Hermann Bahr: Die tiefe Natur

Es muss das Antiquariat in der Münzstraße, Berlin-Mitte, gewesen sein, das es schon lange nicht mehr gibt. Dort, wo ich manchmal ein Buch kaufte, das über das normale Maß hinaus gefragt war. Eine Gedicht-Anthologie beispielsweise, in der Biermann vertreten war, eine DDR-Gedicht-Anthologie, wohlgemerkt. Oder einen Band Georg Lukacs aus den frühen fünfziger Jahren, da Lukacs noch der Übervater war, für alles was mit Literatur, Geschichte und Philosophie zu tun hatte. Dort standen eines Tages vier mehr oder minder gelbe Bändchen nebeneinander, zugehörig zu „Fischers Bibliothek zeitgenössischer Romane“. Es waren „Die Serenyi“ von Otto Erich Hartleben, „Kreuzungen“ von Emil Strauß, „Das letzte Glück“ von Felix Hollaender und „Theater“ von Hermann Bahr. Ich hätte noch mehr Titel bekommen können, wie sich herausstellte, aber mein Stipendium war trotz 15 Mark Berlin-Zulage extrem bescheiden.

Ich wusste von Hermann Bahr nichts, außer dass es ihn gab, später fand sich an der Seite von „Theater“ das bb-Büchlein „Leander“, 1986 im Aufbau-Verlag eine der im Lauf der Jahre ansehnlich gewordenen Reihe von Ausgrabungen repräsentierend und ergänzend. Ich war immer ein Freund von Entdeckungen vergessener Autoren, weil ich eine Abneigung gegen hochgejubelte, gepuschte neue Autoren hatte und habe. Selten haben mich die Entdeckungen, an denen ich gewissermaßen teilnehmen durfte, enttäuscht. Heute, an seinem 150. Geburtstag, muss auch Hermann Bahr wieder (oder immer noch) unter die Unbekannten gezählt werden, obwohl es eine erstaunliche Zahl von Wiederveröffentlichungen gibt, denen freilich das Feuilleton schon lange keine Aufmerksamkeit mehr widmet. Betroffen sind vor allem die auf mehr als 20 Bände angewachsenen „Kritischen Schriften in Einzelausgaben“, für die Claus Pias verantwortlich zeichnet. Auch der Tagebücher Bahrs hat sich eine Edition angenommen, die freilich mit ihrem Preis selbst Bibliotheken abschrecken dürfte.

Den teuersten Bahr, den man derzeit haben kann, bietet ein österreichisches Antiquariat. Es will ohne Versandkosten 588 Euro für die Erstausgabe des Bandes „Fin de Siecle“ aus 1891, das ist der Skandalband, der in Deutschland bis 1914 verboten war, was heute kaum noch jemand verstehen mag. Man kennt die Skandale jener Zeit, die sogar zu Gerichtsverfahren führten, sie wirken alle leicht komisch, zu jedem einzelnen passt Professor Unrat als Figur, obwohl das eine ganz andere Geschichte ist. Wer sich heute über Bahr eine rasche Information beschaffen will, stößt immer wieder auf seltsam abschätzige Formulierungen. Denen zufolge ist Bahr einer von jenen, die sich durch ihre Produktivität verdächtig machen. Schon Victor Hadwiger schrieb diese Sichtweisen im „Führer durch die moderne Literatur“ von 1906 fest, für den Hanns Heinz Ewers die Hauptverantwortung trug. Der deutsch-tschechische Präzeptor Paul Reimann dekretierte für den Raum der nunmehrigen DDR, Bahr sei eine der Eintagsfliegen, die dennoch immer genannt werden.

