Charles Lamb 250
Vermutlich ist der „Arme Verwandte“ nie mit mehr rhetorischem Schwung beschrieben worden, als das vor vielen Jahren Charles Lamb tat, dessen 250. Geburtstag heute zu begehen wäre. Lamb ist nach Walter Savage Landor und vor Jane Austen dritter Repräsentant des englischen Jahrgangs 1775, der damit ein sehr guter war, man mag ihn von beliebigen Seiten betrachten. Jane Austen wird immer Platz 1 in der Publikumsgunst einnehmen, schon weil sie Romane schrieb und nicht Essays, die man auch Feuilletons nennen könnte, wenn es dazumal schon Feuilletons (dem Namen nach) gegeben hätte. Der „Arme Verwandte“ ist natürlich nur für reiche Familien ein Problem und zudem auch wieder nur in Zeiten, da die Familie etwas galt. Dass Familie ein Wert für sich sei, dem alles andere unterzuordnen wäre, will uns heute nur in mafiösen Sippschaften gelten oder bei unseren Freunden mit dem Dolch im Gewande, die nicht nur zu Tyrannen schleichen, sondern auch zu Frauen, Kindern und Amtsstubeninhabern. Arme Familien haben auch arme Verwandte, es schiene ihnen nur absolut seltsam, denen mehr Aufmerksamkeit zu widmen als sich selbst oder ihnen gar tunlich wie untunlich aus dem Wege zu gehen. Charles Lamb war allerdings selbst ein Armer.
Wie sonst könnte man einen Menschen nennen, dessen rund zehn Jahre ältere Schwester Mary in einem Anfall von Wahnsinn die eigene Mutter tötet, übrigens mit einem Messer, Mutter also auch des jüngeren Bruders? Mary und Charles Lamb sind in die Literaturgeschichte unter anderem deshalb eingegangen, weil sie gemeinsam „Shakespeare-Erzählungen“ verfassten, der Titel ist kaum weniger unglücklich, wenn er „Shakespeare-Novellen“ lautet in deutscher Übersetzung, denn dass Shakespeare weder Erzählungen noch Novellen schrieb, weiß jeder. Auch die Geschwister nicht über den Meister aus Stratford. Es handelt sich um Nacherzählungen von Shakespeare-Dramen für Kinder, was an sich schon ein überaus löbliches Unterfangen darstellt. Viele Jahre später hat in der dahingeschiedenen kleinen DDR ein Mann namens Franz Fühmann eine ähnliche Unternehmung gestartet, nur ließ er es bei deutlich weniger Dramen bewenden. Vielleicht reizte ihn die Sache irgendwann nicht mehr hinreichend. Mit dem modernsten deutschen Titel „Shakespeare für jedermann. Seine Stücke. Erzählt von Charles und Mary Lamb“ (Insel Taschenbuch it 3049) sind zwanzig Nacherzählungen verbunden, die man bestens als Einführungen ins Original lesen kann.
Warum der Insel-Verlag auf dem Cover einen anderen Untertitel hat als innen im Buch, bleibt ein Geheimnis, wie das Buch insgesamt manch Geheimnis vor allem im Nachwort von Aleida Assmann birgt, die auch mit einer weiteren Lamb-Nacherzählung in neuer Ausgabe verbunden ist: „Die Abenteuer des Odysseus“ (it 3122). Immerhin hat sich, ist zu lesen, James Joyce, durch diese Nacherzählung zu Odysseus hinlenken lassen, von da kam die Anregung zum „Ulysses“. Auch Harper Lee hat sich bei Lamb bedient, sie nahm ihr Motto für „Wer die Nachtigall stört“ von ihm: „Auch Anwälte, glaube ich, waren einst Kinder“. Man kann dergleichen Aussagen gern als schlichte Marketing-Krücken betrachten, denn letztlich wird niemand zu Lamb greifen, weil Joyce ihn einst las, schon gar nicht im deutschen Sprachraum, wo es die berühmten Nacherzählungen von Gustav Schwab in drei Bänden gab und gibt. „Man erkennt ihn schon am Klopfen.“ Das sagt Lamb vom armen Verwandten. Vielleicht erkennt man auch Lamb am Klopfen (Stil, Eigenart, Humor, Ironie, wahlweise). Ina Schaber hat bei ihm eine feminine Schreibart entdeckt, die mir komplett entgangen ist. Vielleicht lesen alte weiße Männer dann doch wirklich anders als noch ältere weiße Frauen.
