Christa Wolf in Stützerbach

Nicht nur Goethe war dort und trieb es zahmer, als es viel später alle gern gehabt hätten. Auch Bodo Kühn war dort, von dem man häufiger erfährt, dass er 1931 arbeitslos wurde, als dass er im selben Jahr einer Partei beitrat, deren Kürzel NSDAP lautete. Auch Christa Wolf kam hin und zwar 1970. Dass sie von Goethe viel wusste, darf man annehmen. Ob sie von Bodo Kühn wusste, ist nicht belegt. Vielleicht aber hat ihr während der Wochen mit kalten Güssen und achtminütigen Sauna-Aufenthalten eine freundliche Person von dem Manne erzählt, der am 2. Mai 1912 in Stützerbach den Teil des Lichts der Welt erblickte, der dort ins Tal fällt an guten Tagen, wobei in den Wäldern nicht selten bis Juni noch allerhand Schnee liegt. 1970 waren immerhin schon zehn Bücher von Kühn auf dem DDR-Pendant dessen, was man Markt nennt. Kühn lebte, obwohl er fast 17 Jahre älter als Christa Wolf war, noch knappe zwei Monate länger als sie, wenn auch seit einigen Jahren erblindet, in einem Weimarer Altenheim. Die regionalen Zeitungen verweigern, Zusatz-Einnahmen begehrend, bis heute ihre damaligen Nachrufe tapfer dem neugierig suchenden Leser, es sei also so. Hier geht es um Christa Wolf, die in Stützerbach auf den Hintern fiel und selbigen auch so nannte.

Gut möglich, dass meine gleich drei Schulkameradinnen aus Stützerbach, von denen eine Ärztin, eine Lehrerin, eine Chemikerin wurde im späteren Leben, bisweilen die Wanderpfade Christa Wolfs kreuzten. Ob sie sie erkannten in solchen Momenten, weiß ich nicht, sie hatten auf die teilweise sehr glatten Wege zu achten, die auch Schriftstellerinnen mit aufmerksamem Blick zum kleinen Verhängnis werden konnten. Christa Wolf verstauchte sich leicht die Hände beim Versuch, sich im Sturz nach hinten abzustützen; wie es dem oben genannten Körperteil erging, ist nicht näher überliefert. Meine Wolf-Kenntnisse hielten sich Anfang 1970 noch in äußerst engen Grenzen, im September 1968 hatte ich „Der geteilte Himmel“ gelesen, „Nachdenken über Christa T.“ folgte erst ein Jahr nach dem Kneipp-Kur-Aufenthalt der Autorin, da waren die ganz großen Wellen um dieses Buch, das alle haben wollten und kaum jemand bekam, schon den halb großen Wellen gewichen und einige hatten das Buch über die Frau, die an Leukämie starb, aber an der DDR litt, so ähnlich schrieb es im Westen der in der DDR als leibhaftiger Literatur-Teufel geltende Marcel Reich-Ranicki, tatsächlich bekommen. Wie mein Freund Günter L., der es mir lieh. Es wurde ein Ereignis.

Christa Wolfs Christa T. zwang mich, meine bis dahin eher lax gehandhabte Gewohnheit, mir besonders imponierende Sätze (sprich Gedanken) aus Büchern abzuschreiben, sehr auszuweiten. Mir schienen viele Sätze aus diesem Buch nicht nur einfach wichtig, sondern sehr wichtig. Dass ich später an „Kindheitsmuster“ scheiterte und selbst die dümmsten Attacken von Annemarie Auer und Co. mir nicht über die Hürde der mir fürchterlichen ersten hundert Seiten hinweghalfen, wäre ein eigenes Thema. Selbst meine Mutter aus Deutsch Krone, fünf Monate älter als Christa Wolf und deren Kindheitsmuster aus Landsberg an der Warthe über weite Strecken teilend, kam mit den aufgeschriebenen nicht weiter als ich, sie gab lange vor der Zielgeraden auf, ohne je einen zweiten Versuch zu starten. Man müsste über Christa Wolfs Schwierigkeiten beim Schreiben, nicht der Wahrheit, sondern tatsächlich beim Schreiben, insbesondere von Anfängen, meditieren, doch mit Stützerbach hat das wenig bis nichts zu tun. Von dort schrieb sie am 13. Februar 1970, zwei Wochen vor meinem 17. Geburtstag, so viel eitle Abschweifung muss sein, an Brigitte Reimann, „daß bei uns in den Bergen Dörfer durch die Schneemassen abgeschnitten sind“. Was aber heißt: bei uns??