Franz Blei beginnt in der „Erzählung eines Lebens“ den Abschnitt 49 in seiner typischen, bis heute unnachahmlichen Manier: „Im Theaterfoyer stand einer und aß eine Schinkensemmel. Es war Hermann Bahr. Jedem von uns, die wir um zehn Jahre jünger waren als er, hat er etwas bedeutet.“ Nimmt man die Zahl nicht zu genau, dann fällt hier eine außerordentlich illustre Namensreihe an, beginnend bei Thomas Mann über Hugo von Hofmannsthal bis Stefan Zweig. Der 1871 geborene Christian Morgenstern bezog sich wie selbstverständlich, wenn auch natürlich auf seine Art ulkend, auf Bahr. Und dann gibt es natürlich den Satz, der für die Nachschlagewerke aller Oberflächenwisser dieser Welt geschmiedet ist: Hermann Bahr hat den Begriff der „Moderne“ geprägt, der nun seit gut 120 Jahren den Anschein vermittelt, als bedeute er jeweils etwas, das zumindest so substanzhaltig ist, dass man ihm angelegentlich ein Post vorschalten kann, um eine Post-Moderne zu erhalten. Das heute weltweit als Logistik-Unternehmen agierende Gebilde mit der Farbe Gelb, das Preise erhöht und dazu passend Auslieferzeiten stetig verlängert, kann nichts für den Missbrauch, der eben aus dem Lateinischen kommt.

Was war das für einer, der einen ellenlangen Bart trug und einen Hut, ohne den er heute gut als rebellischer Jugendpfarrer durchgehen könnte, der gelegentlich zu Gewalt gegen die Polizei aufruft? Er war einmal der Kristallisationskern von etwas, das „Die Wiener Moderne“ genannt wird oder auch einfach „Jung-Wien“. Er war dafür prädestiniert, weil er aus Linz kam, das beinahe ein gewisser Führer in eine Musterstadt verwandelt hätte, wenn das Führen nicht in eine Katastrophe geführt hätte. Als Linzer in Wien, später machte sich Alfred Polgar über ihn lustig, als Bahr den Mythos Burgtheater beschwor in einer Rede, die Max Devrient vorlas. Als Linzer aus Wien, der dann in Salzburg wohnte und wanderte, ehe er nach München übersiedelte, schrieb Hermann Bahr am laufenden Band. Faulpelze und Tiefbohrer sind immer entsetzt, wenn jemand  nicht von Schaffenskrise zu Schaffenskrise taumelt, sondern einfach schreibt. Es ist ja nicht so, dass dabei ausschließlich Texte für die Ewigkeit entstehen, sie müssen es nicht, die Ewigkeit ist ohnehin eine zeugenlose Gegend, aus der bisher nie berichtet wurde.

„Die tiefe Natur“ ist ein Einakter, Uraufführung am 20. Dezember 1908 am Volkstheater Wien. Wer ein wenig in Arthur Schnitzler bewandert ist, wird sich zunächst die Augen reiben: Kennt man das nicht? Da ist zudem die sprechende Widmung „In Erinnerung an meinen lieben Anatol“. Natürlich kennt man das, nur eben ohne Happy End. Genau darin liegt offenbar das Problem Hermann Bahrs. Er lässt seine Helene nicht sterben, sie ist nicht Christine aus „Liebelei“, obwohl das dramatische Konstrukt diesem Schnitzler arg ähnelt. (Bahr hat, um das Maß voll zu machen, auch ein Stück „Ehelei“ geschrieben, das ich nicht kenne.) Die tiefe Natur jedenfalls ist eine junge Frau, nach heutigen Maßstäben ein Mädchen, von 23 Jahren, das schon sehr selbständig ist, weil es muss, es arbeitet als Lehrerin und liebt das Leben. Helene ist mit dem Doktor, in Österreich sind alle Doktor, egal welcher Profession, Erwin Reß befreundet, der wiederum mit dem Doktor Leo Linser befreundet ist. Reß mag seine Ungebundenheit, jedenfalls trägt er diesen Wunsch auf dem Tablett vor sich her und nun kommt er auf die Idee, seine Helene auf ihre Standfestigkeit zu testen.

