit von starker Handlung, nicht selten von Handlung überhaupt, die diesen Namen verdient. Beschreibungen dominieren, ufern aus, nähern sich dem Selbstzweck. Immer wieder, wem das auffällt, ist aber schon auf dem direkten Weg zum Wesen Bunins, Farbeindrücke. Dass in der Literatur zu ihm der Begriff Impressionismus heimisch ist, in dem, soweit er aus der Malerei kommt, Farben, Farbkontraste, Farbpunkte bis hin zum so genannten Pointillismus eine Hauptrolle spielen, ist gerade kein Zufall. Bunin hat einen, hat den Malerblick. Und vermutlich funktionierte sein Gedächtnis stark optisch, er erinnerte so Farben, Panoramen, Szenerien. Sich Vergangenheit, alte Heimat vor Augen rufen, hieß deshalb für ihn genau diese Anstrengung. Man würde, wenn man sich Mühe gäbe, wohl selbst Höhenlinien in der Nah- wie der Ferndistanz bei ihm fixieren können. Wie es hinter einem Gartenzaun weiter geht bis zum Horizont, ist wiederkehrend, ist variationsarm.

Und dennoch konnte Iwan Bunin auch starke Akzente setzen, die es durchaus erlauben, sogar von einer Schockwirkung zu sprechen. Man nehme die Erzählung „Nächtliches Gespräch“. Ein Gymnasiast, dessen genaues Alter nicht angegeben ist, der aber bereits eine erste sexuelle Erfahrung mit einer Witwe hinter sich hat, versucht Landarbeitern nahe zu sein: arbeitet mit ihnen, isst und trinkt mit ihnen, ruht mit ihnen im Stroh, vor allem aber beobachtet er sie, lauscht ihren Gesprächen und versucht, ihr ihm fremdes Wesen für sich zu ergründen. Er hört brutale Geschichten, er riecht Gestank, er sieht Dreck. Viele Details wären nutzbar, vor allem heute wieder, um antirussische Ressentiments zu nähren: Alkohol, Rücksichtslosigkeit gegen Frauen, Faulheit, Unsauberkeit. Eine Handlung gibt es kaum, es wechseln die Stimmen innerhalb eines eher trägen Dialoges, der Gymnasiast ist zwar beteiligt, hört aber vor allem zu und fällt zunehmend in Entsetzen. Was ihm buchstäblich die Sprache verschlägt, sind brutale, blutige, grausame Geschichten, die die Männer im Stroh nicht nur scheinbar völlig ungerührt erzählen. Diese Männer sind tatsächlich abgestumpft, so fühllos, dass ihnen ihr eigenes Erleben, nur davon reden sie ja, niemals merkbar nahe geht.

Der Gymnasiast hat, das gilt als ausgemacht, Züge Bunins, der selbst Gymnasiast war, ohne die Schule, auch nur ihre vierte Klasse dort, zu beenden. Er verließ 1885 das Gymnasium. Sein Held wäre demnach nicht älter als 14 Jahre. Interessant bleibt, dass er von zu Hause zu den Arbeitern kommt und von den Arbeitern, nach diesem prägenden nächtlichen Gespräch, wieder nach Hause zurückkehrt. Ihm folgen drei Hunde. Ein Soziologe würde sagen, er treibe Feldstudien, müsste aber, wenn er nicht betriebsblind wäre, einräumen, dass das nur funktioniert, wenn seine Studienobjekte nicht merken, wie sie beobachtet und erforscht werden. Menschen sitzen nicht gern wissend unter einem Mikroskop, und wäre es auch nur ein virtuelles. Vom Zusammenhang für Bunin ist es von großer Bedeutung, dass sein Gymnasiast keiner Marotte anhängt, sondern eher einer Mode folgt: in den sechziger und siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts gab es im zaristischen Russland verbreitet eine Bewegung: Narodniki, die Volkstümler, die sich vor allem der Bauernschaft zuwandten, von ihr Veränderungen der Gesellschaft erhofften und erwarteten. Es ist, könnte man sagen, eine Art östlicher Kehrseite westlicher Aufklärung, die zuerst bekanntlich Fürstenaufklärung sein wollte.

Wenn sich der Gymnasiast am Ende der Erzählung „Nächtliches Gespräch“ von seinen Partnern abwendet und nach Hause geht, deutet nichts darauf hin, dass er, wenn er sein Erlebnis überschlafen hat, zurückkehrt. Seine Abwendung kann deshalb durchaus auch als Abwendung Iwan Bunins vom Tun und Wollen der Narodniki verstanden werden. Bunins älterer Bruder war einer von ihnen und saß dafür sogar im Gefängnis. Dann wäre die Zuspitzung zum Ende, wo davon berichtet ist, wie ein Vater mit dem toten Körper seines erschossenen Kindes, den er an den Beinen gepackt hält, den Gutsherrn erschlägt, wie der Schlächter des Dorfes mit seinem Werkzeug vor den Augen eines Untersuchungsrichters eine öffentliche Obduktion vornimmt, äußerstes Mittel, eine Motivierung nachvollziehbar zu machen. „Bunin interpretiert nicht, er moralisiert nicht, doch wird allein schon aus seiner jeweiligen Beobachtungsposition, aus der sehr subjektiven Betrachtungsweise und der Art des Beschreibens die Einstellung des Autors zu seinem Gegenstand deutlich.“ So sah es in der 1974 veröffentlichten Darstellung „Russische Literatur im Überblick“ (Reclam Leipzig) der Slawist Eberhard Reißner (19. Oktober 1926 – 10. November 2012), der schon 1976 nach Mainz wechselte.

