Jura Soyfer 100

Beginnen wie ein Nachwort: „Jura Soyfer wurde am 8. Dezember 1912  in Charkow geboren. Seine Eltern verließen Rußland nach der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution. Wien wurde Juras zweite Heimat.“ Alles klar? Wieso nennt der Verfasser des Nachwortes seinen Autor schon im zweiten Satz nur noch mit Vornamen? Fanden die Eltern die mit Großbuchstaben apostrophierte Revolution nicht ganz so toll, oder warum gingen sie? Später trat Jura – gegen den Willen seiner Eltern – dem „Bund sozialistischer Mittelschüler“ bei. Woher kam der Widerwille der Eltern? Der DDR-Leser dieses und vieler anderer Nachworte hatte seinerzeit das Nachsehen. Auch das Leseland DDR war ein vormundschaftlicher Staat. Deshalb passte es nicht ins Bild, dass Eltern ein Land verließen, welches doch das herrlichste aller Herrlichkeiten zu sein hatte, das „Vaterland der Arbeiter“. Das genau war das Problem. Das Vaterland der Arbeiter enteignete.

Dass enteignete Eltern nicht unbedingt begeistert sind, wenn ihre Söhne der Ideologie der Enteigner verfallen, darf keinesfalls als unverständlich angesehen werden. Dass Söhne gern ziemlich genau das Gegenteil von dem wollen und tun, was Väter und Eltern wollen, hat als Erkenntnis ebenfalls wenig Überraschungspotential. Die bittere Erkenntnis für Beteiligte und Unbeteiligte in diesem Fall lautet: Am Ende des kurzen Weges, der im Bund sozialistischer Mittelschüler begann, stand für Jura Soyfer erst das KZ Dachau, dann das KZ Buchenwald, dort der Typhustod am 16. Februar 1939. An diesem Tag, noch einmal das Nachwort zitiert, „verlosch sein junges Leben in der grausamen Hölle faschistischer Barbarei“. Es ist, wenn auch nicht ohne starken Widerwillen, darauf hinzuweisen, dass im Februar 1939 die grausame Hölle immerhin noch die Urne mit der Asche Soyfers in die Vereinigten Staaten überstellte, wohin die Familie emigriert war. Und im KZ Dachau soll Soyfer am Aufbau eines Lager-Kabaretts befehlsgemäß beteiligt gewesen sein.

Das Bild, in welches Fakten nicht passen, wird selten von denen mit der Macht über Bilder präzise genug definiert, dass man den Fehlstellen Verständnis entgegen bringen könnte. Denn ein KZ-System verliert nicht an Unmenschlichkeit, wenn es Urnen verschickt oder Schutzhäftlingen Formen von Freizeitunterhaltung zubilligt. Auch wird keine Hölle höllischer dadurch, dass man sie grausam nennt. Wer seit Kindesbeinen mit biographischen Sätzen leben durfte, die da lauteten, dass dieser oder jene grausam ermordet wurden, wenn Hinrichtungen gemeint waren, der zweifelt schnell an bestimmten reflexhaften Verurteilungsformeln, die eher gegenteilige Wirkungen erzielen als die möglicherweise beabsichtigten. Als Jura Soyfer an Typhus starb, war sogar seine Entlassung bereits geklärt, internationale Proteste sollen ihr Teil beigetragen haben.

Der Tod in Buchenwald, ein letztes Unbehagen muss formuliert werden, ist alles, was sich bei Jura Soyfer an Thüringen-Bezug herstellen lässt. Das ist für die, die seiner um seines an jeder Vollendung gehinderten Werkes und seiner Persönlichkeit willen gedenken wollen, kein Thema. Medial ist es insofern eins, weil ohne diesen Bezug in einer immer konsequenterer Regionalisierung zustrebenden Printmedien-Landschaft alles nicht einmal eine Nachricht wert wäre, während fünftklassige Bücher im Eigenverlag breite Erwähnung finden. Wir wollen alle froh sein, dass Thüringen in Deutschland so zentral liegt, dass viele ohne jeden sonstigen Bezug wenigstens einmal durchgefahren sind, was ihnen Erwähnungsreife sichert wie eben, makaber genug, auch der Tod in einem Thüringer Konzentrationslager in der Frühphase von dessen Existenz.

Dietmar Grieser hat in einem seiner vielen lesenswerten, weil faktensatten Bücher hohen Recherchenaufwands über Tamara Hutton geschrieben, die Schwester Soyfers, die in New York in verschiedenen Etagen eines Hauses mit einer Freundin Soyfers noch lebte, als Jura schon lange tot war. Tamara Hutton wurde plötzliche Rechteinhaberin, Einnahmen von 3000 Dollar jährlich besserten ihre wenig üppigen Bezüge auf, das Fünffache sackt ein SPD-Kanzler-Kandidat heute an einem Abend ein von dem, was ein KZ-Opfer dank seines Werkes an Tantiemen den Erben hinterlässt in einem kompletten Jahr. Bei Grieser steht als Todesdatum der 15. Februar, er vermerkt auch das Urteil Hans Weigels, Soyfer sei einfach genial gewesen. Und bekennt, den Ort nicht zu wissen, da die Urne mit Soyfers Asche ihre letzte Ruhe fand im riesigen New York. Es gebe in Wien nun eine Jura-Soyfer-Straße, erfährt der Leser, dem DDR-Leser suggerierte man nahezu zeitgleich, niemand wolle wirklich mit dem Erbe des Kommunisten Soyfer zu tun haben in der zweiten österreichischen Republik. Bis auf die Ausnahmen halt, die dann besondere Würdigung erfuhren, Helmut Qualtinger an exponierter Stelle. Gärtnergasse 10, das Haus, in dem die Soyfers wohnten in ihrer Wiener Zeit, steht noch. Man kann hingehen, meint Dietmar Grieser damit.

