Mór Jókai 200

Der Vorgang ist definitiv einmalig in der Geschichte der Literatur seit Homer. Ein Land schenkt einem Autor eine sage und schreibe hundert Bände umfassende Gesamtausgabe, zu der alle Verlage (fast alle, sollte man korrigieren), in denen der Autor je veröffentlichte, ihren Beitrag leisten. Der Anlass ist das fünfzigjährige Jubiläum des Mannes auf der öffentlichen Literaturbühne. Das Land heißt Ungarn, ist zu diesem Zeitpunkt noch Bestandteil der K.u.k.-Monarchie, der Mann heißt Mór Jókai, geboren am 18. Februar 1825, gestorben am 5. Mai 1904. Das Jubiläum fiel ins Jahr 1895, die hundert Bände erschienen von 1894 bis 1898 in Budapest. Eine weitere hundertbändige Ausgabe kam von 1925 bis 1930 heraus. Wer etwas über den meistgelesenen ungarischen Autor erfahren will, sollte das sechsbändige Literatur-Lexikon der Hamburger ZEIT sofort vergessen. Dort folgt im einschlägigen Band 2 auf den alten Nazi Hanns Johst der in Klagenfurth geborene Gert Jonke und das war es. Jókai war vermutlich nicht dissidentisch genug, hatte überlieferte Direktbeziehungen zu Kaiserin Elisabeth, die wir alle Sissy nennen dürfen und auch mit dem Kronprinzen Rudolf stand er in sehr engem Kontakt. Vielleicht aber hatten die Herausgeber des Lexikons schlicht und ergreifend auch gar keine Ahnung oder es ist die übliche Arroganz des weißen Westens gegen alles Östliche, um das sich allenfalls die Österreicher kümmern dürfen.

Mór Jókai, den die deutschsprachige Welt seiner Zeit Maurus Jokai nannte, man nahm es damals auch mit den Betonungszeichen nicht sonderlich ernst, überreichte tatsächlich unserer Sissy seine neuen Werke, wenn es irgend ging, persönlich und mit Widmung. Unsere Sissy, die ja auch Königin von Ungarn war, was manche vergessen, konnte die Präsente in der Originalsprache lesen, was sie wohltuend von allen heutigen deutschsprachigen Fernsehleuten unterscheidet, die auch nach dreißig und mehr Jahren immer noch nicht in der Lage sind, den Namen ungarischer Sportler, vor allem Fußballer, auszusprechen, wie sie eben auszusprechen sind. Während sie etwa gleichzeitig mit korkenzieherhaft verdrehter Zunge neu-ukrainische Namen vor sich hin brabbeln und einfach nicht mehr das, was wir alle kennen. Unsereiner hat vor Zeiten „Die Fahne von Kriwoi Rog“ nicht gelesen, weil Otto Gotsche ihr Autor war, ob ich die „Fahne von Krywyj Rih“ lesen wollen würde, will ich mich gar nicht erst fragen. Auch Robert Walser schrieb in seiner Berner Zeit über Maurus Jokai. Er schrieb mit dem ihm eigenen Spezial-Humor und nicht einmal die wirklich emsigen Herausgeber der zwanzigbändigen Walser-Ausgabe unterzogen sich der Mühe herauszufinden, von welchem Buch Jókais der Schweizer eigentlich schrieb. Auch mir gelang es nicht trotz vieler Tauchgänge im weltweiten Web, alle 200 Jókai-Bücher sind nirgends mit Personal verzeichnet.

