Gottfried Keller: Pankraz der Schmoller
„Pankraz der Schmoller“ ist eine schöne Geschichte. Wer ein, zwei Dutzend Äußerungen oder gar Interpretationen zu „Pankraz der Schmoller“ gelesen hat, könnte meinen sehr schlichen ersten Satz als Provokation deuten. Und es ginge ihm, wie einst bei Brecht den „Teppichwebern von Kujan-Bulak“, die Lenin ehrten und dies auf ihre Weise taten. Sie hätten mich verstanden. Denn, und nun wird es ernster, ich bin vermutlich der einzige akademische Keller-Leser, der je diesen so simplen Satz über die erste Geschichte der insgesamt zehn in „Die Leute von Seldwyla“ zu Papier brachte. Denn es ist vollkommen unüblich, die Geschichte als solche überhaupt wahrzunehmen: was da passiert, wer wem was sagt und was das dem unbefangenen Leser für immense Einzel- und Gesamt-Vergnügen bereiten kann. Da redet Keller von Tieren in überraschenden Wendungen, beschreibt eine indische Witwenverbrennung mit makaberstem Humor und eidgenössischem Vokabular eingestreut, und dann, dann taucht mittendrin plötzlich Shakespeare auf. Man kann in der Literatur zu „Pankraz der Schmoller“ natürlich dieses Auftauchen immer wieder finden: wie aber gelesen: einer sieht darin ein Bekenntnis zum wahren und wirklichen Realismus, der zweite macht einfach einen Haken in sein Register, der dritte missdeutet alles, dass einem die Tränen ins Auge steigen.
Also, zum Mitschreiben: „Pankraz der Schmoller“ ist eine schöne Geschichte. Man kann sich an ihr ein reines und rundes Lesevergnügen bereiten, man kann sich aber auch festhalten an ihr und eine nette kleine Entdeckungsreise unternehmen. Man muss gar nicht glauben, dass die Geschichte einen Gedanken aus dem Vorwort aufgreift, wie das einer schrieb, denn Vorworte werden meist erst geschrieben, wenn alles andere fertig ist, also ist das Vorwort rein sachlich fast immer ein Nachwort und aus dem führen Linien, wohin sie mögen, für den Leser bleibt es von geringem Interesse. Man kann in aller Naivität fragen: Was ist eigentlich ein Schmoller? Überraschung: eine Erklärung des Wortes findet sich bei einer GOOGLE-Recherche nicht, man stößt auf Nationalökonomen, die sogar „von Schmoller“ heißen, was nichts bedeutet, man stößt auf Firmen, die Schmoller heißen, man stößt natürlich auf die Keller-Geschichte und auf Texte zur Keller-Geschichte. Das weltweite Netz weist sogar auf komplett bedeutungsfreie Hausarbeiten zu „Pankraz der Schmoller“ hin, das Wort aber: Fehlanzeige. Auch in der mir bekannten Literatur fehlt eine halbwegs überzeugende Klärung. Ist Schmollen womöglich gar etwas, das mit Männern eher nicht in Verbindung zu bringen wäre: Schmollmündchen sind signifikant weiblich besetzt und Schmollwinkel – wer siedelt sich da an?
Wer den Keller liest, stößt darauf, das selbst der starre Blick auf einen angriffsbereiten Löwen als Schmollen bezeichnet wird, ein Wort also für das schweigende Verschwinden, wenn den eigenen Kartoffelbrei die Schwester verspeiste, während man selbst Himmelsphänomene beobachtete, und für panische Starrheit angesichts des drohendes Todes? Was für ein netter weiter Begriff, dieses Schmollen. Den Interpreten ist das übrigens kaum eine Überlegung wert gewesen. Sie haben sich auf die Beziehungen zwischen Pankraz und Heinrich Lee fixiert, das ist der „Grüne Heinrich“ in „Der grüne Heinrich“. Sie haben sich auf die Beziehungen zwischen Dortchen Schönpfund und Lydia fixiert, das sind die beiden angeblichen Figurationen der Betty Tendering aus Gottfried Kellers wirklichem Leben. Wer aber liest zuerst ein paar Keller-Biographien, um zu verstehen, wie sich der Erzähler erst voller Liebe, dann voller Erbitterung mit seiner vergeblich angebeteten Betty befasst und sich schließlich schreibend an ihr rächt? Wir wissen nicht, wie Betty Tendering wirklich war, es ist auch letztlich völlig bedeutungslos. Denn vor uns erstehen im Roman das Dortchen, in der Erzählung Lydia, die Gouverneurstocher aus Irland, die in Indien Pankraz den Kopf verdreht. Und schon von Dortchen müssen wir nicht wissen, wenn wir Lydia im Buch vor uns haben.
