Bodo Uhse, ach ja, den gab es

Meine unbedachte Idee, aus Zeitgründen und mit Rücksicht auf andere Themen zwei, drei einzelne Erzählungen Uhses herauszugreifen, um seinen heutigen fünfzigsten Todestag eben nicht nur summarisch und somit floskelbedroht zum Schreibanlass zu machen, ist schon im Ansatz bedroht. Wie immer ich es hätte anstellen wollen, es bliebe die Tatsache, dass ich eines Autors gedenke, dessen Erzählprosa ich letztlich kritisiere. Was bliebe dabei, als die Frage, warum ich ihn nicht gleich in jener Vergessenheit belasse, in der er sich, scheint es, dann doch keinesfalls zu Unrecht befindet? Das Gegenargument ist mir wichtig: Bodo Uhse ist ein Repräsentant, als solcher beinahe zeitlos von Interesse und auf alle Fälle so lange, wie es Menschen wie mich gibt, die immer wieder fragen wollen und müssen, was das war: DDR, wer die waren: Kommunisten, Fragen also, die die vollkommen Ahnungslosen am sichersten beantworten können.

Als Uhse heute vor 50 Jahren starb, es war noch früher Morgen und es soll ein Gehirnschlag gewesen sein, hatte er seinen 59. Geburtstag nicht allzu lange hinter sich. Es gab, traut man den Zeitzeugen, eilfertige Betroffenheit, der ziemlich sicher vielfach auch echte Betroffenheit beigemischt war. Es kannten ihn viele in der Literatur, es kannten ihn viele in der Politik, aber es war keine Zeit des Klartextredens und so verlegte man sich, riskante Aussagen zu vermeiden, auf die Frühe des Todes: was hätte er nicht alles noch schreiben können, sollen und vielleicht gar wollen. Man erinnerte eher an den Menschen als an den Autor, denn als Mensch war er scheinbar klarer umrissen, auf alle Fälle eindeutiger. Einer der von ganz rechts bis ganz links kam, niemand fragte damals und etliche bis heute nicht, wie solcherlei Umschlagen der Gegensätze ineinander eigentlich tatsächlich funktioniert. Vermutlich erschrecken heute noch viele, wenn sie lesen müssen, dass Uhse einst dem linken Flügel der Nazis angehörte. Uhse, der Kommunist, der Spanienkämpfer, der Mexiko-Emigrant, der späte Heimkehrer in die DDR, der „Aufbau“-Chefredakteur, der Volkskammerabgeordnete, der unermüdliche Funktionär und Aufgaben-Übernehmer.

Bezeugt ist, wie schwer er schrieb. Vielfach bezeugt ist, dass er immer wieder an sich, an seinem Talent zweifelte. Man mag das, am ihm öffentlich zugesprochenen Rang zu DDR-Zeiten gemessen, für Koketterie halten, vielleicht war es aber einfach nur Hellsicht. Wer Würdigungen seines Werks liest, findet neben Lobeshymnen immer wieder Hinweise gerade auf literarische Schwächen. Schon ganz früh, als sein erstes Buch „Söldner und Soldat“ erschienen war, klammerten sich die Rezensenten an die erzählten Realien, hielten fest, dass der vermeintliche Roman eben gerade kein Roman sei. Das Lebens Uhses hat, dies kann man wohl als einen der möglichen Generalnenner festhalten, ihm eigentlich nie Muße gelassen, ein Werk, selbst ein kleineres, in einem Zug oder wenigstens halbwegs im Zusammenhang zu einem Ende zu führen. Bisweilen liegen Jahre zwischen zwei intensiven Arbeitsphasen, bisweilen werden Manuskripte beiseite gelegt und später doch wieder für fortschreibungswürdig gehalten. Und dann erweist sich Uhse als ein Autor, der die Brüche nicht kitten kann.