„Ich schlürfte Maurus Jokai wie einen Teller Suppe. Er besitzt auch ein Pathos!“ So liest sich Robert Walser. „Die Fabrik heißt Jokai. Der Betrieb floriert flott. Dienstmädchen usw. werden mir zürnen, mich derart mit ihrem Lieblingsautor umspringen zu sehen.“ Und schon haben wir ihn ertappt, den Mann, der in Herisau sein Leben beendete. Jokai schrieb Literatur für Dienstmädchen! Das heißt im Umkehrschluss: Er schrieb nicht für Hungarologen, gar Finnougristen im Dienstgrad Professor Dr. mult., sondern für so genannte Leser. Er schrieb und schrieb und er wurde ununterbrochen gelesen. Noch in den sechziger Jahren, als Ungarn bereits auf dem besten Wege war, zur „schönsten Baracke des Sozialismus“ zu werden, ermittelten dort heimische Literatur-Soziologen, dass Jókai immer noch sowohl der Lieblingsautor der Arbeiter als auch der Liebling der Bauern und, was dem Fass die Krone ins Gesicht schlägt, der Lieblingsautor der Studenten war, bis zu denen sich unser Westmuff unter den Talaren noch nicht ausgebreitet hatte. Irgendwann nach 1965 war auch ich in Balatonfüred, was damals Arkadien hochwertig ersetzte. Es war ein Ausflug auf die andere Seite des Balaton, denn wir urlaubten stets da, wo das Wasser flach und der Strand sandig war und voller Schilf an vielen Stellen. Jókai hatte sein Haus nicht auf der Seite der Massen in Touristenform, die es damals ohnehin noch gar nicht gab. Ich schlief 1965 noch auf Stroh dort.

Heinz Knobloch war eher da, wenn ich auch durchaus die Chance gehabt hätte, eher als er dort zu sein. Und der Name Mór Jókai war mir durchaus vertraut, mir waren auch reihenweise andere ungarische Dichternamen vertraut, nicht unbedingt, weil ich sie gelesen hatte, aber weil ich eben auf Straßen in Budapest ging, die nach ihnen benannt waren, über Plätze, die nach ihnen benannt waren: ich wohnte in der Gyulai Pál ut, in der Brody Sándor ut, lief zum Vörösmarty tér, oder am Eötvös-Gymnasium vorbei. Im Bücherschrank meiner Eltern stand, der Schutzumschlag in den ungarischen Nationalfarben, von denen das Rot im Laufe der Jahre immer mehr verblasste, was man mit etwas schlechtem Willen auch symbolisch sehen kann, der Roman „Die Baradlays“. Innen bis heute ein Zettel, Stempel und Unterschrift von Weihnachten 1958: „Für gute Zusammenarbeit mit der Betriebsgewerkschaftsleitung der Gewerkschaft Unterricht und Erziehung“. Den BGL-Vorsitzenden, dessen Unterschrift darunter zu sehen ist, habe ich später noch selbst kennen gelernt. Das Buch ist im Paul List Verlag Leipzig 1958 erschienen, dieser Verlag brachte noch weitere Jókai-Titel, wenn auch nicht alle, die schon angekündigt waren. Heinz Knobloch also war in Balatonfüred und natürlich im Jókai-Haus. Wo ich dann 2024 nach dreiunddreißigjähriger Pause auch wieder einmal einen Ungarn-Aufenthalt absolvierte, den zwölften nach 1965 immerhin.

Knobloch schrieb, die Auslassungen zwischendurch sind von mir: „Der große Romanschriftsteller hatte ganz einfach Glück, genau das zu schreiben, was seine Zeit hören und haben wollte. … Man darf nur nie die anderen vergessen, die sich von der nachträglichen Ehrung kein Mittagessen mehr kaufen können … Man sollte sich freuen, wenn ein Dichterleben aus angenehmem Anlass ein ganzes Land offiziell beschäftigt und bewegt. … Jókai ist ein unerhört fleißiger und produktiver Mensch gewesen. Einmal hat er gesagt: „Wir sind immer zu zweit: Ich und mein Werk.“ … Heute würde er sich in eine ruhigere Ecke zurückziehen. Damals jedoch war es ein Paradies, in dem er mit seiner Frau Róza, einer gefeierten Schauspielerin, lebte und zufrieden war. … Den seltsamen Baum, der kastanienähnliche Früchte festhält und seinen lateinischen Namen verschweigt, hat er selber gepflanzt.“ Diesen Baum sah ich auch, bilde ich mir ein, habe ihn sogar fotografiert. Das Museum sollte man sich ansehen, wenn man in Balatonfüred ist. Wenn man dort weilt, ist es noch besser. Das „Jókai Mór Emlékház“ findet sich an der Kreuzung von Blaha Lujza ut, Honvéd ut und, natürlich, der Jókai Mór ut., es ist nicht immer offen, aber es ist sehr schön auch im Garten, wenn es offen ist. Man kann in Füred übrigens auch an Tibor Dery vorbeigehen, just 1894 geboren, als die erste große Jókai-Ausgabe zu erscheinen begann, oder an Rabindranath Tagore, 2024 in Astwerk verborgen.