An dieser Stelle spätestens habe ich eine zarte Korrektur meiner obigen Behauptung vorzunehmen: denn mit der „mir bekannten Literatur“ sind die üblichen Keller-Experten gemeint, die mehr oder minder dicke Bücher über Keller gefüllt haben. Eine Frau aber, die als Keller-Expertin bis dato eher nicht aufgefallen war, hat klar das Gescheiteste zur Sache geschrieben: Luise F. Pusch. Sie zeichnet verantwortlich für eine Glossenreihe „Laut & Luise“, in der im September 2016 aus gewissermaßen heiterem Himmel ein Beitrag zu „Pankraz der Schmoller“ öffentlich wurde, Ausgangsbasis eine Hörfassung, Vorleser Reiner Unglaub. Luise F. Pusch, im Januar 1944 geboren, Gender-Linguistin, hat das „Schmollen“ nicht dezent übersehen wie fast alle verehrten Keller-Philologen, sie sann ihm sogar nach. Ihr Ergebnis: „Außerdem hat das Schmollen die Konnotation des Kindischen, Unreifen, Unfertigen. Schmollen ist eine Reaktion von Kindern, die mit Widrigkeiten noch nicht souveräner umgehen können. Ein Erwachsener, der schmollt, benimmt sich kindisch.“ Liest man das so, fragt man sich natürlich: warum schreibt das keiner vorher. Tatsächlich: „Bei Keller hat es eine über den Normalgebrauch weit hinausgehende Bedeutung.“ Warum nur merkt das keiner oder interessiert das keinen? Oder nur den vergessenen Thomas Roffler, dem einst Hermann Hesse höchstes Lob zollte.
Wo sonst noch das Y in Lydia mit dem Y in Betty neckisch und wild tiefsinnig verbunden wird?
Stattdessen, beispielsweise, bei Gerhard Kaiser, ins Absurde glitschende tiefenpsychologische Orakeleien oder Kalauer wie „Dortchen und Hierchen“, als hätte einer zu viel Sesamstraße gesehen, eher er an seiner Keller-Biographie von mehr als 700 Seiten bosselte. Luise F. Pusch wies 2016 geradewegs auf einen heute sattsam bekannten orangefarbenen Mann hin: „Typisch für Donald Trump ist seine Neigung, den Mund zum Schmollmund (pout) zu verziehen. Er ist ein echter Schmoller – und auch mit 70 Jahren noch nicht erwachsen.“ Keller mitten in der Weltpolitik des 21. Jahrhunderts! Und das mit der Geschichte von einem Löwentöter, der aus Seldwyla kommt, nach Seldwyla zurückkehrt, Mutter und Schwester überrascht, die anderen Seldwyler sowieso, und dann in die Stadt geht, um ein nützliches Mitglied der eidgenössischen Gesellschaft zu werden. Das hängt Keller vielleicht heute am meisten an: er lässt sich auch beim besten Willen nicht als Alternativen-Ikone verkaufen, sein Konservatismus eignet sich nur für komplette Dummköpfe zum Draufhauen. Wer ihn den „kleinbürgerlichen Goethe“ nennt, wie es tatsächlich vorkam, setzt nicht nur einen großbürgerlichen Goethe voraus, der dann vermutlich der tatsächliche Goethe gewesen sein soll, welch ein Mumpitz, sondern führt seine Leser einfach in die Irre. Gottfried Keller ist nur er selbst.