Mir will auch die Zuordnung des Geschwisterpaares Charles und Mary Lamb in ein Schubfach „Schreibende Paare“ nicht überzeugend erscheinen, zumal die anderen Paare mit Vater/Tochter oder Ehemann/Ehefrau (oder eheähnlich) nicht dazu führen, dass eine auch nur annähernd große Fallzahl für eine Verallgemeinerung zusammenkommt. Verallgemeinerungen sollten aber, glaube ich, schon etwas mit Wissenschaft zu tun haben, es müssen ja nicht gleich soziologisch signifikante Zahlen sein, aber aus einem einzigen schreibenden Geschwisterpaar in der englischen Literatur ist nichts zu gewinnen als Aussagen über eben dieses Paar. Und genau da scheitert die Darstellung, es ist nichts bekannt über die Art und Weise, über die Anteile beider am Schreibergebnis. Auch Aleida Assmann hat nichts beigetragen zur Erkenntnis, wie Charles und Mary das wirklich machten. Von Charles erfahren wir mehr, wenn wir in seinen Essays lesen. Da steht dann etwa: „Höflichkeit ist eine Erfindung, um dem, der sich bewusst ist, bei einem Mitmenschen weniger hoch in Gunst und Ansehen zu stehen als jemand anders, das Unbehagen zu nehmen.“ Das findet sich in der „Klage eines Junggesellen über das Benehmen verheirateter Leute“. Ich las es gern in zwei Übersetzungen.
Da steht auch: „Kinder haben für mich genauso unabhängige Rechte wie die Erwachsenen.“ Solche Sichtweisen bezieht Aleida Assmann schwungvoll auf die Philosophie von John Locke, sie habe „gerade hundert Jahre Zeit gehabt, in den Köpfen zu reifen.“ Sie meint aber gar nicht die Philosophie Lockes, sondern dessen pädagogisches Hauptwerk „Some Thoughts Concerning Education“, im Deutschen schlicht „Gedanken über Erziehung“. Assmann deutet Locke offenbar als Basistheorie für romantische Auffassungen des Kindes. Details würden hier weit weg von Lamb führen. Immerhin: die Geschwister hatten eine pädagogisch-didaktische Absicht, die Assmann dann modisch Projekt nennt, um aktuellen Diskursanten verständlich zu bleiben. Es ist jedenfalls allerhand Humor bei Lamb zu finden, Ironie, Selbstironie in soliden Dosen. In Deutschland scheint sich außer Horst Weber vor 60 Jahren niemand jemals ernsthaft für die Essayistik von Charles Lamb interessiert zu haben. Meyers Konversationslexikon von 1884 muss immer noch als informativ herhalten, die Geschichten der englischen Literatur, die halbwegs publikumsfreundlich sind, schweigen zwar nicht, halten sich mit Details und Deutungen aber übereinstimmend zurück.
Aleida Assmann hat in ihrem Nachwort immerhin noch dies: „Charles war ein Kenner und Kritiker der Bühne, der den poetischen Text gegen trivialisierende Aufführungen verteidigte. Er hasste es, wenn der Sturm auf der Heide so realistisch und tosend in Szene gesetzt wurde, dass man von Lears großem Monolog kein Wort mehr verstand. Er verachtete die Show-Effekte, die das Publikum aufheizten und von der Bedeutung des Textes ablenkten. … Theaterabende waren noch mit volkstümlichen Harlekinaden und Pantomimen durchsetzt. Charles hatte demgegenüber bereits einen ausgeprägten Sinn für das künstlerische Werk. Er traute dem inneren Auge mehr zu als dem äußeren und legte mehr Wert auf die Essenz eines Textes als auf die Akzidentien seiner Aufführung.“ Abgesehen davon, dass es höchst ungewöhnlich klingt, in Bezug auf Drama und Theater von Essenz und Akzidenz zu reden, wäre es gut gewesen, diese Behauptungen zu belegen. Theatergeschichte ist zweifellos nicht die Kernkompetenz der Nachwort-Autorin, auch für das Ausrufen und Verabschieden von Zeitaltern (das Druckzeitalter, das Zeitalter der Abwendung vom Text) würde ich mir mehr Zurückhaltung wünschen. Was bei Lamb hätte mit Gutenberg zu tun?