Mein unverwüstliches „Handbuch der ungarischen Literatur“ aus dem Corvina Verlag, bei dem einst unser Freund Gyurka arbeitete, dessen Frau Márta die besten ungarischen Marillenknödel auftischte, als wir sie überraschend besuchten in der Rákóczi ut, verrät mir, dass Jókai neben allem, was er sonst schrieb, und das war nicht wenig, vier Sorten von Romanen verfasste, die anekdotischen, die heroischen, die Bekenntnisromane und die Abenteuerromane. Nach dieser sauberen Trennung verrät der Verfasser namens Béla G. Németh sogleich, dass alle Romanarten in reiner Form so gar nicht vorkommen, immer sind auch Elemente der anderen beigemengt. „Die Baradlays“ zum Beispiel kommen bei Németh weniger gut weg als etwa „Ein ungarischer Nabob“ oder „Der neue Gutsherr“ oder „Ein Goldmensch“. „Im Grunde war Jókai der geborene Optimist. Sobald die Wirren im Leben des Landes und in seinem Privatleben einigermaßen geglättet waren, beeilte er sich, seinen Optimismus wiederzufinden; nach tieferen Ursachen forschte er nicht.“ Zu den privaten Wirren gehörte seine sehr glückliche Ehe mit Róza Laborfalvi (8. April 1817 bis 20. November 1886). Die war nicht nur acht Jahre älter, sondern hatte auch eine zwölf Jahre alte uneheliche Tochter. Und diese Verbindung passte dem berühmtesten aller ungarischen Dichter, Sándor Petöfi, so wenig, dass seine nahe Freundschaft mit Jókai darüber einfach zerbrach.

Dessen Abneigung gegen die spätere Gattin Jókais ging so weit, dass er nicht einmal das Haus betrat, in dem sie wohnte, man kann das in einem Brief Petöfis vom 6. September 1848, wenn auch nur indirekt, nachlesen. „Jókai schrieb leicht, er hatte Freude am Schreiben, eigentlich war es seine ureigenste Daseinsform.“ So Németh. Außerdem: „Jókai ist der größte Prosaschriftsteller der ungarischen Romantik. Er hat mit seinen Büchern ein breites Leserpublikum im heutigen Sinn des Wortes geschaffen, für das er bis heute der beliebteste Autor geblieben ist. … Jókai war der geborene Journalist, aber nur ein gefühlsmäßiger Politiker, kein Mensch der Logik, der sachlichen Argumente und der intellektuellen Überzeugung.“ Dennoch saß er lange im Parlament als Mitglied der Regierungspartei. Mit seiner frühen Novelle „Die Nepean-Insel“ aus dem Jahr 1845 erregte er sensationelles Aufsehen, schrieb Endre Illés (4. Juni 1902 – 22. Juli 1986) und zitierte zum Beleg Kálmán Mikszáth (16. Januar 1847 – 28. Mai 1910): „Drei Wochen lang sprachen die Schriftsteller in Pest und die Literaturfreunde in den Herrenhäusern und Verwalterwohnungen in der Provinz nur von ihm.“ Erst von hier versteht man, was gemeint ist mit: er hat sein Publikum geschaffen. Es war zunächst nur eine sehr begrenzte ungarische Oberschicht. „Die Nepean-Insel“ heute lesen erfordert, dass man sehr tolerant gegen heftigste Zufälle und unbekümmerte Kolportage-Elemente sein muss.