Während heute fast alle, die medial auffällig werden, immer „dieses Land“ sagen, nie „unser Land“, das wäre schon so gut wie eine rechte Abweichung, war damals „bei uns“ recht schlicht: in der DDR. Es gab also 1970 in der DDR Dörfer „bei uns in den Bergen“, in denen der Schnee dafür sorgte, „daß das Bähnle halbe und ganze Tage lang nicht fahren kann und die Leute früh beim Schneeschaufeln sich zurufen: Die Welt geht unter, aber die Menschen haben's ja nicht besser verdient!?“ Mal abgesehen davon, dass den Zug Ilmenau-Schleusingen, der über Manebach, Stützerbach, Schmiedefeld verkehrte, wohl niemand je „Bähnle“ nannte, bis endlich die Deutsche Einheit mit ihren nach Berlin auswandernden Schwaben über uns hereinbrach, Christa Wolf wäre die frühe Ausnahme gewesen, hatte in Stützerbach auch die Gruppe der Weltuntergangs-Propheten sicher nie Fraktions-Status. Jedoch: „Alle Einheimischen entsinnen sich eines solchen Schneefalls nicht seit dem Kriegsjahr 1941, und mein bescheidenes Gedächtnis hat so etwas überhaupt noch nicht gesehen.“ Wir ertappen die sonst alles drei- bis siebenmal durchdenkende Christa Wolf bei einem Lapsus: nicht wenige Stützerbacher konnten 1970 nicht an 1941 denken, weil später geboren.

„Im übrigen danke Gott, daß ich Dich bloß nach Mahlow und nicht gleich nach Stützerbach geschafft habe: Dies hier ist eine Steigerungsform. Schrotbrötchen u. Schrotsuppe am Morgen, Knie-, Nacken-, Gesichts- und Armgüsse tagsüber und abends die Theorie dazu und Buntfilmuntermalung. Man ist wie auf einen anderen Stern gefallen. Was uns vorgestern noch wichtig war und worüber wir sprachen, interessiert hier keinen Menschen. Ganz lehrsam.“ Am 10. März schrieb Christa Wolf wiederum an Brigitte Reimann: „Ich bin gut gewässert seit zwei Tagen wieder zu Hause, fühl mich frisch und erholt, auch ein klein wenig schlänker“. Wir dürfen uns nunmehr unserer kleinen Mäkelei schämen: wer Buntfilm schreibt und schlänker, dem sei alles verziehen auf immer und ewig. Zwei Wochen später, 24. März, resümiert Wolf die Wirkungen der abermals Berge des Thüringe Waldes: „Seit Stützerbach bin ich fast ununterbrochen in guter Stimmung – nein: glücklich, ich wußte gar nicht mehr, daß es das gibt und daß es so ist, weiß auch nicht, wie's eigentlich kommt.“ Goethe, der oben nicht unerwähnt bleiben konnte, schrieb manch Unerfreuliches über Ilmenau, zitiert wird er daselbst am liebsten mit „Ich war immer gerne hier“.

Müsste demnach Christa Wolf mit ihrer Märzstimmung umgehend in Stützerbacher Tourismus-Prospekte Eingang finden? Post aus Stützerbach erhielt auch das in Groß Glienicke lebende Ehepaar Anna und Friedrich Schlotterbeck, mit beiden war das Ehepaar Christa und Gerhard Wolf eng befreundet, beide waren nach Verfolgung und Haft in Zuchthaus und KZ in der Nazi-Zeit auch in der DDR der Stalin-Jahre unter den Opfern von Schauprozessen. Christa Wolf hielt für Friedrich Schlotterbeck (6. Januar 1909 – 7. April 1979) die Trauerrede, Anna Schlotterbeck (2. Mai 1902 – 24. Juli 1972) war schon vorher gestorben. Am 24. Februar 1970 äußerte sie den Wunsch, ihren Geburtstag am 18. März gemeinsam mit den Schlotterbecks zu feiern, „dann feiern wir bald meinen Geburtstag und trinken Sekt und Bier, und dann wird doch sicher auch dieses Jahr irgendwann mal Frühling, ich kann ja kein Weiß mehr sehen. Hier war die Sauna heute sehr heiß, über 100 Grad, und ich habe eben ein schönes Buch zu Ende gelesen ...“. Es war „Alle unsere Gestern“ von Natalia Ginzburg, 1969 in Berlin bei Rütten & Loening erschienen. Auch gegenüber Brigitte Reimann hatte Wolf auf dieses Buch schon hingewiesen, allerdings zwei Monate vor der Kur in Stützerbach.