Doch noch einmal zu Thomas Roffler, dem das Schmollen 85 Jahre vor Luise F. Pusch eine eigene Überlegung wert war. Deren Ergebnis sich so liest: „Das Schmollen … ist jenes … Verhalten, durch welches ursprüngliche, sei es nun dumpf eigensinnige oder dann in ihrer Anlage und Begabung verkannte Naturen die Ursachen einer eingewurzelten Unzufriedenheit mit sich selbst in die Außenwelt verlegen. Die Beseitigung des Übels geschieht dadurch, dass einmal nicht nur ein gesuchter Anlass für gekränkte Gefühle, sondern eine tatsächliche Gefährdung des Lebens auf den Plan tritt.“ Roffler ist damit nahe bei Gottfried Keller, denn der charakterisiert seinen jungen Pankraz als einen, der tatsächlich Anlässe zum Schmollen aktiv suchte, der unterwegs war, „um zu sehen, wo er irgendein tüchtiges Unrecht auftreiben und erleiden könne.“ Mir scheint das eine höchst moderne Disposition zu sein, Keller somit einer, der sehr weit schaute, ohne das zwingend geahnt haben zu müssen. Der Schweizer Hugo Loetscher übrigens bestätigt in seinem Aufsatz „Mit Gottfried Keller im ungemütlichen Seldwyla“, Erstdruck 1990, dass Pankraz einer ist, „der mit seinem Schmollen die helvetische Kunst des „Muffseins“ demonstriert, womit wir grundsätzlichen Unmut und Übelgelauntheit bezeichnen, unsere tiefverwurzelte Prämisse fürs Schimpfen“.
Von den spärlichen Selbstaussagen Gottfried Kellers zu „Pankraz der Schmoller“, es sind ganze zwei, man glaubt es kaum, enthält die eine in einem Brief vom 24. Februar 1876 an Lina Duncker, Gattin des Verlegers Franz Duncker und Schwester jener Betty Tendering, von der schon die Rede war, diesen Satz: „Meine alte Schwester begrüßte er flüsternd als Estherchen aus dem „Pankraz dem Schmoller“, was sie gar nicht verstand, und dergleichen Teufeleien mehr.“ Er – das war der Schriftsteller und Schauspieler Emil Palleske (1823 – 1880). Abgesehen davon, dass die 1822 geborene Schwester Regula Keller 1876 erst 54 Jahre alt war, Keller selbst 59, sind wir damit wieder auf den uns heute fast von Jahr zu Jahr mehr irritierenden Umstand verwiesen, wie früh man früher als alt abgeschrieben war. Aber es ist diese einzige und winzige Passage in einem Brief, die in der Keller-Literatur immer wieder neu formulierte Aussagen nach sich zieht, was denn nun Schwester Regula von ihrem vermeintlichen Abbild in „Pankraz der Schmoller“ wusste und dachte. Es ist alles, freundlich gesagt, pure Spekulation. Wir wissen schlicht nicht, ob sie sich in „Der grüne Heinrich“ vermisste und deshalb nun sich über ihren Bruder freute oder ob sie eventuell gar nicht in der Lage war, ihr Abbild in einem Roman, einer Novelle als solches zu erkennen. Immerhin gibt es Interpretationen, die Ab- wie Anwesenheit als dramaturgische Notwendigkeiten der Texte deuten.
Ob also das Estherchen ganz oder in einzelnen Zügen Regula Keller als jüngere Schwester des Pankraz verkörperte, ist weniger wichtig. Dass in den Zügen des Schmollers Pankraz Keller ein Selbstporträt seiner jungen Jahre gab, gilt vielfach als gesichert. Für Thomas Roffler stellt die Geschichte „die bedeutsamste und durchsichtigste Selbstdarstellung des jungen Keller dar, aber diesmal in reine Gegenständlichkeit versetzt“. Eine echte Autobiographie von Keller gibt es nicht, die im Plural „Autobiographien“ genannten Texte etwa im Band 8 der alten DDR-Keller-Ausgabe umfassen eben so 30 Druckseiten und können es an Umfang folglich nicht einmal mit einer beliebigen Novelle aufnehmen. Vor allem aber enthalten sie keinerlei nennenswerte Aussagen zum Werk, so weit das überhaupt Erwähnung findet. Wie auch immer, in den hübsch gezeichneten Details des beengten und fast ärmlichen Familienlebens der Geschwister Pankraz und Esther in der ersten Seldwyla-Geschichte vielleicht sogar ein ganz direktes Bild sehen zu wollen von Kellers eigenem Leben mit Mutter und Schwester, ist aus einem sehr einfachen Grund nicht nur statthaft, sondern passend: Einzelheiten wie die Kartoffelbreiberge mit ihren Kanälen, unterirdischen Tunneln und den kindlichen Versuchen, mehr als der jeweils andere zu bekommen, erfindet man nicht.
