Günter Blöcker und Kleists "Findling"
Wer auch immer sich mit eigenem Ehrgeiz Heinrich von Kleist zu nähern sucht, stößt über kurz oder lang auch auf Günter Blöckers „Heinrich von Kleist oder Das absolute Ich“. Zuerst 1960 im Argon Verlag Berlin erschienen, dann aus Anlass des zweihundertsten Geburtstages von Kleist unverändert für breitere Leserkreise als Fischer-Taschenbuch Nummer 1954 neu aufgelegt. Friedrich Sieburg hat, um gerade ihn absichtsvoll zu zitieren, unter der Überschrift „Kleists neuer Standort“ am 11. März 1961 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Blöckers Buch „mehr als vortrefflich“ genannt, es sei „einmalig und eröffnet neue Hoffnungen für die Literaturgeschichte.“ Sieburg schloss seine teilweise höchst nebulöse Darstellung ganz sicher auch pro domo: „... ist alles auf den engsten Raum gedrängt, klar, phrasenlos, ein Triumph der Kritik, ein neuer Zugang zu halbverschütteten literaturwissenschaftlichen Methoden und ein großartiges Beispiel dafür, daß im Bereich der Literatur die Kritik den eigentlichen allmächtigen Schlüssel für die Rätsel der Dichtung und des Lebens liefert.“
Was ich anno 2007, als mir diese Kritik zuerst unter die Finger kam, als Notiz am Ende des Textes festhielt, ist leider so ehrabschneidend, dass ich es nicht zitieren kann. Es bezieht sich allerdings auch nicht auf jene Sätze, die Blöcker direkt betreffen. Die finale Allmachtsphantasie des Kritikers will mir ebenfalls wenig schmecken, die Verlockung, sich von ihr mitgemeint zu fühlen, ist kaum spürbar. Auch müsste ich auf der Analytiker-Couch eingestehen, dass in den untersten Schichten meines Sieburg-Bildes der Umstand starr verankert ist, dass er es war, dem Joseph Roth letztlich den Verlust seines geliebten Korrespondentenjobs in Paris verdankt, Grund genug für jeden allzu menschliches Liebesentzug, dessen ich fähig bin. Das Absichtsvolle meines Zitates aber erhellt aus einem anderen Zitat. „Günter Blöcker war ein bedeutender Mann, der – neben Friedrich Sieburg – wirksamste Literaturkritiker der frühen Bundesrepublik, Zeuge ihres rasanten Aufstiegs um 1960. Wie Sieburg gehörte er nicht in den Kreis der Gruppe 47, war allerdings auch kein so liebevoll gepflegter Feind wie sein flamboyanter Kollege.“
Das schrieb in seinem verspäteten Nachruf auf Blöcker in der Süddeutschen Zeitung vom 28. Juli 2007 Gustav Seibt, dem die öffentliche Liebe seiner Kollegen auch nicht eben in Kompaniestärke hinterherläuft. Blöckers Kleist-Buch lässt Seibt unerwähnt. Und folglich auch die prägnant-knappe Darlegung zu der nicht nur von Thomas Mann höchst geschätzten Novelle „Der Findling“. Kleist hat sich zum Bau dieser Novelle mit beiden Händen in der italienischen Renaissance bedient. Wie hier alleweil der Hausherr allein, der Hausherr und die Hausherrin gemeinsam außer Haus sind, und damit dem Schelm und Ganoven der Story Gelegenheit geben, seine Untaten auszuführen, kennt man aus unzähligen Renaissance-Geschichten zur Genüge. Alles verwirrt sich, denn anders als in den italienischen Vorbildnovellen werden hier mehrere mögliche Geschichten in eine gezogen. Kleists Händler Antonio Piachi verlässt nicht nur, wie in allen Vorbildnovellen üblich, sein Haus, sondern er kehrt auch ebenso oft unverhofft zurück. Es ist nicht irgendeiner von außen, dem er schließlich, wie es so drastisch bei Kleist formuliert wird, das Hirn an der Wand eindrückt. Es ist der Findling Nicolo, aus dem pestverseuchten Ragusa nach Rom mitgebracht und im eigenen Hause an Sohnes statt aufgezogen.