Gewichtiger aber fürs Ganze seines Schreibens ist, dass er nahezu nie, mir fällt auf Anhieb gar kein Gegenbeispiel ein, in der Lage war, aus einer Idee ein kompaktes und rundes Maximum herauszuholen. Er verschenkt permanent Möglichkeiten, die in seinen Ideen und Plots stecken. Das fällt in den kürzeren und kurzen Erzähltexten um so stärker auf, da diese Formen besonders anfällig sind für solche Schwächen, die im ausufernden Roman auch schon mal untergehen. Uhses Erzählungen sind voller Ärgernisse, die Lesevergnügen, Lesegenuss immer wieder nachhaltig vergällen. Wenn etwa Personen oder Ereignisse auftauchen, die keinerlei erkennbaren Bezug zur eigentlich erzählten Geschichte haben, wenn Andeutungen gemacht werden, die nie Auflösung finden, wenn plumpeste Phrasen oder haarsträubende Verklemmtheiten auftreten, dann wird die Verstimmung regelmäßig größer als die Freude an der erzählten Sache. Man mache sich das zweifelhafte Vergnügen und suche alle Stellen auf, in denen Uhse Liebe beschreibt oder gar Sexualität andeutet. Mehr Kitsch, mehr Verkniffenheit, mehr rein sprachliches Ungenügen sind kaum denkbar.

Das wirft umgehend eine Frage auf, die ich nicht zu beantworten weiß. Jüngere Autoren, die zu verschiedenen Zeitpunkten bekannten, in Bodo Uhse den Lehrer oder einen der Lehrer zu verehren, der ihnen entscheidend half auf ihrem Weg zur und in der Literatur, bezeugen seine textkritischen Fähigkeiten, seinen geschulten Redakteursblick für Worte und Wendungen. Kann es tatsächlich sein, dass einer bei anderen sieht, was ihm beim Blick auf die eigenen Texte offenbar komplett verborgen bleibt? Brigitte Reimann hat in ihrem Tagebuch am 3. Juli 1963 notiert: „Wir haben ihn sehr geliebt. Er war eben auf dem Weg, ein großer Schriftsteller zu werden: der Aufsatz über Venturelli, die Rivera-Erzählung.“ Ich kenne keinen verblüffenderen Satz über den „großen“ Bodo Uhse, denn dieser besagt ja nicht mehr und nicht weniger, als dass Uhse vorher eben kein großer Schriftsteller war. Brigitte Reimann hält in derselben Tagebuchnotiz auch fest, sie habe im ersten Moment an Selbstmord gedacht. „Er war bitter und traurig. Er hat viel getrunken, es gibt ja solche Arten von Selbstmord.“ Über den Alkoholkonsum namhafter Autoren und anderer Prominenter auch nur andeutungsweise zu schreiben und zu reden, ist bis heute alles andere als eine biografische Selbstverständlichkeit.

Noch 1984, als sein Stamm-Verlag, Aufbau Berlin und Weimar, den achtzigsten Geburtstag Uhses mit einem Almanach würdigte, fiel der Band zwar dadurch auf, dass er auch einem lange verpönten „Renegaten“ wie Gustav Regler einige Seiten zugestand, den Problemen Uhse mit seinem Land und seiner Weltanschauung aber durchweg auswich, sie allenfalls vorsichtig und verbrämt andeutete. Erst Veröffentlichungen wie die Tagebücher der Brigitte Reimann lassen Außensichten erkennen und die nicht nur zeitweise unerträgliche Situation für Schriftsteller und Künstler nachvollziehbar werden. Am 13. Mai, also weniger Wochen vor Uhses plötzlichem Tod, notierte die schon gefeierte, schon mit öffentlicher Aufmerksamkeit überhäufte, noch keine dreißig Jahre alte Brigitte Reimann: „Es klingt immer Bitterkeit durch, das Unbehagen – und mehr als Unbehagen – an einer Zeit, die dem Schriftsteller die Lust am schreiben nimmt...“. Das war DDR 1963, wie sie veröffentlichter Meinung nach einfach nicht vorkam.

Vielleicht war, um diese Vermutung ausgesprochen zu haben, die fast hektische äußere Aktivität, die Uhse phasenweise entfaltete, sein Versuch, mit wenigstens nicht vollkommen schlechtem Gewissen dem eigenen Schreibtisch zu entfliehen. Er tanzte auf so vielen Hochzeiten, dass es zum Himmel schrie und wäre in seiner Partei ein für Literatur zuständiger und zugleich kompetenter Mann mit Entscheidungsbefugnis gewesen, dann hätte er diesem Mann Luft verschaffen müssen und nicht immer neue Aufgabe stellen, die der pflichtbewusste Kommunist eben nie ablehnte bis zur Selbstaufgabe. So seltsam es klingen mag; jene, die vom Zähneputzen bis zum Gute-Nacht-Kuss die Namen von Marx, Engels und Lenin im Munde führten, meinten allen Ernstes, es sei Kommunismus, wenn sich der einzelne Mensch möglichst vollständig verleugnet, sein Innerstes unterdrückt oder ausschaltet. Heinrich Heine war einer der ersten, der unerbittlich ahnte, was kommt, wenn die organisierten besseren Menschen die Macht übernehmen und die Gewalt.