Nun endlich „Vineta“. Wir alle haben von der Stadt gehört und den Glocken unter Wasser. Der enttäuschte Sozialdemokrat Jura Soyfer, der zur KPÖ konvertierte, soll in diesem „Mittelstück“ Wien 1937 dargestellt haben in einer Sprache, die unter Zensurbedingungen möglich war. Mittelstücke waren etwas wie Einakter, die in der Mitte von Programmen auf kleinen Kellerbühnen gespielt wurden, die mit genau 49 Sitzplätzen ausgerüstet waren. Ab 50 griff die Zensur und wir haben ein weiteres Beispiel, wie leicht immer wieder Zensur zu umgehen war in finsteren Jahren. Zu Marxens Zeiten druckte man 21 Bogen statt der noch der Zensur unterliegenden 20 und schon ging es, zu Plechanows Zeiten wählte man einen anderen Titel und ein Pseudonym für den Autor und schon ging es. Soyfer soll unter denen, die Mittelstücke schrieben, der stärkste gewesen sein, An Nestroy geschult, auch an Karl Kraus. Verwandtschaften mit Horvath werden ihm ebenfalls nachgesagt.

„Vineta“ ist die Geschichte von Jonny, dem alten Matrosen, der Geschichten erzählt in seiner Spelunke, die niemand mehr hören will, weil er sie immer wieder erzählt. Nur die Prostituierte Kathrin tut so, als hörte sie alles gern. Jonny erzählt von einem Tauchgang, bei dem er das Bewusstsein verlor. Es ist wie in „Frau Holle“, wo am Grund des Brunnens nicht nur die Spindel ruht, sondern ein ganzes Land sich breitet. Vineta freilich ist nicht das Land, in dem die Backöfen und die Apfelbäume reden, wenn Goldmarie vorbeikommt. Vineta ist die versunkene Stadt am Meeresgrund nach einer Sturzflut. Genauer nach einem Ereignis, das mit der Bezeichnung Sturzflut dem Fassungsvermögen von Menschen passender gemacht wurde. Die Vineter reden seltsam, handeln seltsam, sie haben ihr Verhältnis zur Zeit verloren, gestern ist morgen und morgen ist vorgestern. Sie haben das ewige Leben, obwohl sie tot sind, ohne es wahrzuhaben und wissen zu wollen. Sie heiraten, sie verabreden Geschäfte. Der einzige, der bei ihnen altert, ist Jonny, der Taucher. Jura Soyfer hat Dialoge geschrieben, die Becketts Endspielen entnommen sein könnten.

Ein Schreiber im Stück ist Verfasser eines Buches mit dem Titel „Das Vergessen als Denkprinzip reifer Kulturvölker“. Die Sätze dieses Buches sind so geschrieben, dass man in der zweiten Satzhälfte die erste schon vergessen hat. Jonny wird selbst Senator, heiratet eine Senatorentochter namens Lilie, die keine Vorstellung davon hat, was eheliche Pflichten sind. Drei lange Jahre in Menschenzeit legt Jonny jeden Tag einen Grundstein, ohne dass je gebaut wird. Jochanaan Christoph Trilse nannte in einem Aufsatz, den er heute mit Sicherheit ganz anders schreiben würde, „Vineta“ ein „Gleichnis schlechthin“. „Fast könnte man von einer Vorwegnahme eines Theaters des Absurden sprechen, von einem Theater allerdings, das absurde Zustände vorführt...“. Trilse zitiert Jonnys Rede aus dem elften und letzten Bild: „Da müßten wir doch alle unsere ganze Kraft dransetzen, wir alle und sofort, daß die Sturzflut nicht kommt, und dann wär's doch sehr eilig, denn man könnte ja auch nicht wissen, wann // sie kommt. Ob sie nicht vielleicht schon ganz nahe ist...“

Schwer zu sagen, ob Jura Soyfer Sturzfluten für mit Menschenkraft verhinderbare Katastrophen hielt oder ihm nur die Metaphorik aus dem Ruder lief. Schwer zu sagen, ob heutige Sozialdemokraten Interesse entwickeln können an einem Romanfragment mit dem Titel „So starb eine Partei“, weil ihre Partei gemeint ist. Oder ob sie der Gedanke tröstet, dass Soyfers Alternative ja keineswegs mehr Lebenskraft bewies in den folgenden Jahrzehnten. Soyfer-Lektüre ist der einfachste Weg, um zu erfahren, was da lebendig ist, was nicht. „Vineta“ jedenfalls endet eine deutliche Spur zu profan mit Jonnys Erwachen aus der Bewusstlosigkeit.


Joomla 2.5 Templates von SiteGround