„Der Findling“ ist eine perfekte Diablerie, wie es sie sonst in Kleists Werk nicht gibt. Diese Erzählung ist ein Rätsel mehr innerhalb des großen Rätsels seiner Dichtung.“ Schreibt Blöcker. Und: „Der Findling“ ist die Geschichte des grundlos Bösen. ... Das Erschreckendste aber ist – und das macht diese Erzählung in unserem Zusammenhang so bedeutsam - , daß das Böse mit der Gebärde der Unschuld in die Welt tritt: sie kann es nicht erkennen, der Mensch ist hilflos preisgegeben.“ Man mochte 1960 und mag heute vielleicht sogar noch mehr meinen, solche Sätze mit „DER Mensch“ röchen nicht nur zu sehr nach allen Philosophien, die der Unveränderlichkeit einer humanen Kernsubstanz weit über jeden Kern hinaus anhängen, sondern schlössen auch stets vorauseilende Kapitulation vor DEM Bösen in sich. Ich neige in diese Denkrichtung. Weil mir Anthropologie ohne Soziologie immer ignorant wirkt. Man braucht gar keinen ideologischen Unterstellungsansatz, das für substantiell zweifelhaft zu halten. Kleist selbst aber ist mit solchen Begrifflichkeiten sicher besser charakterisiert als mit allen vulgärmaterialistischen Klassenstrukturtheorien, die ihm bisher jedenfalls nie auch nur annähernd gerecht wurden.
„Ein Karussell des Bösen, das, durch eine Guttat in Gang gesetzt, in mörderischer Fahrt rotiert und selbst mit dem Tode der Insassen noch nicht zum Stehen kommt.“ Allenfalls Kleist selbst hat dem Rache-Furor seines Händlers Piachi, der unversöhnt in die Hölle zu seinem Opfer will, um dort eben die unvollendete Rache zu vollenden, vergleichbare Beispiele an die Seite gestellt, die jedoch, wie seine Penthesilea, sich diesem Vergleich auch wieder verweigern. Grimmige Virtuosität, wüste Ironie bescheinigt Blöcker Kleist. Das mag jene häufig wiederkehrenden Ohnmachten grundieren, die auch im „Findling“ nicht fehlen. Blöcker thematisiert sie hier nicht. Gerade sie, als traditionell weibliche Verhaltensweisen von Kleist immer wieder Männern zugeordnet, erzeugen ein spezielles Licht, das eher den Autor als seine Figuren charakterisiert. Blöcker sprach vom unterirdischen Mitführen im Strom der Erzählung mit schließlichen Aufstiegen zur Oberfläche. Vom Ähnlichkeitszauber bei Kleist, der eben nicht nur im „Findling“ vorkommt. „Liebe ist bei Kleist nicht nur dem Tode eng benachbart, sondern auch dem Töten und Getötetwerden.“
Günter Blöcker wurde am 13. Mai 1913 in Hamburg geboren. Dass er am 21. Januar 2006 in gesegnetem Alter starb, erfuhr die deutsche Öffentlichkeit erst sehr viel später. Denn nicht nur seine Bücher, genannt seien vor allem „Die neuen Wirklichkeiten“ (1957 und später) sowie „Literatur als Teilhabe“ (1966) sichern ihm einen Platz in der neueren deutschen Literaturgeschichte, sondern ebenso die Umstände seines Verstummens. Seit seinem anlässlich des 70. Geburtstages 1983 verkündeten freiwilligen Rückzug vom Amt des Kritikers hat er nie wieder eine Zeile drucken lassen, er geriet nur zu folgerichtig in Vergessenheit. Und das so sehr, dass er schon anderthalb Jahre tot war, ehe der verspätete Nachruf von Gustav Seibt erschien. Und dieser Nachruf enthüllt eben auch die durchaus peinliche Tatsache, dass nicht einmal die Akademie, der Blöcker angehörte und die ihm 1964 den Johann-Heinrich-Merck-Preis verlieh, vom Tod ihres Mitglieds wusste. Der WIKIPEDIA-Eintrag zu Blöcker, ohnehin dürftig wie kaum einer, wies noch am 9. Mai, also vier Tage vor dem hundertsten Geburtstag heute, eine letzte Aktualisierung vom 7. September 2012 aus.