Bodo Uhse hat entweder voller diebischer Hinterhältigkeit, wahrscheinlicher aber, ohne dass es ihm selbst bewusst wurde, das Lob des Kommunismus gesungen, indem er selbigen gerade im Menschlichen bloß stellte. Als krasses Beispiel dient mir die Geschichte „Das Motorrad“. Dort opfert ein Kommunist seine Ehe, nimmt der Frau den Mann, der Tochter den Vater und dann sagt er einen Satz wie: „Ich liebte sie doch, daß ich ihr wehtun mußte, schmerzte mich.“ Man erinnert sich sofort an einen Mann, der ausrief: „Aber ich liebe doch, ich liebe doch alle.“ Sein Vorname war Erich. Welch ein Ethos ist damals, und Bodo Uhse hat es eben nicht kritisch dargestellt, vielleicht gesehen, zum Vorbild erhoben worden: „Daß ich bereit gewesen war, ihr alles zu sagen, stimmte mich mir selbst gegenüber mißtrauisch.“ Und schon in der folgenden Geschichte „Kindliches Spiel“ konterkariert Uhse sich selbst, dort nämlich zeigt er die ungeheure Tapferkeit von Frauen, die nicht einmal unter der Folter ihre Männer verraten.

Anhand von „Kindliches Spiel“ lässt sich eine weitere Auffälligkeit des Uhseschen Schreibens benennen. Die im Spanienkrieg handelnde Geschichte endet mit einem optimistischen Ausblick, obwohl natürlich jedermann weiß, wie dieser Spanienkrieg ausging und welche jahrzehntelangen Folgen er hatte. Während Uhse sonst in vielen seiner Texte mehr oder minder geschickt (meist minder) spätere Sichten einfließen lässt, selbst wenn er zeitgebundene Erzählermedien nutzt, klammert er hier sein Wissen offensichtlich sehr bewusst aus. Verordneter Optimismus, das wusste er sicher, ist wirkungslos. Am 2. Dezember 1962 schrieb Brigitte Reimann über ihr ganz persönliches und hautnahes Ulbricht-Erlebnis: „Nachher sprachen wir mit Uhse und Hauser, die mich mitleidig betrachteten. ... Sie waren auch niedergeschlagen, schienen aber an solche Auftritte gewöhnt und trugen sie mit Fassung.“ Diese „Literaturgesellschaft“, wie sie der berühmt-berüchtigte Professor Hans Koch gern nannte, der später freiwillig aus dem Leben schied, noch ehe die DDR ihm nicht ganz so freiwillig folgte, erzeugte ohne Plan, aber um so erfolgreicher, Zynismus und Zyniker (und Alkoholiker natürlich auch, meist in Personalunion).

Nur scheinbar passen die Geschichten vom guten Menschen Bodo Uhse, von seinem Zuhörenkönnen, seiner Ausstrahlung, auch seiner Wirkung auf Frauen, die sich zu einem Bild runden, nicht zu seinen literarischen Schwächen. Vielleicht hätte er, der etwa beim zweiten der vier Ehemänner von Brigitte Reimann, bei Siegfried Pitschmann, „die blumigsten Wendungen und Wucherungen ausjätete“ (Pitschmann: „Ein Brief“, im genannten Almanach), das ja irgendwann doch auch bei sich selbst geschafft, vielleicht wären ihm absurde Brüche wie in „Tonta“, klischeehafte Charakterisierungen der Bösen in seinen Geschichten mit äußerlichen Merkmalen (die Bösen sind im Leben eben leider nicht auch zugleich immer hässlich und/oder dumm) aufgefallen und er hätte seine Textgärtnerei an Überarbeitungen gesetzt oder in neue Texte investiert. Es bleibt müßig, darüber zu spekulieren. Vertrauen sollte man rein vorsorglich jenen Stimmen, die die erst knapp zwanzig Jahre nach Uhses Tod veröffentlichten „Tagesnotizen“ (im Band 5 der Werkausgabe, 1981) lasen und für sich darin einen scheinbar völlig neuen, einen nun erst zu verstehenden Bodo Uhse entdeckten.


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