Ja, ja, das kennt man tatsächlich von Schnitzler, man muss das nur nicht aufbauschen, als gäbe es sonst ausschließlich Dinge, die man nicht kennt. Die Hauptverrichtung zur Erzeugung von Nachwuchs beispielsweise, die jeder so intensiv kennt, dass er bei jeder anderen Sache nicht anstehen würde, zu sagen „bis zum Erbrechen“, verliert durch ihren hohen Bekanntheitsgrad ja auch keineswegs an Vergnüglichkeit. Also die beiden männlichen Freunde und Doktoren verabreden, gegen mäßig intensiven Widerspruch des Leo Linser, dass dieser in der Wohnung auf Helene wartet und dann soll man schauen, was wie passiert. Was man erst im Verlaufe des Einakters erfährt: Helene ist nicht nur eine maximal lebenskluge junge Frau, sie ist auch keineswegs auf Erwin fixiert, wie dieser zugleich hofft und fürchtet. Im Gegenteil: sie mag eigentlich den Leo lieber, der sie auch mag, was er aus Rücksicht auf seinen Freund wiederum halbwegs tapfer in sich unterdrückt. Und weil es im Einakter zügig gehen muss, geht es bei Bahr auch zügig. Helene verliert kurzzeitig die Contenance, als sie das schäbige Spiel durchschaut und vor allem als sie erkennt, wie wenig dieser Erwin sie kennt.

Dann geht es fix, man bekennt einander die Liebe, der Erwin kommt vorzeitig nach Hause, um Helene und Leo in flagranti zu erwischen, als er vernimmt, sie habe sogar aus dem Fenster springen wollen, reißt ihn eine kurzzeitige Sentimentalität beinahe darnieder, dann aber wird er aus all seinen Illusionen gerissen. Jetzt und fortan sind Leo und Helene ein Paar. Der Hermann Bahr hat seiner Helene wunderbar lebensfrohe, lebensbejahende Sätze in den Mund gelegt. (Es gibt Mäkelkritiken, die anmerken, manche Bahr-Stücke hätten bloß gute Dialoge. Als wären gute Dialoge sozusagen das nicht weiter Erwähnenswerte auf der Bühne, Hauptsache, die Mimen können oft genug die Augen nach innen oben drehen). Dieses kleine Stück kann, wenn niemand es komisch findet, Schnitzlers „Liebelei“ zu spielen, mit gleichem Recht sofort und überall gespielt werden. Es hat den großen Vorteil, nur vier Personen zu brauchen, Dekonstruktion ist nicht nötig, man kann auch Dekoration und Kostüm ziemlich ausfallen lassen, also geradezu ideal für jedes Sparbudget-Haus.

Stefan Zweig, dessen kompletten Briefwechsel mit Hermann Bahr man nachlesen kann (soweit er erhalten ist), hat zum sechzigsten Geburtstag Bahrs am 19. Juli 1923 versucht, auch für die Öffentlichkeit den Freund in seinen Haupteigenschaften kenntlich zu machen. „Leben ist für Sie von je absolut identisch mit Erleben gewesen“, schrieb Zweig. Und „Leben ist für Sie vollkommen identisch mit Anteilnehmen.“ „...man könnte Ihnen nichts Unlieberes tun, als Sie zu Ihrem sechzigsten Geburtstage mit seriöser Umständlichkeit zu betrachten und einzig auf Ihre Vergangenheit und nicht auf ewige Lebendigkeit hinzuweisen.“ Zweig war Wander-Partner von Bahr und er hat hat in beispielloser Freundesart sogar darüber hinweggefunden, dass Hermann Bahr wie nicht wenige zur gleichen Zeit dem Taumel der Kriegsbegeisterung verfiel 1914. Obwohl es ihn sehr schmerzte, sehr, sehr schmerzte. Der oberflächenfreundliche Bahr konnte in „Die treue Adele“ einen Satz schreiben über einen verliebten Siebzehnjährigen wie: „In ihm wirbelten verwegen Hoffnungen, überschlugen und purzelbäumten sich, stellten sich auf die Nase und trillerten mit den Zehen.“ Das, verehrte Hoffnungen, ist selten von euch gesagt worden, so schön jedenfalls nicht.


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