Ich mag es nicht gleich Abtragen von Ehrenschuld nennen, wenn ich einen Satz Blöckers aus dem Jahr 1960 auf ihn selbst und sein Nachleben beziehe: „Man tut gut, wenig zu erwarten, aber bereit zu sein für jeden Glücksfall.“ Mir, und nur von mir will ich reden, ist Blöcker in vielem ein Wahlverwandter. Da schrieb er im Oktober 1962: „Zunächst einmal möchte ich mich darüber wundern dürfen, wie wenig heute in Deutschland dazu gehört, irgend jemandes Gegner zu sein oder doch dafür zu gelten.“ Ihm ging es damals um seine von anderen behauptete Gegnerschaft zur Gruppe 47. Alles, was jetzt im Brustton aller Fahrradneuerfinder über diese Gruppe 47 aus Anlass zweier neuer Veröffentlichungen gesagt und geschrieben wird, steht in substantiellen Bestandteilen in Blöckers ZEIT-Artikel ja schon drin. Wir könnten an diesen beispielhaften Fall den zugegeben etwas großspurigen Versuch binden, über Konservatismus zu reden. Der wäre nicht zuerst eine politische, schon gar nicht eine parteipolitische Angelegenheit, sondern Ausdrucksweise der Ehrfurcht vor und des Ehrens von bereits Gedachtem, Geschriebenem und Getanem. Seine Gegner und Feinde wären die Lanzenträger der Geschichtslosigkeit, die Schildknappen der Bildungsfeindlichkeit, oder, um das Militärhistorische aus der Bildlichkeit zu nehmen, die Vollzugstrottel der immer währenden Avantgarde.
Um ein letztes Mal noch Gustav Seibt zu zitieren, aus dem Blöcker-Nachruf: „Große Diagnostiker der Moderne waren gerade nicht ihre Parteigänger und Wortführer, sondern gebildete, traditionsbewusste, teilweise reaktionäre Beobachter...“ Das liest sich wie die mit 45 Jahren Verspätung nachgereichte Beinahe-Twitter-Fassung des 62er Bildes der Gruppe 47. Damals schrieb Blöcker: „Bei uns muß es immer eine Instanz geben, die etwas dekretiert. Auch literarische Qualität, auch literarischer Erfolg sollen in unserer autoritätssüchtigen Welt am liebsten auf dem Verordnungswege verabfolgt werden.“ Und: „Der Anblick von Schriftstellern, die das Bedürfnis haben, sich am Rücken des anderen zu stärken, stimmt mich traurig. Ich sehe auch hierin, in dieser Schwäche, sich nur im Haufen groß zu fühlen, eine deutsche Eigenschaft, die mich abstößt.“ Und: „Dieser Stolz: Ich gehöre dazu, dieser wahrhaft beängstigende Zug zum Kollektiven, dieser kindliche Triumph: Ich werde werde eingeladen, und diese umwerfende Psychologie: Du wirst nicht eingeladen...“ Ich will mir nicht verkneifen, das Grundmuster vieler der weit über 300 deutschen Literaturzeitschriften in eben dieser Psychologie zu erkennen: Einige werden eingeladen.
Als Stephan Speicher 1998 Günther Blöcker in der Berliner Zeitung zum 85. Geburtstag gratulierte, zitierte er, ohne die Quelle zu nennen, aus dem von mir eben benutzten ZEIT-Beitrag. Wie ihm dennoch der Satz „Über den Literaturbetrieb hat er nie gesprochen“ in die Tastatur rutschen konnte, ist mir rätselhaft. Bleibt zu wünschen, dass der heutige hundertste Geburtstag etwas ist, das wenigstens da und dort ein kleines Gespräch auslöst. Blöckers wenige Bücher sind in den Antiquariatsportalen leicht zu finden. Der Mangel an Neuausgaben muss also keine Ausrede sein für das Fortführen des Vergessens mit gleichen Mitteln.