Allein seine verblüffend freundliche Darstellung, die alle Hinweise auf klassenbedingte Blindheiten oder rückwärtsgewandten Geschichtspessimismus, um die Bunin sonst innerhalb der DDR nie herumkam, einfach beiseiteließ, verdient gesonderte Erwähnung. Auch wenn Reißner gerade „Nächtliches Gespräch“ nicht ausdrücklich erwähnt. Das tat dafür Maxim Gorki 1922. Und er tat es auf eine Weise, die geeignet ist, ein ganz neues Licht auf ihn zu werfen. Ich gestehe unumwunden: mir will kein Stück Prosa einfallen aus vielen, vielen Jahren Lektüre, das mich so getroffen hat. Und mein zweites Geständnis: ich besitze den Text seit 35 Jahren, ohne auch nur geahnt zu haben, welche Sprengkraft er barg. Hätte ich es gewusst, es wäre 2022 ein gutes Jahr gewesen, nach 100 Jahren an „Vom russischen Bauern“ zu erinnern. Jetzige späte, nicht zu späte Recherche offenbarte erschreckend große weiße Flecken im Gorki-Bild, die um so mehr betroffen machen, weil scheinbar alles aus seiner Feder, was wichtig war, 24 Bände in der großen Werkausgabe allein, dazu als Ersatz für den nie erschienenen Band 24 drei separate Briefbände, offenbar die Nebenwirkung zu erzielen hatten, keine Fragen nach den großen Fehlstellen aufkommen zu lassen. Dazu brauchte ich Bunin.

Keine 50 Seiten stark war die 1922 erschienene Broschur, die zeitgleich in Deutschland und auf Russisch gedruckt wurde, ein Amsterdamer Antiquariat stornierte mir die Lieferzusage für das einzige derzeit greifbare Reprint-Exemplar: bereits verkauft. Der Leipziger Reclam-Band „Russen in Berlin“, 1987 als RUB 1196 in den Handel gekommen, bringt die Seiten 23 – 45 der Berliner Fassung, deren Übersetzer unbekannt blieb. Und wir haben heute noch dem Herausgeber Fritz Mierau zu danken für diese subversive Publikation. Meine diesbezügliche Verbeugung erreicht ihn nicht mehr, er ist am 29. April 2018 gestorben. Seine Frau Sieglinde feierte am 27. Juli ihren 90. Geburtstag, seiner wäre am 15. Mai kommenden Jahres. Beide haben mir vor fast 50 Jahren bei einer privaten Lesung in ihrer Wohnung mehr Mut zum Weiterschreiben gemacht als irgendjemand in meinen Leben. Jetzt, und damit Ende des Ausflugs ins Nähkästchen, führt mich eine Erzählung von Iwan Bunin um einen Gymnasiasten, wie ich 1967 einer war, in die Abgründe einer Revolution, die manche heute noch die Große Sozialistische Oktoberrevolution nennen. Gnadenloser als Maxim Gorki in „Vom russischen Bauern“ hat niemand seiner Denkart je die Fünfjahresbilanz gezogen.

„In den ersten Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts erschienen die Erzählungen des besten modernen russischen Wortkünstlers, Iwan Bunin. Sein „Nächtliches Gespräch“ und eine andere, durch Schönheit der Sprache und finstere Wahrhaftigkeit hervorragende Erzählung, „Das Dorf“, beleuchten die neue kritische Einstellung zum russischen Bauern.“ Diese neue kritische Sicht korrigierte jene Idealisierungen der „Volksfreunde“, denen auch Lenin 1894 ein ganzes Buch widmete, genauer ihrem Kampf gegen die Sozialdemokraten. „Von Bunin wird in Russland behauptet, er stehe als Edelmann dem Bauern voreingenommen und feindselig gegenüber. Natürlich ist das nicht wahr. Bunin ist ein hochstehender Künstler und nur das.“ Als Gorki das schrieb, war seine persönliche, fast freundschaftliche Beziehung zu Bunin bereits beendet. Bunin war von 1911 bis 1914 im Winter regelmäßig Gast Gorkis auf der Insel Capri, ihr Verhältnis wäre ein eigenes Thema. Das aber würde in manchen Abgrund selbst der gern als so mustergültig geschilderten Freundschaft von Gorki und Lenin führen: ein Brief Gorkis an Anatole France müsste da eine Rolle spielen, den alle mir bekannten Briefausgaben dezent verschweigen. „Nächtliches Gespräch“, das abschließend, lieferte 1978 auch den Titel eines Bunin-Büchleins in der Insel-Bücherei (Nr. 1021).


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