Die hat man erlebt wie bestimmte Sichtweisen auch, man muss sich nur erinnern: „Übrigens fiel es ihr nicht schwer, ledig zu bleiben, da sie klug war und wohl sah, wie bei den Seldwylern nicht viel dahinter steckte“, heißt es vom Estherchen. Kellers eigene Mutter hatte zwei Jahre nach dem Tod des Vaters wieder geheiratet. Wenn es also klug ist, ledig zu bleiben, war einmal Keller selbst klug, wie er sich einreden konnte, andererseits aber seine Mutter eben nicht klug. Eine von fast allen Interpreten mit Aufmerksamkeit bedachte Stelle in „Pankraz der Schmoller“ ist die, an der Mutter und Schwester langsam einschlafen, während der heimgekehrte Sohn seine Lebensgeschichte von der heimlichen Flucht bis zur Rückkehr der buchstäblich verlorenen Sohnes erzählt, es sind stolze fünfzehn Jahre geworden, in deren Verlauf die beiden nichts von Sohn und Bruder Pankraz hören, also auch nicht wussten, ob er überhaupt noch lebt. Beide schlafen ein, als Pankraz beginnt, seine Liebesgeschichte zu schildern, die keine war. Weit ins Tiefenpsychologische, ins Freudsche hinein reichende Deutungen und Erklärungen wären zu resümieren. Eine einfachere Erklärung, die auch denkbar ist, halte ich dagegen: Wenn der ehemalige Schmoller die Tochter seines Kommandanten in Indien, des späteren Gouverneurs, charakterisiert, wird seine Sprache abstrakt, trocken, fremd.
Man lese: „Und zwar schien diese edle Selbständigkeit gepaart mit der einfachsten Kindlichkeit und Güte des Charakters und mit jener Lauterkeit und Rückhaltlosigkeit in dieser Güte, welche, wenn sie so mit Entschiedenheit und Bestimmtheit verbunden ist, eine wahre Überlegenheit verleiht und dem, was im Grund nur ein unbefangenes ursprüngliches Gemütswesen ist, den Schein einer weihevollen und genialen Meisterschaft gibt.“ In diesem Duktus geht es weiter über eine ganze Druckseite. War die Rede eben noch anschaulich, bilderreich, humorig, wird es nun reflektierend: das aber ist eine Sprech- und Denkebene, auf der Mutter und Schwester nicht folgen können. Auch mich als Leser befielen Zweifel, ob hier wohl einer außerstande war, den Ton, seinen Ton zu halten. Wahrscheinlich aber handelt es sich um eine versteckte Ironie Kellers, der noch in der Sprache vorführt, wie weit sich der gereifte und erwachsene Pankraz vom kleinen Schmoller entfernt hat, dem einst ein Sonnenuntergang „die einzige glänzende und pomphafte Begebenheit war, welche sich für ihn zutrug.“ Jetzt hat er Shakespeare gelesen und eben nicht nur einfach gelesen. Gottfried Keller hat seinem Pankraz eine Lesart des Shakespeareschen Gesamtwerks in den Mund gelegt, die in ihrer vermeintlich treuherzigen Naivität so prägnant den Punkt trifft, das man sprachlos sein darf.
Kleine Erinnerung: Keller ging von Heidelberg nach Berlin, um sich dort als Dramatiker auszubilden, was missriet, wir wissen es. Er besuchte, sooft es ging, die Berliner Theater, er korrespondierte mit seinem in Heidelberg gewonnenen Freund Hermann Hettner, der nicht sehr viel später eine Schrift veröffentlichte, „Das moderne Drama“, die man auch als eine Art Koproduktion mit Keller bezeichnen könnte, ohne Hettner zu nahe zu treten. Dass Gottfried Keller in eine Geschichte, die er selbst nicht Novelle nannte, die von Interpreten, einem Kellerwort folgend, auch als „Lebensbild“ charakterisiert wird, diese kompakte Shakespeare-Beschreibung einbaute, macht „Pankraz der Schmoller“ allein schon unsterblich: man suche bei anderen Autoren auf weniger Platz so viel Substanz zum größten aller Dramatiker. Keller lässt seinen Pankraz, also sich, wenn man so will, mit Shakespeare gleich alle große Dichtung mit charakterisieren. Dann kommt er sogar noch zu einer Einsicht, die ich so über Shakespeares Frauen noch nie las: „... diese schönen Bilder der Desdemona, der Helena, der Imogen und anderer sah, die alle aus der hohen Selbstherrlichkeit ihres Frauentums heraus so seltsamen Käuzen nachgingen und anhingen, rückhaltlos wie unschuldige Kinder, edel, stark und treu wie Helden, unwandelbar und treu wie die Sterne des Himmels“.
