Marcel Reich-Ranicki und Anna Seghers
Als Anna Seghers am 1. Juni 1983 starb, stand Marcel Reich-Ranickis 63. Geburtstag unmittelbar bevor. Dreißig Jahre später ist es reizvoll, einige Blicke auf eine Beziehung zu werfen, die natürlich für den Kritiker deutlich wichtiger war, als sie für die Autorin je werden konnte. Und es wird sehr schnell klar, warum der eine auf die andere immer wieder zurückkam. Warum es kaum eines der vielen Bücher des gern Literaturpapst genannten Mannes mit dem bekannt hohen, für viele berühmt-berüchtigten Unterhaltungswert gibt, in dem der Name Anna Seghers nicht wenigstens beiläufig Erwähnung findet. Vieles von dem, was Reich-Ranicki in Interviews wiederholt sagte, in seiner Autobiographie bezüglich Seghers darstellte, hat sich ihm offenbar so fest eingeprägt, so intensiv innerlich ausformuliert, dass es einem sofort bekannt vorkommt, wenn man es an anderer Stelle in anderem Zusammenhang wiederfindet.
Es wäre denkbar, dass sich der 1920 Geborene über die 1900 Geborene jeweils selbst zitiert, Übereinstimmungen sprechen dafür. Doch hätte ein solcher Nachweis wenig Aussagewert, denn warum sollte eine einmal gefundene prägnante Formulierung nur deshalb durch eine Paraphrase ersetzt werden, um dem denkbaren Vorwurf von Denkfaulheit oder Einfallslosigkeit zu begegnen? Wenn sich also seit der fast dreißig Druckseiten umfassenden Seghers-Darstellung in Reich-Ranickis „Deutsche Literatur in Ost und West“ (Erstausgabe 1963, als Taschenbuch bei dtv München, zuvor 1959 als Serie in der „Welt“) bestimmte Aussagen immer wieder finden lassen, bestimmte Blickwinkel erneut zitiert werden, dann besagt das auch, dass der Autor sich seiner Sache zeitig auffällig sicher war. Und die leider wie üblich im tiefen öffentlich-rechtlichen Nachtprogramm dieser Tage wiederholte Gesprächssendung mit Peter Voß bestätigte den Eindruck erneut. (Man kann das Gespräch über Anna Seghers gemeinsam mit den anderen, die der Fernsehmann Voß mit dem telegensten Kritiker Deutschlands führte, seit mittlerweile zehn Jahren auch als List-Taschenbuch nachlesen, Titel „Lauter schwierige Patienten“)
Das Gespräch zeigt Reich-Ranicki in Bestform, man sieht den fuchtelnden Finger buchstäblich sogar beim Lesen, man hört die Pointen, man ahnt die diebische Freude an jeder Provokation. „Sie war eine sehr schöne Frau.“, sagt er über Anna Seghers und gleich im nächsten Satz: „Schönheit stört nicht – wenn Autorinnen hübsch sind, ist ihre Laufbahn oft etwas leichter.“ Und damit auch noch der letzte Zuschauer die nachfolgende Boshaftigkeit nicht überhört, kündigt er sie an: „Frauen können in deutscher Sprache keine bedeutenden Romane schreiben. Es gibt keine einzige.“ Durch einen Einwand von Peter Voß lässt er sich nicht beirren, er wiederholt: „Frauen können bis heute keine Romane in deutscher Sprache schreiben.“ Man muss die Aussage nicht umgehend in die Schublade des männlichen Chauvinismus schieben, sollte beim Aufzählen möglicher Gegenbeweise allerdings davon ausgehen, dass der Kritiker die langen Reihen von Frauen geschriebener Romane, die Jahr für Jahr und scheinbar sogar zunehmend gerade die Bestsellerlisten füllen, gar nicht in Erwähnung ziehen kann, weil er sie der Literatur nicht zurechnet, die er meint.
Mit den bei jeder Gelegenheit zu „Das siebte Kreuz“ und auch zu „Transit“ geäußerten Ansichten widerlegt er sich teilweise selbst und hat vermutlich sogar daran seinen kleinen diebischen Spaß. Und gerade mit dem „Siebten Kreuz“ hat es bei Reich-Ranicki eine besondere Bewandtnis. Mehrfach hat er berichtet, dass dieser Roman es war, den seine Frau Tosia ihm ins Gefängnis bringen durfte, als er 1948, aus London zurückgekommen, in Warschau inhaftiert wurde. Dass dieser Roman es war, der nach der politischen Tätigkeit zuvor seine Absicht weckte, sich nunmehr beruflich der Literatur zuzuwenden. Kritiker wollte er, auch das hat er mehrfach erzählt, schon sehr früh werden, jedoch eigentlich Theaterkritiker und er hat später auch etliche Theaterkritiken geschrieben, die, soweit ich sehe, als einzige noch nicht in einem speziellen Sammelband vereint wurden. Und es gibt inzwischen eine solide Regalreihe von Bänden von ihm. Noch in Polen entstand der Plan, ein Buch über die Seghers zu schreiben, das jedoch nicht entstand. Dafür traf er sie 1952 in Warschau, sprach lange mit ihr, mal klingt es in der Erinnerung, als wären es mehrere Gespräche gewesen, mal nur eines von reichlich zwei Stunden.
