Goethe: Götter, Helden und Wieland

Erstaunlich ist es schon, dass der Anmerkungsteil des sonst soliden Leipziger Reclambandes „Komödien und Satiren des Sturm und Drang“ (RUB 662) aus dem Jahr 1976 mitteilt, Goethes Farce, 1773 geschrieben, sei von Jakob Michael Reinhold Lenz gegen den Willen des Verfassers veröffentlicht worden. Behauptet das doch nicht einmal Goethe selbst, obwohl er sehr viel später im autobiographischen Rückblick „Dichtung und Wahrheit“ Wert darauf legt, seinem einstigen Freund Lenz ausgemacht böse Absichten zu unterstellen. Er habe ihm das Manuskript nach Straßburg gesandt, Lenz ihn regelrecht gedrängt, es veröffentlichen zu dürfen, er habe deshalb schließlich seine Zustimmung gegeben. Wer mag, kann die ganze Vor- und Nachgeschichte im Insel-Taschenbuch „Goethe und Lenz“ (it 2750), herausgegeben von Matthias Luserke, nachlesen. Luserke beginnt seine Dokumentation übrigens mit Zitaten aus der vielleicht bösartigsten Goethe-Kritik, die je geschrieben wurde, der von Jakob Haringer (1898 bis 1948) 1929 zuerst veröffentlichten Arbeit „Leichenhaus der Literatur oder Über Goethe“.

Wie auch immer, „Götter, Helden und Wieland“ hat in gedruckter Form 1774 einigen Wirbel ausgelöst. Was zunächst nur einen kleinen Freundeskreis erheiterte und vielleicht erst sehr viel später, wenn überhaupt, veröffentlicht worden wäre, steht seither in der deutschen Literaturgeschichte als eigenes Fallbeispiel. Dafür, wie eine sich ausdrücklich als Gruppe verstehende neue Literaturrichtung öffentliche Vorläuferschmähung begeht. Das hat sich später immer wieder vollzogen, Goethe seinerseits ist schon zu Lebzeiten und eigentlich bis heute für gleich mehrere neue Autorengenerationen selbst zum bevorzugten Geschmähten geworden, was Wieland, hätte er es erleben können, weder gewundert noch mit stiller Genugtuung erfüllt hätte. Wieland ist, was ihm gern bestätigt wird, sehr souverän mit der satirischen Vernichtung umgegangen, dass seine Souveränität jedoch die seines Vernichters bei weitem übertraf, liest man eher nicht, obwohl die Goethe-Schiller-Aktion „Wir schießen mit Kanonen auf Spatzen“, in der Literaturhistorie als „Xenien-Streit“ etikettiert, dies schlagend bewies und bis heute beweist.

Die Farce soll, vielfach wird es in einschlägigen Darstellungen wiederholt, unter tätiger Zuhilfenahme von Rotwein an einem einzigen Sonntagnachmittag aus Goethes Feder geflossen sein. Für das breitere Publikum war dergleichen nicht gedacht, wenngleich vielleicht doch noch etwas leichter wenigstens ansatzweise zu verstehen als das verschrobene Kritiker-Schlachtfest der „Xenien“ der Dioskuren gut zwanzig Jahre später, das zu beschreiben sogar den freundlichsten Biographen lesbar Unlust bereitet. Wieland wurde so bösartig durch den Kakao gezogen, dass jede denkbare Reaktion tolerabel gewesen wäre. Seine tatsächlich erfolgte (wir kennen nur das Gedruckte, nicht den möglichen Urfluch auf der heimischen Toilette) verblüfft offenbar alle, die von ihr Kennntnis nehmen, so sehr, dass es ein Nebenvergnügen darstellt, ihre verbale Umschreibung in einer kleinen Zitatenlese nachvollziehbar zu machen.

Richard Friedenthal: „Er hat sich als Mensch dann sehr generös benommen, als das freche Ding gedruckt wurde.“ Ludwig Geiger: „Der jugendliche Angreifer schoß über sein Ziel hinaus, und es ehrt Wieland, daß er die plumpen Angriffe nicht erwiderte, sondern das Genie des jungen Dichters anerkannte.“ Curt Hohoff: „Wieland hat sich übrigens elegant aus der Affäre gezogen, indem er Goethes Posse in seinem „Merkur“ empfahl.“ Carl Otto Conrady: „Wieland indessen nahm die Sache gelassen und souverän. Er zeigte die Farce sogar in seiner eigenen Zeitschrift an.“ Matthias Luserke: „Goethes Satire hat Wieland getroffen. Dies zeigt die Tatsache, daß er gleich zweimal in demselben Heft seines Teutschen Merkur vom Juni 1774 darauf zu sprechen kommt. Beide Male reagiert er generös.“ Überliefert ist, dass Goethe sich von eben dieser Reaktion durchaus berührt zeigte, hatte er wohl, sich selbst kennend, mit anderem gerechnet. Lessing, Bürger, Heinse, Gleim, um nur einige der namhaften Zeitgenossen zu nennen, verfolgten das Geschehen und waren von Wielands Reaktion beeindruckt, soweit sie sich dazu äußerten.