Wie oft habe ich, Abschweifung des Theaterkritikers, mich im Theater gefragt: Wieso eigentlich liebt diese großartige Frau, diese kluge, überlegene Schönheit diesen Typen? Minna etwa den Tellheim? Gottfried Keller hat, und das ist nun wirklich Ausgeburt seines Humors, seines ureigenen Spezial-Humors diesenfalls, gefunden, dass die Shakespeare-Frauen signifikant häufig „seltsamen Käuzen nachgingen und anhingen“. Und das auf sich bezogen: ein Fall zum Hoffen. Denn der Schmoller Pankraz, der seine Liebe zu Lydia erst als Liebe begreift, als er Shakespeare gelesen hat, der dann merkt, dass er all ihre Bewegungen und Gesten, gar all ihre Worte gespeichert hat, heute würden wir sagen: wie auf einer Festplatte, ist ein seltsamer Kauz mit der Sonderfähigkeit, sich selbst als solchen zu sehen. Gottfried Keller ist ein seltsamer Kauz mit der Sonderfähigkeit, sich nicht nur selbst als solchen zu sehen, sondern daraus auch noch Literatur zu machen, die zur Unvergänglichkeit tendiert. Georg Lukacs las die Shakespeare-Stelle einst so: „In seiner Novelle „Pankraz der Schmoller“ lässt er einen aus der Schweiz ausgewanderten, in Indien zum englischen Soldaten gewordenen Schweizer Kleinbürger Shakespeare lesen und den überwältigenden Eindruck des großen Realismus auf ihn unmittelbar selbst, naiv, darlegen. Die Beschreibung ist von hier aus gesehen halb humoristisch, ihr ästhetischer Gehalt drückt aber ein so klares Bekenntnis Kellers zum wirklichen Realismus aus, dass wir auch diese Stelle ausführlich bringen müssen“. Was er auch tut.
Das Wort Realismus im Zusammenhang mit Shakespeare und Keller scheuen mit einer Ausnahme alle mir bekannter Pankraz-Deuter, die Ausnahme ist Hans Richter. Bei Emil Ermatinger findet sich zum Beispiel dieser Satz, nachdem er zitierte: „Das ist auch das Bekenntnis von Kellers eigener künstlerischer Art, und zugleich der Kunststandpunkt des goethischen Klassizismus.“ Man muss nur ein wenig Goethes sehr spezielles Verhältnis zu Shakespeare kennen, um hier schon stutzig zu werden. Denn Keller umschreibt ja nicht mehr und nicht weniger als das, was in der auf Marx und Engels sich berufenden Realismus-Theorie mit der dort hochbeliebten Kategorie des Typischen beschrieben wird. Genau das diagnostiziert Pankraz bei Shakespeare und damit eben auch Keller. Selbst wenn Pankraz kein Selbstporträt des Künstlers als junger Mann wäre. Im Verlauf der Geschichte, im Verlauf des Rückblicks auf seine eigene Liebesgeschichte mit Lydia, fragt sich Pankraz, „ob sie auch selbst je mit Andacht darin gelesen hat!“ Und wenn sie es hätte, wissen wir natürlich, müsste sie keineswegs zu denselben Erkenntnissen gekommen sein wie er. Zum Schluss formuliert Keller auch noch eine Moral: „Die Moral von der Geschichte sei einfach, dass er in der Fremde durch ein Weib und ein wildes Tier von der Unart des Schmollens entwöhnt worden sei.“
Das ist ihm angekreidet worden: Moral am Ende, das geht gar nicht, das taten die Aufklärer und wir wissen, was aus ihnen geworden ist. Didaktik geht nur, wenn sie aus der Geschichte organisch herauswächst, nicht wenn sie aufgesetzt wird. Gemach, würde ich sagen, was eine aufgesetzte Moral ist und was eine Moral, das sollte erst einmal halbwegs sauber geschieden werden. Keller hat kein Kinderbuch geschrieben, in dessen Folge sich der Suppenkaspar in einen Minestrone-Fan zu wandeln hat, wahlweise für Leipziger Allerlei schwärmend oder Pichelsteiner Topf. Das Problem der Moral-Verweigerer ist: Sie haben „Pankraz der Schmoller“ in der Regel aller sozialen und aller historischen Bezüge entkleidet. Nur Hans Richter, dessen Verdienste um die Keller-Deutung, je länger ich darüber nachdenke, um so größer werden, ist auf die ganz und gar schlichte, man mag es primitiv nennen, Idee gekommen zu fragen: Wann spielt denn eigentlich „Pankraz der Schmoller“? Und er hat Ergebnisse vorgelegt, die überzeugen und vielleicht gerade deshalb von allen, ich wiederhole: von allen, anderen einfach ignoriert werden. Man kann nämlich präzise angeben, wann die Engländer in Indien die Witwenverbrennung verboten, man kann sehr präzise angeben, wann der Grenzkonflikt mit den Sikhs tobte, und plötzlich hat man Lebensdaten von Pankraz, die den Lebensdaten von Gottfried Keller verblüffend nahe kommen, das Selbstporträt ist plötzlich Zeitbild.