Damals, eine weitere notorische Episode, habe ihm Anna Seghers seine Euphorie über „Das siebte Kreuz“ nehmen wollen, in dem sie ihn auf den Einfluss von Alessandro Manzoni hinwies und dessen umfangreichen Roman „Die Verlobten“, den Reich-Ranicki nicht kannte, aber in der folgenden Woche fast beflissen sofort las. Sein Fazit nach der Lektüre: Außer Anna Seghers wird keinem Menschen dieser Einfluss auffallen. Und sofort kommt er nach dieser Diagnose auf eine allgemeine Aussage, die ihm so viel Spaß macht, dass er sie gewissermaßen in sein Repertoire aufnimmt: „Was habe ich aus dem Gespräch mit Anna Seghers gelernt? Daß die meisten Schriftsteller von der Literatur nicht mehr verstehen als die Vögel von der Ornithologie. Und daß sie am wenigsten ihre eigenen Werke zu beurteilen imstande sind.“ (Zitat aus: „Mein Leben“) Die Folgerung daraus ist für ihn unabweisbar: „Der Kritiker soll prüfen - so gründlich und so sorgfältig wie möglich -, was der Autor geschrieben hat. Was der Autor sonst über sein Werk zu sagen hat, sollten wir nicht ignorieren, indes auch nicht sonderlich ernst nehmen.“ Wir ahnen, wie viel Marcel Reich-Ranicki von den unendlich vielen Monographien über Autoren hält, die fast ihren gesamten Honig aus Selbstaussagen von Autoren saugen.
So unbeirrt der Kritiker an seiner Hochschätzung der beiden genannten Romane festhält, so energisch er neben „Der Ausflug der toten Mädchen“ auch andere kleinere Arbeiten der Seghers lobt, für ihr in der DDR nach der Heimkehr 1947 entstandenes Werk hat er bisweilen, vor allem für die Romane, die schärfsten Verrisse parat. So ist es nur folgerichtig, dass in der Sammlung „Lauter Verrisse“ seine Attacke gegen den Roman „Das Vertrauen“ enthalten ist, während in „Lauter Lobreden“ kein Seghers-Buch vertreten ist. In „Nachprüfung. Aufsätze über deutsche Schriftsteller von gestern“ hat er sich rückblickend dem „Aufstand der Fischer von St. Barbara“ zugewandt und dort in fünf Sätzen die Keimzelle aller späteren ideellen und künstlerischen Motive des Gesamtwerks erblickt. In „Ohne Rabatt. Über Literatur aus der DDR“, vereinte er gleich vier Einzelbeiträge über die Seghers, der vierte nimmt schon Walter Janka und sein „Schwierigkeiten mit der Wahrheit“ auf, das für eine Weile den Ruf der großen Autorin Anna Seghers nachhaltig und irreversibel zu schädigen schien. Ich werde im kommenden Jahr den 100. Geburtstag von Janka zum Anlass nehmen, das vermeintliche Skandalon von 1989/90 aus dem Abstand der Jahre noch einmal in Augenschein zu nehmen.
Vorweggenommen aber sei hier, weil es um Reich-Ranicki geht, seine Sicht auf dieses Geschehen. Auch Peter Voß kam natürlich im Gespräch darauf zurück. Die Antwort soll hier komplett zitiert werden: „... es wurde schon gefragt, ob man denn „Das siebte Kreuz“ in der Schule noch lesen soll. Ich kann hierzu nur eines sagen: Ich bin nicht der moralische Richter der Anna Seghers. Ich denke nicht daran, Urteile über ihr Verhalten zu fällen. Meine Aufgabe ist eine literaturkritische. Der Text von „Das siebte Kreuz“, von „Der Ausflug der toten Mädchen“, von „Transit“ hat sich durch ihr Verhalten in der DDR nicht geändert. Er waren hervorragende Texte, und sie sind hervorragend geblieben. Und die Frage, ob man weiter „Das siebte Kreuz“ lesen soll, ist absurd.“ Diese prägnanten Sätze belegen nebenher auch die durchschlagende Wirkungslosigkeit der Klassiker am Beispiel des klassischen Kritikers. Denn die deutsche Öffentlichkeit kennt bei passender Gelegenheit kein schönes Gesellschaftsspiel als das des moralischen Richtens. Eine Öffentlichkeit, die so tut, als hätte sich ein jeglicher zu entschuldigen, weil er kein Held war oder ist, ist in einem Grad verlogen und bigott, dass es nur ausgemachte Holzköpfe verstehen und goutieren.