Johanna Fahlmer, das „Tantchen“, hatte Goethe in Frankfurt die Bogen für das neue Merkur-Heft gezeigt, das Dokument der beherrschten Größe Wielands, und Goethe war offensichtlich bemüht, eine akzeptable Erklärung für sein Tun zu liefern: „Der Vater-Ton! der ist's just, der mich aufgebracht hat.“ Noch mehr fast die Briefe, in denen Wieland seine „Alceste“ in seiner eigenen Zeitschrift gedeutet eingeordnet hatte. Ursula Wertheim, das sei an dieser Stelle eilig vermerkt, ist die einzige Autorin, die aus unerklärlichen, weil der längst bekannten Sachlage klar widersprechenden, Gründen in ihren „Goethe-Studien“ (Ausgabe 1990) behauptet, Goethes Farce beziehe sich auf die 1775 (!!!) von Wieland in Weimar aufgeführte „Wahl des Herkules“. Nein, es ging um „Alceste“, auf Euripides fußend und von Wieland in den genannten Briefen als diesen Euripides übertreffend beworben. Richard Friedenthal hebt die Ungerechtigkeit Goethes besonders heraus, wenn er schreibt: „Wieland hatte eigentlich Grund, etwas böser zu sein. Er hatte eben den ehrenwerten Versuch gemacht, eine deutsche Oper zu schaffen, die erste in einer Welt, die das für aussichtslos hielt...“ Die übrigens auch zur Aufführung kam und keineswegs erfolglos.

Die vermeintlich dreiste Behauptung Wielands, seine wie auch immer näher zu charakterisierende „Alceste“ übertreffe Euripides, hat freilich einen geistigen Hintergrund, der von keinem der genannten Autoren in Erwägung gezogen wird. Die Fortschrittsdebatte der Frühaufklärung, die lange nachwirkte, bekannt unter dem Schlagwort „Querelle des anciens et des modernes“ zog ihre Überzeugungskraft aus eben solchen Behauptungen, wie sie Wieland, sie letztlich nur anwendend, auf sich selbst gemünzt hatte, was mitten in einer neuen Griechenland-Euphorie, fast Griechenland-Hysterie, hart an Gotteslästerung grenzte. Das Griechenlandbild der Zeit war hemmungslos und teilweise ausgeprochen blind idealisiert, es war ein Wunsch-Griechenland im anakreontischen Rokoko-Kleidchen pinseliger Empfindsamkeit. Fast wie ein Treppenwitz wirkt es, wenn Goethe nicht sehr lange nach seinem Brachialhieb gegen Wieland selbst im Genre des Singspiels debütierte mit „Erwin und Elmire“ und dann einige Nachfolger textete.

In seiner Farce greift Goethe auf die antike Form des Totengesprächs zurück, wie sie insbesondere mit dem Namen Lukians verbunden wird, der übrigens heute noch in den Übertragungen Wielands in diversen neueren Ausgaben verbreitet ist. Im Totenreich herrscht Aufregung über den irdischen Schreiberling Wieland. Empört ist Euripides, der antike Tragöde, empört ist Herkules, der Halbgott, empört sind Admet und Alceste, die sich sowohl von Euripides als auch von Wieland, modern gesprochen, in ihren Persönlichkeitsrechten verletzt fühlen und natürlich ohnehin falsch verstanden. Prügelknabe der Dialoge, Handlung gibt es sonst nicht in der Farce, ist aber fast ausschließlich Wieland, dem der Autor Goethe auch keine Fähigkeit, sich geistreich oder gar überzeugend zu verteidigen, zugesteht. So bleiben die bösen Invektiven gegen Wieland stehen. Euripides fühlt seinen Stoff missbraucht. Ärgerlich ist auch Herkules, der sich und seine Figur durch Wieland profaniert und verbürgerlicht, sprich: verharmlost fühlt. Es geht um den Tugendbegriff, es geht letztlich, wenn auch unausgesprochen, um Kunstfortschritt. Herkules verkörpert in gewisser Weise eines der Ideale der Kraftmeierei des Sturm und Drang, die sich wie alle derartige Kraftmeierei letztlich in Sauferei und möglichst viel freier Liebe für Männer erschöpft, die Rolle der Frau ist darin schlicht unbedacht.

Immerhin ist Goethe, wenn er seinen unterweltlichen Herkules damit prahlen lässt, mit seinen üppigen Säften in einer Nacht fünfzig Buben gezeugt zu haben, kaum weniger frivol als es Wieland noch lange nach seinem Tode nachgesagt wurde. Wieland habe, so Goethes Generalvorwurf, keine Spur griechischen Blutes in sich, obwohl Wieland davon vielleicht mehr hatte als der von Goethe über alle Maßen unkritisch verehrte Winckelmann, der sein Griechenbild aus römischen Kopien zog, ehe er in Triest ermordet wurde. Goethes Wieland muß sagen: „Nur Feige fürchten den Tod.“ Und: „Tugend muß doch was sein, sie muß wo sein.“ Als Goethe dann selbst nach Weimar kam, Carl August gewissermaßen aus den Erzieherhänden Wielands übernehmend, geriet die Farce rasch in Vergessenheit. Niemand feierte den Ankömmling am sich eben bildenden Musenhof zu Weimar enthusiastischer als Wieland. Ihn selbst aber feiert selbst an seinem heutigen zweihundertsten Todestag niemand so heftig, wie ihn Goethe einst attackierte.


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