Als Kontrast zu Hans Richter muss Gerhard Kaiser angeführt werden. Was der zu „Pankraz der Schmoller“ schrieb in seiner 700-Seiten-Biographie, spottet, tut mir leid, das sagen zu müssen, jeder Beschreibung. Manchmal hatte ich das Gefühl, hier hätte einer zu lange Sesamstraße geguckt während der Arbeit, dann wieder, hier erstrebe einer, ins Guiness-Buch der Assoziationsrekorde Eingang zu finden. Kaiser macht aus dem Schmoller Pankraz einen Eisheiligen und einen Allbeherrscher nur wegen des Namens, das haben andere auch probiert. Er macht ihn aber auch zum modernen Herakles, zum Hieronymus, zum Antilöwen und zum Löwen, er legt ihn auf die Freud-Couch und entdeckt Muttergelüste bei Keller und Pankraz. Die einfachen Schönheiten des Textes sind ihm vollkommen gleichgültig, ihm sagen weder die hübschen Diminutive etwas noch die Tiervergleiche: ein selbstvergnügtes Kamel beispielsweise ist etwas, das einfach nur herrlich daher kommt. Ein Stück Schöpsenfleisch in Essig konserviert: ich sehe den Feinschmecker Keller vor mir. Literatur ist Kommunikation zwischen Leser und Autor, nicht Gymnastikstange für Professoren und ihre Helfershelfer, die allesamt niemand liest außer Professoren und Helfershelfern. Wie schön sagt es Hugo Loetscher: „Und Pankraz behalten wir im Gedächtnis, nicht weil er ein brauchbarer Mann wurde, sondern weil er ein Schmoller war.“ Ist das ein Schlusswort?
Es bleibt zu viel Rest: die Rolle der Arbeit bei der Menschwerdung des Pankraz. Der Satz: „Denn es sind üble Zeiten, wo die Geschlechter ihre Krankheiten austauschen und eines dem andern seine angeborenen Schwachheiten mitteilt.“ Von Keller. Von Leo Löwenthal der Satz: „Auch „Pankraz, der Schmoller“ demonstriert, dass ein phantastisches In-die-Welt-Schweifen zu nichts führt und nur die Rückkehr ins brave Bürgerleben die Aussicht auf eine menschlich wertvolle Lebensgestaltung eröffnet.“ Braves Bürgerleben aber als offenbare Schreckensvision. Löwenthal war es, der Keller den kleinbürgerlichen Goethe nannte, listig in Anführungszeichen verpackt. Ricarda Huch fand an Pankraz bemerkenswert, er habe „sich auch in sehr verdienstlicher Weise scharf über die von vielen Frauen beliebte Koketterie ausgelassen, sich absichtlich dumm und albern zu stellen und das für weibliche Anmut auszugeben.“ Louis Wiesmann schrieb: „Erstmals stoßen wir auf die für Keller zentrale Thematik zerstörten Scheins, an dessen Stelle die Wahrheit tritt.“ Und Hans Richter trat energisch dagegen auf, in „Pankraz der Schmoller“ Rahmen- und Binnen-Erzählung zu scheiden. Es sei „ein in sich völlig geschlossenes Ganzes ohne irgendeinen Rahmen und ohne eine Einlage“. Was Gerhard Kaiser nie behauptet hätte, stattdessen aber: „Wo die Zeit trüglich und undeutlich ist, wird noch die Wahrheit der Poesie Trug. Pankraz und sein Autor wissen sich in einer zerstückelten, zerstreuten, widerspruchsvollen, undurchsichtigen Welt.“ Gut, dass Keller dies nicht lesen musste.