Andererseits: der Mann war zwanzig Jahre alt 1845. „Jókais Zeit“, so Illés, „ist die bewegende Epoche der großen Erwartungen und der nicht durchgeführten Reformen in Ungarn.“ Jókai bekam übrigens für die Erzählung dreißig Forint ausgezahlt, damit war er unter den jungen Autoren der Hauptstadt „auch schon reich“. Gemessen am ersten DDR-Wechselkurs, den ich 1965 kennenlernte, waren das 7,50 Mark, aber diese Vergleiche hinken auf beiden Beinen. Ich bekam zwanzig Jahre später 90 Mark für 45 Druckzeilen von einer Zeitung mit Millionenauflage. Wenn ich noch 30 Pfennig drauflegte, war das eine Monatsmiete warm. Vom 7. August 1981 stammen, wie es heute aussieht, meine ersten und lange einzigen Jókai-Notizen, handschriftlich noch. Sie galten der leise gruseligen Erzählung „Begebenheiten in einem Schloss“, aufgenommen in die Anthologie „Der Teufel in Budapest und andere unheimliche Geschichten“, Berlin 1979, Übersetzung Hannelore Papay. In neuer Übersetzung von Vera Thies gab es die Begebenheiten auch in „Der unglückliche Wetterhahn“, Leipzig 1985. Ich weiß nicht, warum trotz Planwirtschaft aus dem nun wahrlich überreichen Werk Jókais nichts bis dato Unveröffentlichtes ausgewählt wurde. Immerhin war Vera Thies die Ungarisch-Expertin schlechthin in der DDR, etliche Anthologien gab sie heraus für verschiedene Verlage. „Der unglückliche Wetterhahn“ enthielt 17 Erzählungen in ihrer Fassung.

„Der unglückliche Wetterhahn“ selbst ist eine sehr kurze Geschichte. Man muss vielleicht ein gelernter DDR-Bürger sein zu ahnen, warum ausgerechnet sie den Titel für den 460-Seiten-Band liefern durfte. Es handelt sich um eine betont groteske Kurzfassung ungarisch-österreichischen Revolutionsgeschehens von 1848/49 aus der Perspektive eines Wiener Schmiedes und eines Pester Vizekerkermeisters. Der Schmied wird mehrfach wegen politischen Parolen für jeweils drei Monate eingesperrt und nach exakt drei Monaten wieder entlassen. Fast umgehend handelt er sich die nächste Strafe ein, weil die Parole, die er sich in der Haftzeit fest einprägte, inzwischen wieder die falsche ist. Diejenigen, die ihn bestrafen, wechseln einander ab, ein dicker Rothaariger und ein dünner Schwarzhaariger, nach der vierten Entlassung schweigt der Schmied. Da diese verrückte Geschichte dem Band den Titel liefert, darf man spekulieren, worauf das zielte innerhalb der DDR in ihren letzten Jahren. Denn dass eine Parole, die gestern richtig war, heute in den Knast führen konnte und eine, die gestern falsch war, heute für Orden und Ehrenzeichen hinreicht, das kannte man im real existierenden Sozialismus bestens. So war also für alle, die zwischen den Zeilen lasen, mitten im uralten Mór Jókai auf einmal systemkritische Aktualität zu finden. „Doch zum Trost soll gereichen, dass er nicht der einzige auf der Welt ist, der zur unpassenden Zeit gekräht hat.“ (1850)

Dass Jókai auch Sätze schrieb, die heute von jeder rot-grünen Kommission zu Reinerhaltung des veröffentlichten Gedankenguts einen Warnhinweis erhielten, sei nicht verschwiegen. „Lieber wollen wir alle, jung und alt, umkommen, als dass uns widerwärtiges, fremdes Volk kommandiert. Und ihr Frauen könnt euch dann mit den langnäsigen Feinden verheiraten!“ So steht es in „Und sie wurde doch keine Wohlgeborene!“, wo es um Eheanbahnungen zwischen Fleischermeisterkindern geht. „Meister János hatte zwar nicht Lavater gelesen, konnte aber mit seinem alten Spürsinn am Gesicht des Menschen sofort ablesen, dass dieser sich bestimmt den Kopf über einen konterrevolutionären Anschlag zerbrach.“ Das hätte heute beste Aussichten, als Racial Profiling verworfen zu werden, selbst wenn Meister János diese Fähigkeit tatsächlich gehabt hätte, was die erzählte Geschichte vom Wetterhahn aber verneint. Über Jókai erfahren wir nebenher, dass er nicht nur bei Victor Hugo, bei Eugen Sue, bei Alexandre Dumas lernte, sondern eben auch den Physiognomie-Lavater aus der Schweiz kannte, den unser Goethe besuchte. Entlassen wir ihn mit József Szauder: „Jókai war der beste Kenner des ungarischen Lebens. Er machte die launige, die Erscheinungen blitzartig beleuchtende, aber sich vor einer schonungslosen Enthüllung der Wirklichkeit stets verschließende Form der Anekdote zur eigentlichen Ausdrucksform seiner kritischen Anschauung.“ Schön so.


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