Charles Lamb hat, ein weiteres Beispiel zu nennen, „Ein Abhandlung über Schweinebraten“ geschrieben, die in ihrer Substanz köstlich ist, akzidentiell aber mit einer Triggerwarnung versehen werden müsste, denn große Teile der Weltbevölkerung sind bei Schweinebraten allergisch. Nicht auszudenken, wenn an EU-Außengrenzen Schweinebraten als duftige Willkommensmahlzeit geboten würde, der Fachkräftemangel würde exponentiell ansteigen. „In den ersten siebzigtausend Menschenaltern, so sagt eine chinesische Handschrift, die mir mein Freund M. liebenswürdigerweise vorlas und erläuterte, aßen die Menschen das Fleisch roh; sie bissen oder rissen es vom lebendigen Tier herunter, wie sie es in Abessinien noch heute tun.“ Erst hundert Jahre sind seit dieser Behauptung vergangen, sie hat sich vermutlich nie bis Abessinien herumgesprochen, sonst würden dort vielleicht britische Flaggen auf zentralen Plätzen verbrannt. Auf Konfuzius geht angeblich die Geschichte zurück, wie die Idee des Bratens entstand: bei einem Feuerschaden, der auch den Ferkeln des Hauses das Leben kostete. Um Ende brennt es überall: „Brennholz und Schweine wurden im ganzen Lande unerschwinglich teuer.“ Frühe Marktwirtschaft war das wohl.
Charles Lamb schwelgt in der Schilderung des knusprigen Schweinebratens, vor allem der Kruste kann er gar nicht aufhören, ein Hohelied zu singen. „Ich sage oft: mit Geschenken hält man ferne Freunde warm. … Man kann nicht einfach alles hergeben wie König Lear. Ich persönlich ziehe die Grenze beim Schwein.“ Das isst er am liebsten allein und selbst. „Auch der Soße sollte man Aufmerksamkeit widmen. Auf alle Fälle ein paar Brotkrumen, vermengt mit der Leber und dem Hirn, und eine kleine Priese des milden Salbei. Aber, liebe Frau Köchin, verbannet, ich flehe euch an, die ganze Zwiebelfamilie.“ Am Ende, gestehe ich, siegt in mir beim Lesen dann doch das Ur-Misstrauen in die englische Küche, die nur dort gut ist, wo diese Fish-an-Chips-Briten ihre Import-Inder, Import-Chinesen und sonstige Fachkräfte frei walten lassen. Fürs Braten erwachsener Schweine erlaubt Lamb sogar Knoblauch, den Ferkeln aber will er Schonung sichern. Lamb hat auch ein „Lob der Schornsteinfeger“ niedergeschrieben. Der kleinen Schornsteinfeger, nicht das der erwachsenen Meister. Es ist viel Liebe drin, viel Erinnerung an eigene Kindheit. „... in dem Grinsen eines richtigen kleinen Schornsteinfegers liegt niemals Bosheit“, das lässt er sich nicht ausreden.
„Ich habe eine fast weibliche Vorliebe für altes Porzellan.“ So beginnt „Altes Porzellan.“ Und jeder wird nachempfinden können, was gemeint ist mit: „Jetzt, wo du Geld im Überfluss hast, ist ein Kauf nur ein Kauf. Früher war es jedesmal ein Triumph.“ Lamb selbst hatte nie Geld im Überfluss, er verblieb im Status des Triumphierenkönnens. „Ich finde nichts dabei, wenn die Leute sich etwas Gutes antun, in diesem Sinne des Wortes. Vielleicht ist es ein Wink für sie, anderen auch etwas Gutes anzutun.“ In „Pensioniert“ schreibt er: „Ich habe dauern Ferien und so ist mir, als hätte ich keine.“ „Der Mensch ist, und das glaube ich wirklich und wahrhaftig, nicht in seinem Element, solange er geschäftig ist.“ „Ich gehe herum, nicht hin und zurück.“ Später nannte man einen solchen einen Flaneur. „Wenn es überhaupt eine königliche Einsamkeit gibt, dann im Krankenbett.“ Diese meinte Rilke in seinen „Briefen an einen jungen Dichter“ dann freilich kaum. Aber er kannte Lamb vermutlich gar nicht. „Kranksein heißt die Vorrechte eines Monarchen genießen.“ Vielleicht aber meint Lamb seine kranke Schwester, die so Monarchin gewesen wäre im Hause der Geschwister? Sie liebte Geschichten, er dafür nicht: „Ich mache mir nicht viel aus fortlaufenden Handlungen.“