Meyers Taschenlexikon „Schriftsteller der DDR“ sprang übrigens noch 1975 großzügig über die Jahre zwischen 1948 und 1956 im Leben beider Schlotterbecks hinweg. Denn Rehabilitationen für unschuldige Stalin-Opfer gab es auch in der DDR, man verschwieg sie aber in der Öffentlichkeit, weswegen Christa Wolf und Brigitte Reimann in ihrem Briefwechsel noch 1972 den Fall des Alt-Funktionärs Franz Dahlem (14. Januar 1892 – 17. Dezember 1981) für äußerst bemerkenswert hielten, dem „Neues Deutschland“ zum 80. Geburtstag gratulierend ein solches Publikmachen im Zentralorgan quasi höchstamtlich gönnte. Eine „Erinnerung an Friedrich Schlotterbeck“ von Christa Wolf ist im ersten Band ihres „Die Dimension des Autors“ (Aufbau-Verlag 1986) nachlesbar. Ihre Kur in Stützerbach 1970 dauerte vom 11. Februar bis zum 7. März. Ihr Brief an Ehemann Gerhard Wolf, ebenfalls auf den 24. Februar datiert, legt die Vermutung nahe, er habe sie dort besucht, vielleicht selbst ein paar Tage dort verbracht. Brigitte Reimann ging in ihrer Antwort an Christa Wolf sogar davon aus, dass auch Tochter Tinka dabei gewesen sein müsste, eine andere Art Kur wollte oder konnte sie sich gar nicht vorstellen („... die habt Ihr doch mitgenommen, oder??“).

Wie auch immer: „Lieber Mann, wenn Du weg bist, ist es auch nicht schön“, schrieb Christa Wolf an jenem Dienstag, „und heute früh, als ich zur Sauna ging, rutschten mir die Füße weg und ich saß auf dem Hintern, verstaucht hab ich mir aber die Handgelenke, und die auch nicht sehr. Gestern hatten wir wieder Reistag … wir mußten zum Praeceptorsgrund gehen und eine Blutwurst essen ...“. Der „Praeceptorsgrund“ ist lange schon geschlossen und wird von mir nur gelegentlich in Erinnerung gerufen, wenn im Gespräch mit Freunden, denen der stetige Zugang zu Thüringer Klößen verwehrt ist, der letzten Stützerbacher Kostprobe ebendort gedacht wird. Blutwurst scheint Christa Wolf nicht zu ihren kulinarischen Favoriten zu zählen. „Gestern abend hat uns der Chefarzt in das autogene Training eingeführt, … Man solle ihn ansehen, …, ihn könne, da er seit 1936 dieses Training betreibe, nichts so leicht erschüttern“. Christa Wolf nennt Namen anderer Kurpatienten so, als setze sie voraus, Gatte Gerhard wisse, wer gemeint sei und freue sich über bezügliche spaßige Episödchen. „Die Sauna war sehr heißt heute, 100 Grad, das zweitemal habe ich meine acht Minuten nicht ausgehalten, dann bin ich mit einer Frau Kunze spazieren gegangen“.

Diese Frau, 45 Jahre alt damals, Kunstgewerblerin aus dem Raum Erfurt, plauderte über Textilgestaltung und bekam als Dank von der Schriftstellerin deren „Nachdenken über Christa T.“ geschenkt. Das war vermutlich ein Band aus der reduzierten DDR-Ausgabe, denn sie lässt die Bitte folgen, „vielleicht schickst Du mir noch eine von Luchterhand, zum Abschied für den Chefarzt, oder für Frau Möller, was meinst Du?“ Die West-Ausgabe für den Chefarzt, man muss sich dabei nicht mehr denken als nötig. „Es taut nicht mehr so doll, heute vormittag war Sonne.“ Es gibt sicher weitere Briefe aus Stützerbach, einen an Elisabeth Borchers (27. Februar 1926 – 25. September 2013) zum Beispiel, in dem Christa Wolf der damaligen Luchterhand-Lektorin zusagte, zu einer Anna-Seghers-Auswahl dieses Verlages ein Nachwort zu schreiben, was sie auch tat. Auch im Ehebrief kommt sie auf Alexander Twardowski zu sprechen, der Mitte Februar in Moskau von seinem Amt in der Literaturzeitschrift „Nowy mir“ abgelöst wurde. „... nun also doch.“ hatte sie an die Schlotterbecks kommentiert, „das geht nun so weiter“ heißt es für Gerhard Wolf. In Stützerbach interessierte das keinen Menschen, lasen wir an Brigitte Reimann. Ich bezweifle es, vorsichtig.


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