Als Jude hat Marcel-Reich-Ranicki immer wieder und immer wieder beredt auf die jüdische Herkunft der Anna Seghers verwiesen. Er hat mit dem Finger auf den Umstand gezeigt, dass in der DDR sogar der prägnante Titel ihrer Dissertation aus dem Jahr 1925 längere Zeit verschwiegen wurde. Letztlich hat erst die späte Reclam-Ausgabe von „Jude und Judentum im Werke Rembrandts“ (1981 wohl noch im Umfeld des 80. Geburtstages der Autorin erschienen) den Mangel beseitigt. Ihm verdanken wir auch Hinweise auf andere unterdrückte oder in Ausgaben nicht aufgenommene Texte. Noch in Warschau erlebte er, wie ihm bedeutet wurde, eine polnische Übersetzung zu bremsen, weil Textänderungen zu erwarten seien. Er hat im Zusammenhang mit ihrer nur außen stehenden Dummköpfen unverständlichen Angst argumentiert. Eine Angst, die mit ihren Unfall zu tun hat, der ihr früh das bekannte weiße Haar bescherte. Ein Unfall, der die Gelegenheit zu den schönsten Verschwörungstheorien liefert. Als ich 1987 den jetzt in ALTE SACHEN neu veröffentlichten Text vorbereitete, ahnte ich vieles, an Belegen mangelte es, nicht aber am Wissen, dass das Gisela Herrmann unterstellte Feuilleton der Berliner Zeitung mir keine Spielwiese für Glasnost geboten hätte, selbst wenn ich Vermutungen ausformuliert hätte.
Mehrfach hat Reich-Ranicki darauf bestanden, dass seiner Meinung nach das methodische Denken nicht zu den Stärken der Anna Seghers gehörte, er hat die ihre bevorzugten Helden beschrieben als eher fühlende als denkende Menschen, als Menschen, die eher glauben als wissen und durchschauen. Dass man dies an ihren Aufsätzen ablesen könne, hat er früh geschrieben und es ist bis heute leicht nachprüfbar. Im Gespräch mit dem wunderbaren Schweizer Germanisten Peter von Matt (im Ammann-Verlag unter dem Titel „Der doppelte Boden“ erschienen) hört sich die These knapp so an: „Aber das methodische, das systematische Denken war ihre Sache nicht.“ In diesem Gespräch wandte sich Reich-Ranicki auch scharf gegen feministische Aussagen der Zeit: „Daß schreibende Frauen, weil sie eben Frauen waren, im 20. Jahrhundert unterschätzt wurden, ist Unsinn.“ Gleich nach Ricarda Huch und vor Else Lasker-Schüler, Nelly Sachs und Marie Luise Kaschnitz nannte er zum Beleg Anna Seghers. Man muss ihm darin nicht folgen. Man muss aber sehen, dass ihm hier wie in etlichen anderen Zusammenhängen Anna Seghers immer als Beispiel, als Vergleichs- oder Bezugsgröße parat war.
Seit der Kritiker mit fortschreitendem Alter sein öffentliches Wirken zunehmend auf das Beantworten von Leserfragen in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung beschränkt, die Antworten werden, bei einem seit heute 93-jährigen mehr als verständlich, immer kürzer, bisweilen mürrischer, ist er auch auch immer wieder auf seine alte Bezugsperson Anna Seghers zurückgekommen. Und manchmal, wenn der Name nur noch in Aufzählungen erscheint, verblüfft eine These wie diese: „In der Regel ist in totalitären Staaten die Lyrik interessanter als die Epik.“ Beim Tode von Sarah Kirsch erdreistete sich kürzlich eine Posting-Autorin bei ZEIT online, die Frage aufzuwerfen, ob man denn in der DDR überhaupt Gedichte schreiben konnte. Wir ahnen, in welchem Meer von Blödheit einer wie Reich-Ranicki auch im alten Westen zu leben hatte und hat. Und halten mit kaum getrübter Freude fest, wenn er ganz einfach schreibt: „Ich habe Anna Seghers allerlei zu verdanken.“, nachzulesen in „Für alle Fragen offen. Antworten zur Weltliteratur“ (Deutsche Verlags-Anstalt).